Der Presserat fordert mehr Sorgfalt bei der Titelsetzung
Die Spruchpraxis des schweizerischen, medienethischen Selbstkontrollorgans im Jahr 2018
Dominique Strebel, Jurist und Studienleiter an der Schweizer Journalistenschule MAZ
I. Einleitung
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Der Presserat hat im Berichtsjahr 62 Stellungnahmen verfasst (2017: 53; 2016: 51). 20 Beschwerden hat er ganz oder teilweise gutgeheissen, 28 wurden abgewiesen. Auf 14 Beschwerden ist er nicht eingetreten, hat aber dazu eine Stellungnahme verfasst und auf weitere 21 ist er ohne Stellungnahme nicht eingetreten.
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6 mal wurde das Recht auf Schutz der Privatsphäre (Ziffer 7 des Journalistenkodex) verletzt, 12 mal das Fairnessgebot (Ziffer 3), 11 mal das Wahrheitsgebot (Ziffer 1), 5 mal das Berichtigungsgebot (Ziffer 5) und je 1 mal das Verbot unlauterer Recherchemethoden (Ziffer 4), das Diskriminierungsverbot (Ziffer 8) und der Fairnessgrundsatz gemäss Präambel. (Eine Gutheissung kann mehrere verletzte Ziffern umfassen).
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Die Zahl der Beschwerden ist (wie im Vorjahr) mit 115 Beanstandungen hoch. Der Pendenzenberg stieg deshalb 2018 weiter an.
II. Verfahrensfragen und Geltungsbereich
1. Allgemeine Verfahrensfragen
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Der Presserat lässt es zu, dass Beschwerdeführer im Verfahren anonymisiert werden, falls berechtigte Interessen dies erfordern. So stellte der Presserat dem „Blick“ eine anonymisierte Beschwerde zu; Blick weigerte sich, darauf zu antworten und monierte eine „Geheimbeschwerde“. Der Presserat anerkennt schützenswerte Interessen des Beschwerdeführers und lässt den Einwand nicht gelten (Stellungnahme 7/2018 – X. c. «Blick am Abend»).
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Artikel 20 des Geschäftsreglements des Presserates sieht eine Gebühr von 1000 Franken für beschwerdeführende Organisationen, Unternehmen und Institutionen vor. befreit. Der Verein Fairmedia wird von dieser Kostenpflicht befreit. „Dies mit der Begründung, dass Fairmedia als Verein unentgeltliche Beratungen anbietet» (Stellungnahme 22/2018 – Fairmedia c. «Basler Zeitung»).
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In der Regel klärt der Presserat von sich aus einen strittigen Sachverhalt nicht ab. «In Bezug auf die Wahrheitspflicht hat der Presserat stets darauf hingewiesen, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehört, in einem Medienbericht enthaltene, zwischen den Parteien umstrittene Faktenbehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Der Presserat führt kein Beweisverfahren zur Klärung von Sachverhalten durch. Er beschränkt sich darauf, zu beurteilen, ob (…) soweit ersichtlich nach journalistisch und medienethisch korrekten Grundsätzen gearbeitet worden ist.» Ist die Faktenlage strittig, beurteilt der Presserat die Frage nicht. Falls aber das Medium zu den Vorwürfen eines Beschwerdeführers keine Stellung nimmt, und die Vorwürfe plausibel erscheinen, stellt der Presserat auf die Darstellung des Beschwerdeführers ab. (Stellungnahme 53/2018 – Concordia c. «Basler Zeitung»).
2. Gerichtliche Parallelverfahren
(Art. 11 des Geschäftsreglements des Presserates)
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Weil ein Beschwerdeführer in seiner Beschwerde an den Presserat dieselben Gründe anführt wie in seiner Strafanzeige und weil der Fall keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft, tritt der Presserat auf die Beschwerde nicht ein (Stellungnahme 1/18 – X. c. «GHI»).
3. Geltungsbereich des Journalistenkodex (Art. 2 Geschäftsregl., Richtlinien [RL] 5.2 und 5.3)
A. Medien, die dem Journalistenkodex unterstehen
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Der Presserat tritt auf eine Beschwerde gegen die Onlineplattform www.lapravda.ch ein, weil „lapravda.ch“ auf der Website selbst deklarierte, einen journalistischen Anspruch zu haben (Stellungnahme 10/2018 – «Tribune de Genève» c. «LaPravda.ch»). Damit blieb der Presserat ein letztes Mal bei seiner Praxis, dass er nur auf Beschwerden gegen Medien eintrat, die einen journalistischen Anspruch haben (vgl. etwa Stellungnahmen zu „L’1dex 48/2017 und zu Mediaplanet 7/2016).
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Kommentar: Auf Anfang 2019 hat der Presserat diese Praxis aufgegeben, sein Geschäftsreglement revidiert und erklärt sich nun für alle Publikationen zuständig, die einen «journalistischen Charakter» haben. Dies beurteilt der Presserat aufgrund des Gesamteindrucks (vgl. Stellungnahme 1/2019 – Vervielfachung der Informationsseiten im Internet: Zuständigkeit des Presserats).
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Der Presserat tritt auf einen Tweet des (damaligen) BaZ-Journalisten Dominik Feusi nicht ein. Bei Twitter handelt es sich nach Auffassung des Presserates nicht um ein Medium gemäss der im (damals geltenden) Geschäftsreglement aufgeführten Kriterien. «Zwar sind Tweets öffentlich, doch fehlt ihnen sowohl die Periodizität als auch der zwingende Bezug zur Aktualität.»
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Zudem habe Dominik Feusi den Tweet nicht als BaZ-Redaktor, sondern als Privatperson verfasst, obwohl er sich auf Twitter selbst eindeutig als ‘Journalist at Basler Zeitung’ bezeichnete. Nach Auffassung des Presserates reichte diese Selbstbeschreibung aber nicht aus, um sämtliche Tweets eines Journalisten so zu betrachten, als seien sie in Ausübung des Berufes getätigt worden. «Auch ein Journalist kann und darf sich in den sozialen Medien als Privatperson äussern – auch dann, wenn er der Transparenz willen seine berufliche Funktion kenntlich macht.» Anders als für die in der «Basler Zeitung» veröffentlichten Artikel ihrer Journalistinnen und Journalisten habe die Chefredaktion der «BaZ» keine Verantwortung zu übernehmen für Tweets ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch dann nicht, wenn sie während der Arbeitszeit verfasst worden sein sollten. Der Presserat unterschied folglich zwischen einer individuellen Äusserung, für die er sich unabhängig vom Verbreitungskanal für nicht zuständig erklärte, und dem Erzeugnis eines Mediums, das einen redaktionellen Prozess durchlaufen hat. (Stellungnahme 17/2018 – Mück und Kiener Nellen c. «Basler Zeitung»).
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Kommentar: Auch dieser Entscheid ist unterdessen überholt, weil der Presserat sein Geschäftsreglement Anfang 2019 auch in dieser Frage geändert hat. Neu erklärt er sich nicht nur für Erzeugnisse zuständig, die einen redaktionellen Prozess durchlaufen haben, sondern für alle Publikationen, die einen journalistischen Charakter haben – somit auch für Posts von einzelnen Journalist/innen in den Sozialen Medien. Der neue Artikel 2 des Geschäftsreglements des Presserates lautet: «Die Zuständigkeit des Schweizer Presserats erstreckt sich – ungeachtet der Verbreitungsart – auf den redaktionellen Teil der öffentlichen, auf die Aktualität bezogenen Medien sowie auf die journalistischen Inhalte, die individuell publiziert werden.» (vgl. dazu auch Grundsatzstellungnahme 2 Journalistinnen und Journalisten in Sozialen Medien)
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Aus medienethischer Sicht ist es laut Presserat grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn jemand seine Meinung in einem bezahlten Inserat und nicht in einem Leserbrief der Öffentlichkeit kundtut, immer vorausgesetzt, für den Leser sei klar, dass es sich um bezahlten Inhalt handelt. Das Inserat überprüft der Presserat inhaltlich nicht. Dafür sei er nicht zuständig (Stellungnahme 46/2018 – Wiggli c. «Wochenblatt für das Schwarzbubenland und das Laufental»).
B. Buchauszüge, Gastbeiträge, Leserbriefe, Onlinekommentare
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Nachdem in 20minuten.ch ein Porträt eines Taxiunternehmers erschienen war, der eine Alternative zu Uber anbietet, verfasste der Unternehmer in der Kommentarspalte von 20minuten.ch neun Onlinekommentare zu diesem Artikel. Gemäss Presserat ist dies kein offensichtlicher Verstoss gegen das Gebot, redaktionellen Inhalt und Werbung gut sichtbar zu trennen. «Mit den neun veröffentlichten Online-Kommentaren des Fahrdienstes YourTaxi beteiligt sich letzterer rege an der Diskussion über sein Unternehmen, welches eine Alternative zu Uber bieten soll. YourTaxi beantwortet in mehreren Kommentaren Fragen oder Kritik anderer Kommentierender oder bedankt sich für Lob – bzw. die Blumen. Es handelt sich durchwegs um kurze, harmlose Kommentare.» Einzugreifen hat eine Redaktion gemäss Presserat nur, wenn es sich um offensichtliche Verletzungen des Journalistenkodex handeln würde. Oder mit anderen Worten: wenn es sich offensichtlich um von YourTaxi in Kommentarform platzierte Werbung handeln würde. Dies ist in der konkreten Angelegenheit jedoch gemäss Presserat nicht der Fall (Stellungnahme 47/2018 – X. c. «20minuten.ch»).
4. Begründungspflicht (Art. 9 Geschäftsregl.)
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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
III. Wahrhaftigkeit und Transparenz
1. Meinungspluralismus (RL 2.2)
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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
2. Wahrhaftigkeitsgebot (Art. 1 und 3 Journalistenkodex, RL 1.1)
A. Belegen von Fakten
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Die „Basler Zeitung“ konnte gemäss Presserat nicht belegen, dass Georg Kreis mit Absicht einen möglichen Fall von Basler Raubkunst sowohl im Bergier-Bericht als auch in einer spezifischen Studie zur Raubkunst nicht erwähnte. Zwar lasse sich belegen, dass Kreis vom Kauf der Raubkunst durch ein Basler Kunstmuseum wusste, doch ob er dieses Wissen absichtlich in den obgenannten Studien nicht verwendete, bleibe offen. «Somit ist es nicht zulässig, Kreis eine Intention zu unterstellen», entschied der Presserat und rügte die BaZ, weil sie mit den Begriffen «verschweigen» im Titel und im Lauftext des Artikels und «unter den Teppich kehren» im Untertitel des Artikels Kreis eine Absicht unterstellt habe (Stellungnahme 22/2018 – Fairmedia c. «Basler Zeitung»).
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Ein Artikel verletzt das Wahrheitsgebot, wenn die absoluten Zahlen zwar richtig sind, die Grafik, welche diese Zahlen visualisiert, aber nicht stimmt. Eine Grafik in „20Minuten“ stellte die Anzahl der Solarpannels, die für Umsetzung eines neuen Energiegesetzes nötig wären, mit einer Fläche dar, die drei Mal grösser war als die tatsächliche Zahl. Die beigefügten absoluten Zahlen waren richtig. Trotzdem verletzte der Artikel gemäss Presserat das Wahrheitsgebot. „Grafik und Zahlen müssen übereinstimmen“, fordert der Presserat. „Dies erst recht, wenn die Grafik wie vorliegend fast einen Drittel des ganzen Artikels einnimmt. Stimmt eine solche Grafik nicht, ist sie geeignet, den Leser irrezuführen.“ (Stellungnahme 34/2018 – X. c. «20 Minuten»).
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Der wirtschaftsstrafrechtliche Newsletter Gothamcity.ch publizierte einen Artikel unter dem Titel «Avions, yachts et perquisitions: l’affaire Obiang embarrasse l’étude Meyer Avocats». Darin sind vier Fehler enthalten: Gothamcity schrieb, die Anwältin sei angestellt bei der Kanzlei Genfer Anwaltskanzlei Meyer Avocats – dabei war sie Partnerin; sie verwalte zwei Yachten des Mandanten – dabei deckte ihr Mandat dies nicht ab; es seien Hausdurchsuchungen durchgeführt worden – dabei war es nur eine; die Anwältin habe einen Staatsanwalt als befangen abgelehnt, um sich gegen eine Entsiegelung zu wehren – dabei war dieser Zusammenhang reine Spekulation. Diese vier Fehler sind gemäss Presserat bedauerlich, aber von insgesamt untergeordneter Natur. Deshalb keine Rüge des Presserates (Stellungnahme 52/2018 – Meyer avocats c. «gothamcity.ch»).
B. Formulierungen von Frontanriss, Titel, Lead, Bildlegenden
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Zuspitzungen im Titel sind medienethisch vertretbar, wenn sie durch die recherchierten Fakten gedeckt sind und früh im Lead oder zu Beginn des Textes in einen differenzierten Kontext gestellt werden. Der Presserat hat sich 2018 häufig «mit der Zu- und Überspitzung in Titeln und Schlagzeilen befasst. Dabei prüft er, ob die Gefahr besteht, dass Leserinnen und Leser, bei denen nicht vorausgesetzt werden kann, dass sie neben Titel und Schlagzeilen auch den Text eines Artikels lesen, in relevanter Weise getäuscht werden. Eine Täuschung liegt vor, wenn die Leserschaft aufgrund von überspitzter Schlagzeile und Titel von Tatsachen ausgeht, die nicht belegt sind» (vgl. Stellungnahmen 4/2011, 25/2018, 39/2018, 54/2018).
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Unzulässiger Frontanriss der „Sonntagzeitung“. Titel: «Hausärzte – So ungenau untersuchen sie». Der Artikel im Innenteil belegt gemäss Presserat aber nur, dass viele Untersuchungen beim Arzt kaum etwas aussagen. Der Frontanriss stelle aber die Fähigkeiten der Hausärzte generell in Frage und nicht nur die Nützlichkeit vieler Untersuchungen, entscheidet der Presserat. Zudem werde der Anriss alleinstehend und ohne direkt nachfolgenden Artikel auf der Titelseite der «Sonntagszeitung» publiziert, was es der Leserschaft nicht erlaube, sofort einen Bezug zum Inhalt des Artikels herzustellen. Die Präzisierung durch den Untertitel im Innenteil der Zeitung, die Tamedia auch für den Frontanriss reklamiert («Darm abhören, Schilddrüse abtasten, Gehör prüfen – viele Untersuchungen beim Arzt sagen kaum etwas aus. Trotzdem werden sie seit Jahrzenten gemacht»), greift gemäss Presserat nicht für den Frontanriss. Somit wirkt der Anriss täuschend und ist wahrheitswidrig. Ziffer 1 der «Erklärung» ist verletzt. Der Presserat betont, dass es in der Verantwortung der Abschlussredaktion respektive der Produzenten eines Mediums liege, inhaltlich korrekte Titel zu setzen. Im vorliegenden Fall geht offenbar aus den Unterlagen hervor, dass den Frontanriss nicht die Autorin des Artikels getextet hat, sondern ein Redaktionskollege. «Zwar dürfen Produzenten einen Titel wohl zuspitzend auf den Punkt bringen. Aber der Titel muss den Inhalt des Artikels im Kern korrekt wiedergeben, er muss wahr sein», ruft der Presserat in Erinnerung (Stellungnahme 25/2018 – X. c. «SonntagsZeitung»).
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Unzulässiger Titel im «Blick». Titel: «Nazi-Schiff will Flüchtlingsboote stoppen». Mit diesem Titel wird gemäss Presserat eine rechtsextreme Gruppierung ohne weitere Erklärung oder Einordnung mit einem Nazi-Etikett versehen. «Dies stellt nicht eine – an sich zulässige – Zuspitzung, sondern eine Überspitzung dar», meint der Presserat. Ein Vergleich oder eine Gleichsetzung mit den Nazis sei nicht ein einfaches Werturteil, wie dies der «Blick» geltend mache, sondern eine schwerwiegende Unterstellung, welche sich nur durch eine konkrete Begründung rechtfertigen liesse. Die Erklärung im Lead, es handle sich um ein Schiff der umstrittenen «Identitären Bewegung», einer rechtsextremen Gruppierung, reicht gemäss Presserat als Relativierung nicht aus (Stellungnahme 39/2018 – X. c. «Blick»).
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Knapp zulässiger Titel in der „Ostschweiz am Sonntag“. Titel: «Abtreibungsgegner wirken im Verborgenen». Untertitel: «Viele Anbieter privater Beratungsstellen lehnen Abtreibungen kategorisch ab. Ein Verein mit Sitz im Thurgau lässt sich nicht in die Karten blicken». Gemäss Presserat ist diese Publikation grenzwertig, da die «Ostschweiz am Sonntag» keine Beweise dafür vorlegt oder auch nur geltend macht, dass der Verein «Schwanger-Hilfe.ch» sich tatsächlich gegen Abtreibungen einsetzt und nicht nur eine effektive Wahlfreiheit erlauben möchte. Gemäss «Ostschweiz am Sonntag» ist der Titel jedoch eine Schlussfolgerung oder Interpretation der Tatsache, dass sich der Verein nicht explizit zu der Frage äussern möchte und dass sich mindestens zwei wichtige Repräsentanten gegen Abtreibungen ausgesprochen haben. Auch der Schweizer Presserat qualifiziert dies knapp als ausreichende Grundlage, um die Stossrichtung des Vereins in einem zugespitzten Titel zu hinterfragen (Stellungnahme 40/2018 – Schwanger-Hilfe.ch c. «Ostschweiz am Sonntag»).
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Unzulässiger Titel im «Blick». Titel: «Chaoten drohen Bern mit Krawall». Der Presserat findet für diesen Titel keine Belege. Denn im Aufruf der Revolutionären Jugend Bern sowie der Anarchistischen Gruppe Bern heisse es u.a., der Widerstand, der anlässlich der Proteste gegen den G-20-Gipfel gemeinsam auf die Strasse getragen worden sei, müsse jetzt solidarisch weitergeführt werden. «Wenn Einzelne von der Repression betroffen sind, müssen wir zusammenstehen.» Die Identifizierung mit einem System, welches für Umweltzerstörung, Armut und Ausbeutung zuständig sei, offenbare eine erschreckende Tendenz zur Befürwortung faschistoider Herrschaftsfantasien. Abschliessend heisse es im Aufruf: «Gehen wir deshalb gemeinsam auf die Strasse! Solidarisieren wir uns mit den Gefangenen, wünschen gemeinsam den Verletzten gute Besserung und setzen wir ein Zeichen gegen reaktionäre Repressionsfantasien.» Von Drohungen mit Gewalt ist im Aufruf zur «Solidemo» gemäss Presserat nirgends die Rede. Der Titel ist somit durch den Inhalt des Aufrufs nicht gedeckt und verstösst gegen die in Ziffer 1 der «Erklärung» geforderte Wahrheitspflicht (Stellungnahme 49/2018 – JUSO Stadt Bern c. «Blick»).
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Unzulässiger Titel des «Sonntagsblick». Titel: «Brisante Studie: Ärzte und Spitäler verrechnen 3 Milliarden Franken zu viel». Die im Artikel belegte Tatsache ist aber, dass Ärzte und Spitäler zusammen mit Spitex, Rettungsdiensten und Physiotherapeuten 3 Milliarden Franken zu viel verrechnen. Indem der «Sonntagsblick» im Titel nur Ärzte und Spitäler nennt, spitzt er unzulässig zu, so dass gemäss Presserat die Aussage unwahr wird (Stellungnahme 54/2018 – FMH c. «Sonntagsblick»).
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Unzulässiger Titel der «Basler Zeitung». Titel: «Organentnahme war in Basel geplant». Gestützt auf die Aussagen der Mutter und ihres Anwalts schilderte der Journalist die Geschichte eines jungen Deutschen, der tödlich verletzt vom süddeutschen Grenzgebiet mit der Ambulanz ins Universitätsspital Basel transportiert worden war. Die Mutter verstehe nicht, warum er nicht in ein näheres Spital gebracht wurde. Die «Basler Zeitung» brachte Aussagen aus einem deutschen Polizeiprotokoll, dem Bericht der deutschen Notärztin sowie der deutschen Staatsanwaltschaft; dabei ist von Reanimation, klinischem Tod und Organentnahme die Rede. Gemäss Presserat genügte diese Quellenlage nicht, um den Titel «Organentnahme war in Basel geplant» zu setzen, da das Universitätsspital Basel den Vorwurf zurückwies. Der Journalist hätte bei einem so schweren Vorwurf und bei Aussage gegen Aussage weiterrecherchieren müssen (vgl. unten Ziffer 2.2). Der Titel führt gemäss Presserat die Leserinnen und Leser in die Irre. Die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») ist somit verletzt (Stellungnahme 35/2018 – Universitätsspital Basel c. «Basler Zeitung»).
C. Unterschlagen von Informationen (Ziffer 3 Journalistenkodex)
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Journalist/innen dürfen sich auf Teilaspekte eines Themas beschränken, sofern alle wichtigen Elemente vorkommen. Deshalb hat der Presserat eine Beschwerde gegen „20Minuten.ch“ abgewiesen. „Der Autor hat sich in seinem Artikel mit der Höhe der Lehrlingslöhne befasst und die unterschiedlichen Löhne beziffert. Dabei war er nicht verpflichtet, auch detailliert Aspekte der Wertschöpfung, die ein einzelner Lehrling einem Lehrbetrieb bringt, oder weitere vom Beschwerdeführer genannte Themen im Artikel aufzunehmen“ (Stellungnahme 8/2018 – X. c. «20minuten.ch»).
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Die „Basler Zeitung“ hat die Hauptaussage einer Medienmitteilung des Basler Universitätsspitals unterschlagen. Nachdem die Zeitung in einem ersten Text eine Mutter zitiert hatte, die den Vorwurf erhob, dass am Universitätsspital einem Leichnam illegal Organe entnommen worden seien, vermeldete die Zeitung am Folgetag zwar gestützt auf eine Medienmitteilung des Basler Universitätsspitals, dass sich das Spital gegen den Vorwurf wehre und alle nötigen Schritte unternommen habe, um den Vorwurf abzuklären. Sie unterschlug aber die Hauptaussage des Communiqués: Die Auskunft des Instituts für Rechtsmedizin, wonach der Leichnam bei einer Obduktion keinerlei Hinweise auf Organentnahme aufgewiesen habe. Der Presserat sieht Ziffer 3 des Journalistenkodex (Unterschlagung von wichtigen Informationen) verletzt. (Stellungnahme 35/2018 – Universitätsspital Basel c. «Basler Zeitung»)
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Die «Basler Zeitung» titelte «Schutzbach verliert Lehrauftrag» und berichtete über die Genderforscherin Franziska Schutzbach, die an der Universität Basel keinen Lehrauftrag mehr erhalten habe. Gemäss Presserat hat die «Basler Zeitung» Universitätsdekan Walter Leimgruber falsch zitiert. Auf die Frage des Journalisten, ob die Fakultät Schutzbachs Lehrauftrag verlängern werde, habe Leimgruber per Mail geantwortet: «Die Planung für das nächste Semester ist seit einiger Zeit abgeschlossen, Frau Schutzbach hat für das nächste Semester keinen Lehrauftrag.» Dies zitierte der Journalist wie folgt: «Frau Schutzbach hat für das nächste Semester keinen Lehrauftrag erhalten». Gemäss Presserat stellt die Kombination von Titel und Aussage im Text im Ergebnis einen Verstoss gegen Ziffer 1 der «Erklärung» dar. Denn letztlich stelle der Artikel einen Zusammenhang zwischen der laut «BaZ» geäusserten Kritik an Schutzbach und dem Nichterhalt eines neuerlichen Lehrauftrags her. Dieser Zusammenhang besteht gemäss Presserat nicht, da die Planung für das Semester schon abgeschlossen war bevor Schutzbach in Kritik geriet. Darin erkennt er eine Verletzung von Ziffer 1 des Journalistenkodex (Stellungnahme 19/2018 – Fairmedia c. «Basler Zeitung»).
3. Umgang mit Gerüchten und Verdächtigungen
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Die „Schweiz am Sonntag“ behauptete in einem Porträt des Basler Jazzmusikers David Klein, dass sich dessen Band „Kolsimcha“ aufgrund der Eitelkeit Kleins aufgelöst habe. Schon die Grundannahme war falsch, denn die Band gibt es immer noch: „Vorliegend wäre es für den Journalisten ein Leichtes gewesen, die Information, die Band habe sich aufgelöst, zu überprüfen“, meint der Presserat. „Dann wäre er auch darauf gestossen, dass es sich dabei und insbesondere bei der angeblich dafür verantwortlichen Eitelkeit Kleins um ein Gerücht handelte.“ (Stellungnahme 3/2018 – Klein c. «Schweiz am Sonntag»; zur Berichtigung vgl. auch unten).
4. Umgang mit Quellen (Art. 3 und 6 des Journalistenkodex; RL 3.1, 3.2, 3.3, 6.1, 6.2, a.1)
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Anonyme Quellen sind nicht per se tabu. Sie können Anlass von Recherchen sein. Das «St. Galler Tagblatt» hat ein anonymes Schreiben nicht im Wortlaut veröffentlicht, sondern dieses zum Anlass genommen, umfangreiche Recherchen bezüglich der Vorwürfe anzustellen, die im Schreiben genannt worden waren. Publiziert hat die Zeitung Resultate der Recherche mit Belegen, die sich nicht auf das anonyme Schreiben stützen. Das ist gemäss Presserat zulässig (Stellungnahme 29/2018 – X. c. «St. Galler Tagblatt»).
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Eine offizielle Funktionsbeschreibung einer Gemeinde genügt als Quelle. Eine Journalistin der „Solothurner Zeitung“ durfte sich auf die offizielle Information der Gemeinde Kriegstetten stützen, gemäss der der Gemeindepräsident an der Gemeindepräsidentenkonferenz Wasseramt teilnimmt. Sie musste das Protokoll einer Gemeinderatssitzung aus dem Jahr 2013 nicht kennen, gemäss dem nicht mehr der Gemeindepräsident, sondern der Ressortleiter „Äusseres“ an diesen Sitzungen teilnimmt. Der Presserat ist der klaren Meinung, dass der Journalistin nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, nicht sämtliche Protokolle nachgelesen zu haben (Stellungnahme 4/2018 – X. c. «Solothurner Zeitung»).
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Bei einem heiklen Verdacht (geplante illegale Organentnahme) genügen ein Polizeiprotokoll und die Vorwürfe von Angehörigen als Belege nicht. Es müssen weitere Recherchen vorgenommen werden. Die Basler Zeitung hatte in drei Artikeln über den Verdacht geschrieben, dass am Universitätsspital Basel an einem Leichnam illegal Organe entnommen worden seien. Ein Artikel mit dem Titel «Organentnahme war in Basel geplant» stützt dies auf Zitate aus einem (deutschen) Polizeiprotokoll und auf Aussagen der Mutter des Verstorbenen. Der Journalist zitiert zwei Passagen des Protokolls: «Der Leichnam befindet sich in der Pathologie der Uniklinik Basel. Eine zunächst geplante Organentnahme konnte nicht mehr durchgeführt werden, da der Kreislauf des Patienten zu lange stillgestanden hatte» und dass eine «Beschlagnahme des Leichnams» angeordnet worden sei «nach Kenntnisnahme der geplanten Organentnahme». Der Presserat hält fest, dass bei einem so heiklen Thema und angesichts der hektischen Situation das deutsche Polizeiprotokoll und die Befürchtungen der Mutter eine zu schwache Basis darstellen, um zu erhärten, dass eine Organentnahme geplant war. Der Journalist hätte anderweitige Recherchen anstellen und vor allem mit der Notärztin sprechen sollen. Im Artikel fehlt gemäss Presserat auch jeglicher Hinweis auf den Obduktionsbericht, der eine Organentnahme verneint (Stellungnahme 35/2018 – Universitätsspital Basel c. «Basler Zeitung»).
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Kommentar: Diese Anforderungen für eine Publikation einer Recherche sind zu hoch. Liegen Polizeiprotokolle und Aussagen vor, wenn auch von befangenen Informanten, muss eine Publikation möglich sein, falls der Angegriffene nicht innert nützlicher Frist antwortet. Eine Publikation muss aber den Verdacht als Verdacht benennen und die Quellenlage, deren Gewichtung durch den Journalisten sorgfältig schildern. Es kommen die Voraussetzungen einer zulässigen Verdachtsberichterstattung zur Anwendung (Ein Verdacht ist ausnahmsweise publizierbar, wenn er von hohem öffentlichem Interesse ist, der Journalist den Verdacht als Verdacht benennt, auf die Quellen hinweist, die Quellen gewichtet, transparent macht, welche Gründe für und welche gegen die Wahrheit der behaupteten Tatsachen sprechen, auf die Unschuldsvermutung hinweist und die Stellungnahme der Kritisierten besonders sorgfältig wiedergibt.). Gut möglich, dass diese Voraussetzungen beim vorliegenden Text nicht erfüllt waren. So lag etwa noch keine Stellungnahme zu einem schweren Vorwurf vor. Der Entscheid wäre im Resultat dasselbe, aber die Begründung eine nachhaltigere.
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Quellen sind zu nennen. «Blick am Abend» berichtete über einen schweren Fall von Kindsmissbrauch – Titel: «Vater warnte Behörden vor Fetisch-Mutter»; Lead: «Eine Mutter will ihre Tochter zur Sex-Sklavin ihres Meisters ausbilden. Der Vater des Mädchens erhebt schwere Vorwürfe». Die Zeitung nennt als Quelle nur den leiblichen Vater des Mädchens, der einen Verdacht äussere. Mutmasslich waren aber Informationen aus dem laufenden Strafverfahren die Quelle – allenfalls sogar die Anklageschrift des Staatsanwalts, denn die Verhandlung vor St. Galler Kreisgericht stand kurz bevor. Da die massgebliche Quelle nicht genannt werde, könne der Leser die Informationen nicht einordnen, rügt der Presserat (Stellungnahme 57/2018).
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Kommentar: Diese Stellungnahme überzeugt nicht. Zu beurteilen sind die Quellen, die der Text nennt und nicht mögliche Quellen, die der Presserat vermutet. Der leibliche Vater des Mädchens ist somit die einzige Quelle und dies genügt nicht, um solch schwere Vorwürfe zu publizieren. Im übrigen könnten selbst eine Anklageschrift oder Infos von unbekannten Dritten niemals die Formulierung rechtfertigen „Eine Mutter will ihre Tochter zur Sex-Sklavin ihres Meisters ausbilden“. Diese missachtet mangels eines Gerichtsurteils die Unschuldsvermutung – Quellen hin oder her.
5. Berichtigungspflicht (Ziffer 5 Journalistenkodex, RL 5.1)
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Fehler müssen nicht nur online, sondern auch in der Print-Ausgabe berichtigt werden. Die Meldung der „Schweiz am Sonntag“, die Band „Kolsimcha“ habe sich aufgelöst, war falsch. Die Band gibt es immer noch. Die Schweiz am Sonntag hat dies eingestanden und den Onlineartikel korrigiert, Print aber keine Berichtigung abgedruckt. Das genügt gemäss Presserat nicht: „Ziel einer Berichtigung ist es, dass derselbe Leserkreis von der Berichtigung erfährt. Dies ist nicht der Fall, wenn nur der Online-Artikel korrigiert wird. Ziffer 5 der «Erklärung» ist somit verletzt.“ (Stellungnahme 3/2018 – Klein c. «Schweiz am Sonntag»)
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Auch falsche Darstellungen in Grafiken müssen berichtigt werden, selbst wenn die absoluten Zahlen richtig waren. Eine Grafik in „20Minuten“ stellte die Anzahl der Solarpannels, die für die Umsetzung eines neuen Energiegesetzes nötig wären, mit einer Fläche dar, die drei Mal grösser war als die tatsächliche Zahl. Die beigefügten absoluten Zahlen waren richtig. Trotzdem hätte „20Minuten“ die Grafik berichtigen müssen (Stellungnahme 34/2018 – X. c. «20 Minuten»).
6. Trennung von Information und Kommentar (RL 2.3)
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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
IV. Fairness
1. Allgemeine Grundsätze (Präambel)
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Gastautoren haben ein Recht darauf, zu erfahren, dass die Redaktion ihrem Text eine distanzierende oder kommentierende Einleitung voranstellen will. Der Presserat rügt die „Schweizerische Ärztezeitung“ (SÄZ), die dem Text eines Gastautors generelle Vorbehalte gegenüber seinem Beitrag vorangestellt hat. Entsprechend ihren «Autorenrichtlinien» habe die SÄZ dem Autor Fridolin Marty von economiesuisse bestätigt, sein Artikel sei «Gut zum Druck». Spätestens dann hätte die Ärztezeitung ihren Gastautor über ihre im «Chapeau» formulierten generellen Vorbehalte gegenüber seinem Beitrag orientieren müssen. „Indem die Redaktion das unterliess, hat sie das Fairnessprinzip verletzt, wie es in der Präambel der ‚Erklärung‘ postuliert wird“, schreibt der Presserat und macht damit die Präambel zur Quelle des Fairnessprinzips (Stellungnahme 16/2018 – Marty c. «Schweizerische Ärztezeitung»).
2. Einholen von Stellungnahmen (RL 3.8, 3.9)
A. Schwerer oder leichter Vorwurf
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Gemäss Richtlinie 3.8 des Presserates sind Kritisierte zwingend bei schweren Vorwürfen anzuhören. Laut seiner Praxis wiegt ein Vorwurf dann schwer, wenn jemandem ein illegales oder damit vergleichbares unredliches Verhalten vorgeworfen wird.
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Es ist unerheblich, ob der Vorwurf in einem Informationsbeitrag oder einem Kommentar geäussert wird (Stellungnahme 4/2018 – X. c. «Solothurner Zeitung»)
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Als schweren Vorwurf hat der Presserat im Jahr 2018 unter anderem bezeichnet:
- den Vorwurf der «Basler Zeitung» gegenüber dem Historiker Georg Kreis, er habe mit Absicht einen möglichen Fall von Basler Raubkunst sowohl im Bergier-Bericht als auch in einer spezifischen Studie zur Raubkunst nicht erwähnt (Stellungnahme 22/2018 – Fairmedia c. «Basler Zeitung» );
- den Vorwurf des «Corriere del Ticino» gegenüber zwei Gewerkschaftsmitgliedern, sie hätten die Sicherheitsfirma Argo gezielt unterwandert, um Geschäftsgeheimnisse öffentlich zu machen. Betriebsspionage sei als schwerer Vorwurf zu werten (Stellungnahme 24/2018 – V. et al. c. «Corriere del Ticino»);
- den Vorwurf der «Basler Zeitung» gegenüber dem Institut für Rechtsmedizin Basel, es habe durch die Obduktion eine vorgängige illegale Organentnahme vertuschen wollen (Stellungnahme 35/2018 – Universitätsspital Basel c. «Basler Zeitung»);
- den Vorwurf des «Blick» gegenüber der Identitären Bewegung, sie habe ein „Nazi-Schiff“ ins Mittelmeer geschickt, übe «Selbstjustiz», und nehme «… den Tod von Frauen, Kindern und Männern auf der Flucht in Kauf» (Stellungnahme 39/2018 – X. c. «Blick»);
- den Vorwurf der «Basler Zeitung» gegenüber der Krankenkasse Concordia, Zusatzversicherte müssten wegen eines Tarifstreits (mit dem Unispital Basel) für Behandlungskosten aufkommen, obwohl sie die vollen Prämien zahlen. Gemäss Presserat wirft die «Basler Zeitung» der Concordia «implizit ungetreue Geschäftsbesorgung und Vertragsbruch gegenüber den Versicherten» vor (Stellungnahme 53/2018 – Concordia c. «Basler Zeitung»).
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Als leichten Vorwurf, zu dem der Betroffene nicht angehört werden muss, hat der Presserat bezeichnet:
- den Vorwurf an einen Gemeindepräsidenten, er lasse sich an den Sitzungen einer Gemeindepräsidentenkonferenz von seinem Stellvertreter vertreten (Stellungnahme 4/2018 – X. c. «Solothurner Zeitung»);
- den Vorwurf an Daniele Ganser, er sei ein Verschwörungstheoretiker. „Zu bedenken ist, dass sich Ganser in seinen Vorträgen und Büchern mit echten und angeblichen Verschwörungen befasst und dass man ihn deshalb im neutralen Sinne des Wortes als Verschwörungstheoretiker bezeichnen kann», begründet dies der Presserat (Stellungnahme 27/2018 – X. c. «SonntagsZeitung»).
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Kommentar: Dies ist eine fragwürdige Begründung, weil sie die Frage, ob ein Vorwurf schwer ist mit der Frage zu vermischen scheint, ob er zutrifft.
B. Frist zur Stellungnahme.
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Die «Basler Zeitung» erhob in einem Artikel den Vorwurf, dass der Historiker Georg Kreis wissentlich und mit Absicht einen möglichen Fall von Basler Raubkunst sowohl im Bergier-Bericht als auch in einer spezifischen Studie zur Raubkunst nicht erwähnt habe. Die «Basler Zeitung» stellte Kreis den Vorwurf zwar zu und räumte ihm eine Frist von 5¾ Stunden für die Stellungnahme ein. Als Georg Kreis innert Frist nicht antwortete, publizierte die «Basler Zeitung» ohne seine Stellungnahme. Gemäss Presserat hätte die BaZ mit dem Artikel zuwarten können, um die in diesem Fall doch zentrale Stellungnahme von Kreis einzuholen. Oder die BaZ hätte zumindest eine Formulierung aufnehmen können, wonach Kreis für eine Stellungnahme nicht erreicht werden konnte (Stellungnahme 22/2018 – Fairmedia c. «Basler Zeitung»).
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Eine Frist von 24 Stunden für eine Stellungnahme genügt, wenn einem Spital illegale Organentnahme vorgeworfen wird, da das Spital eine Medienabteilung hat (Stellungnahme 35/2018 – Universitätsspital Basel c. «Basler Zeitung»).
C. Recht zur Autorisierung.
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«Blick» klärte die Töchter eines Mordopfers nicht über ihr Recht auf, eine Autorisierung der zur Publikation vorgesehenen Äusserungen verlangen zu dürfen. «Blick» zitierte die Töchter im Text ausführlich – bis hin zum Titel („Wir werden ihr Lachen nie vergessen!“). Gemäss Richtlinie 4.6 muss den befragten Personen aber bewusst sein, dass sie eine Autorisierung der zur Publikation vorgesehenen Äusserungen verlangen dürfen. Dies war gemäss Presserat im konkreten Fall offensichtlich nicht der Fall, zumal es sich bei den Töchtern um medienunerfahrene Personen handelt. Rüge des Presserates (Stellungnahme 32/2018 – Beratungsstelle Opferhilfe Aargau Solothurn c. «Blick»).
D. Substitut für eine Stellungnahme
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Zitate aus einem Untersuchungsbericht können Stellungnahmen ersetzen. „Le Courrier“ schilderte Vorwürfe, welche die Petitionskommission des Grossen Rats des Kantons Genf in ihrem Bericht zur Untersuchung des Instituts für Umweltwissenschaften der Universität Genf gegen deren Direktorin abklärte (Vetterliwirtschaft im Berufungsverfahren). Gemäss Presserat genügte es, die Stellungnahme des Rektors des Instituts wiederzugeben, wie sie im Untersuchungsbericht aufgeführt war. „Le Courrier“ musste weder eine direkte Stellungnahme von ihm noch eine Stellungnahme der betroffenen Direktorin einholen (Stellungnahme 43/2018 – Université de Genève c. «Le Courrier»).
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Kommentar: Dieser Entscheid ist unbefriedigend. Grundsätzlich muss die konkrete Person Stellung nehmen können, der schwere Vorwürfe gemacht werden. Die Stellungnahme eines Vorgesetzten oder Mitbeteiligten genügt nicht. So rügte der Presserat «Le Nouvelliste», weil er schwere Vorwürfe gegen einen Arzt des Spitals Sion erhob, zu denen aber nicht der Betroffene, sondern nur Aufsichtsbehörden Stellung nehmen konnten (Stellungnahme 12/2014). Es gibt keinen Grund, in diesem Fall davon abzuweichen. Die Tatsache, dass die Zeitung aus einem Untersuchungsbericht zitiert, heilt höchstens die fehlende direkte Konfrontation des Rektors, aber nicht jene der betroffenen und kritisierten Direktorin, die gar nicht zu Wort kommt.
E. Recherchegespräch
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Wer sich auf ein Recherchegespräch einlässt, macht einen entscheidenden Schritt. Er kann geschilderte Informationen nicht mehr zurücknehmen und eine Veröffentlichung untersagen. Dies ist gemäss Presserat nur möglich, wenn es ausdrücklich vereinbart worden ist. Im vorliegenden Fall war ein Jugendlicher Migrant, der zusammen mit 14 andern in Luzern einen Gymi-Schüler verprügelt haben soll, bereit, mit „Blick“ über den Tathergang zu sprechen. Der Presserat weist eine Beschwerde des Migranten ab. Seine Aussagen würden den Beschwerdeführer nicht in ein schlechteres Licht rücken, sondern sprächen zu seinen Gunsten: Im Artikel heisst es, es tue Pavao B. leid und er möchte sich beim Opfer entschuldigen. Ausserdem hatte er gemäss Presserat die Gelegenheit, seine Sicht des Tathergangs zu schildern und zu präzisieren, dass die Gruppe aus Schweizern und Ausländern bestanden habe. Aus all diesen Gründen sieht der Presserat von einer Rüge ab (Stellungnahme 37/2018 – X. c. «Blick»).
3. Lauterkeit der Recherche (Ziffer 4 des Journalistenkodex, RL 4.1, 4.2, 4.3, 4.4, 4.5, 4.6, 4.7)
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Ein Interview kann neue Elemente zu Tage fördern, die zu weiteren Recherchen führen. Geht ein Journalist diesen Hinweisen nach, handelt er nicht unlauter. „20Minuten“ veröffentlichte am 12. Oktober 2017 einen Artikel, der der Frage nachging, ob das Hilfswerk Heks einem Asylbewerber geraten hatte, online politisch aufzutreten, um in der Schweiz bleiben zu dürfen. Das Heks widersprach. Kronzeuge des Artikels war der Asylbewerber Kadir. Der Presserat prüfte, ob sich «20Minuten» das Interview mit Kadir mit falschen Angaben erschlichen habe. Die Beschwerde führende Asylorgansation rügte, der Journalist habe angegeben, ein Gespräch über die Lehrstellensituation von abgewiesenen Asylsuchenden führen zu wollen, dann aber daraus zu Lasten des Interviewpartners einen Artikel über angeblichen Asylmissbrauch konstruiert. Der Presserat erachtet diesen Vorwurf als unbegründet. Tamedia führe glaubhaft aus, der Redaktor habe sich mit Kadir in der ursprünglichen Absicht getroffen, eine Reportage über seine Lehrstellensituation zu machen. Erst im Verlauf des Gesprächs mit Kadir habe er vom angeblichen Hinweis des Heks erfahren.
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Gemäss Presserat liegt es im Wesen eines Interviews, dass dieses neue Elemente zu Tage fördern kann. Es entspreche seriöser Recherche, dass ein Journalist diesen nachgehe und nachhake. Der Redaktor habe dies im konkreten Fall umfassend getan. Deshalb weist der Presserat die Beschwerde ab (Stellungnahme 21/2018 – Verein Netzwerk Asyl Aargau / X. c. «20 Minuten.ch»).
V. Schutz von Privatsphäre und Menschenwürde
1. Schutz der Privatsphäre (Ziffern 7 und 8 Journalistenkodex; RL 7.1, 7.2, 7.3, 7.7, 8.1, 8.2, 8.3)
A. Spezifische Informationen zur Privatsphäre
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Für spezifische Informationen zur Privatsphäre – wie zum Beispiel die Nummer eines Mobiltelefons oder die Wohnadresse – gelten auch bei Prominenten hohe Anforderungen, da deren Abdruck in den Medien immer auch die Gefahr von Belästigungen mit sich bringt. Hier verlangt der Presserat eine besondere Rechtfertigung, selbst wenn der Name der Betroffenen und ihr Bild gezeigt werden dürfen und selbst wenn es sich um Politikerinnen oder Politiker handelt. So durften die «Schaffhauser Nachrichten» die Mobiltelefonnummer der Juso-Chefin Tamara Funiciello nicht publizieren, obwohl diese auf ihrer eigenen Website und über Google mit den beiden Suchbegriffen «Funiciello» und «Telefon» zu finden war (Stellungnahme 55/2018 X. c. «Schaffhauser Nachrichten» und «Radio Munot» – vgl. dazu auch Ziffer 8.2).
B. Berichterstattung mit Namensnennung
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Der Name eines Verwaltungspräsidenten darf genannt werden, wenn seine Firma in Finanznöten steckt und ein zweifelhaftes Geschäftsmodell betreibt, das Gläubiger oder Investoren schädigen könnte. Der Presserat weist eine Beschwerde gegen den «Beobachter» ab, der in einem Artikel vor der Firma Hyposcout und deren Verwaltungsratspräsident Robert Simmen namentlich gewarnt hatte, weil sie unter anderem Kredite an Leute vermittle, die zu wenig Eigenmittel haben. Zudem steckt Simmen gemäss «Beobachter» in Finanznöten und eine weitere neugegründete Simmen-Firma, die Gepag AG, lockt Investoren mit angeblichen Traumrenditen, ist aber gleichzeitig mit Grundpfandschulden hochbelastet. Gemäss Presserat durfte Robert Simmen namentlich genannt werden, weil er auf der Webseite der Hyposcout AG mit Foto und Namen an oberster Stelle als Verwaltungsratspräsident figuriere. Als Verwaltungsratspräsident trete er somit öffentlich auf. «Der kritisierte Bericht handelt von den finanziellen Schwierigkeiten dieser Firma. Identifizierend zu berichten war deshalb zulässig», meint der Presserat in etwas gar kurzer Begründung (Stellungnahme 50/2018 – Simmen c. «Beobachter»).
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Kommentar: In verschiedenen früheren Entscheiden hatte der Presserat gerügt, dass der Name des Inhabers von Firmen mit zweifelhaften Geschäftspraktiken genannt worden war, denn es genüge, den Firmennamen zu nennen, um mögliche Opfer zu warnen (vgl. Stellungnahmen 16/2009, 5/2010, 58/2012, 36/2017). Der Presserat scheint hier seine strenge und kritisierte Praxis zu lockern. Das ist zu begrüssen, denn oft genügt die Nennung des Firmennamens nicht, um weitere Opfer zu verhindern. Eine neue Firma als Tarnmantel für Vermögens- oder Konkursdelikte ist nämlich schnell gegründet. Der Schutz zukünftiger Gläubiger kann in solchen Fällen meist nur erreicht werden, wenn der Name des Fehlbaren genannt wird. Bei Firmeninhabern, zu deren Geschäftsmodell der betrügerische Firmenkonkurs geradezu gehört, kann der Zusammenhang häufig nur über den Namen hergestellt werden.
C. Anonymisierung
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«SonntagsZeitung» und «Le Matin Dimanche» durften in einem Bericht über Wahl- und Abstimmungstourismus in der Gemeinde Moutier davon absehen, den als «Autonomisten» bekannten «Mathieu B.» vollständig zu anonymisieren. Gemäss Presserat liegt es im Interesse der Öffentlichkeit, zu erfahren, dass es gerade der Sohn des Vizebürgermeisters und Wahlbürochefs war, der sich rund vier Monate vor der Abstimmung als Einwohner von Moutier registriert hatte, obwohl er im anderthalb Autostunden entfernten Freiburg arbeitete (Stellungnahme 20/2018 – Comité Moutier ville jurassienne c. «SonntagsZeitung» und «Le Matin Dimanche»).
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Die «Luzerner Zeitung» durfte die Daten über die Amtszeit eines nicht namentlich genannten Kapuzinerprovinzials nennen, auch wenn dies dessen Identifizierung erleichterte. Der Artikel ging der Frage nach, ob der Provinziale mithalf, sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche zu vertuschen. Die Angabe der Amtszeit hat gemäss Presserat dazu gedient, die Legitimität der Fragen zu untermauern. Angesichts des brisanten Themas und der Stellung des höchsten Kapuziners habe zudem offensichtlich ein öffentliches Interesse daran bestanden, diesen Fragen nachzugehen. Die Nennung der Daten könne der «Luzerner Zeitung» nicht zum Vorwurf gemacht werden. „Dass sich der Name einer Person mittels Google-Suche in Erfahrung bringen lässt, konstituiert für sich allein noch keine Persönlichkeitsverletzung“, schreibt der Presserat (Stellungnahme 5/2018 – X. c. «Luzerner Zeitung»).
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«Blick» hat einen Beschuldigten ungenügend anonymisiert, weil er zu viele Details zur Person schilderte: X. (Vorname und erster Buchstabe des Nachnamens), 29-jährig, ist Luzerner, wohnt seit zwei Jahren in einer Neubausiedlung im Kanton Bern, ist Filmemacher (Jungfilmer), ist ein bekanntes Gesicht in der Schweizer Filmszene, hat vor fünf Jahren mit einem Kurzspielfilm Lob geerntet und später in einer anderen Produktion als Co-Autor mitgewirkt. Ausserdem publizierte «Blick» ein Bild von X., bei dem die Gesichtspartie mit einem Balken abgedeckt ist. Dank dieser Angaben lässt sich der Beschuldigte gemäss Presserat sehr schnell über sein soziales oder berufliches Umfeld hinaus identifizieren (Stellungnahme 6/2018 – X. c. «Blick»).
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Auch «Le Matin Dimanche» hat einen Beschuldigten zu detailliert beschrieben. Dadurch sei die Person über das engste soziale Umfeld hinaus erkennbar geworden, rügt der Presserat. Die Zeitung wählte zwar ein Pseudonym, aber nannte die Herkunft des Beschuldigten, sein Alter, seine Ausbildung («étudiant en école de commerce»), seinen grossen Wuchs, seine Sportart (Boxen), seinen Wohnort, seine Familie, seine Freundschaftsbeziehungen und seinen Übernamen (Stellungnahme 12/2018 – X. c. «Le Matin Dimanche»).
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Es ist gemäss Presserat zulässig, bei einer Anonymisierung den richtigen Vornamen und Initial zu verwenden. «In konstanter Praxis erachtet der Presserat eine Anonymisierung als genügend, wenn der Vorname vollständig genannt und der Nachname mit dem ersten Buchstaben abgekürzt ist». Dies gilt im konkreten Fall selbst für den Vornamen «Pavao». (Stellungnahme 37/2018 – X. c. «Blick»).
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Kommentar: Diese Stellungnahme illustriert gut, wie fragwürdig die (langjährige) Praxis des Presserates ist, Anonymisierungen mit richtigen Vornamen und Initial als zulässig zu erklären. Mit dem Vornamen «Pavao» ist eine Person über das engste soziale Umfeld von Familie, Freunden und Berufskollegen hinaus erkennbar und somit nicht wirklich anonymisiert. Zivilrechtlich ist die «Anonymisierung» «Pavao B.» grenzwertig.
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Details, die in keinem sachlichen Zusammenhang zur Berichterstattung stehen, sind bei einer Beschreibung immer zu vermeiden. So rügt der Presserat den „Corriere del Ticino“, weil er in seiner Berichterstattung zur Affäre rund um die Tessiner Sicherheitsfirma Argo erwähnte, dass ein Whistleblower in Italien eine Invalidenrente beziehe. „Der Bezug einer Invalidenrente in Italien steht in keinem Zusammenhang mit der Rolle, welche der ehemalige Wachmann in der Berichterstattung rund um die Affäre der Tessiner Sicherheitsfirma Argo spielte.» Diese Rente zu erwähnen, stellt gemäss Presserat einen schwerwiegenden Eingriff in die Privatsphäre dar (Stellungnahme 24/2018 – V. et al. c. «Corriere del Ticino»).
2. Schutz der Menschenwürde und vor Diskriminierung (Ziffer 8 Journalistenkodex; RL 8.1, 8.2, 8.3, 8.4 und 8.5)
A. Menschenwürde
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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
B. Diskriminierung
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«Blick am Abend» durfte Kandidaten der Sendung „Bachelorette“ klischiert vorstellen. So schrieb die Zeitung unter anderem, dass bei drei zusätzlich mit Bild vorgestellten Kandidaten bei der als Fachperson beigezogenen Dragqueen Gossipa «die Alarmglocken läuten» würden und der «Gay-Radar» ausschlage. Begründet wird dies von Gossipa mit Beschreibungen bezüglich Körperhaltung und anderen Details («kein Hetero-Mann steckt seine Hände so in die Hose», Piercings, Tattoos und «stechendem Blick»). (….) Gemäss Presserat erfolgen die Charakterisierungen der Kandidaten mittels sehr billiger Klischees, einschliesslich einer möglichen hetero-, homo- oder bisexuellen Orientierung. Doch vermag der Presserat in dieser geringen journalistischen Tiefe keine Diskriminierung gemäss Ziffer 8 der «Erklärung» zu sehen. Homosexualität werde nicht abwertend und entgegen der Sicht des Beschwerdeführers auch nicht als «anormal» dargestellt (Stellungnahme 7/2018 – X. c. «Blick am Abend»).
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«Das Magazin» durfte Kim Kardashian von hinten mit fast vollständig entblösstem Gesäss auf dem Titelbild zeigen. Kardashian trägt High Heels, Strümpfe, knappe Unterwäsche und einen Pelz. Sie kriecht auf allen Vieren auf einem Geröllhang und streckt ihren Hintern prominent in die Kamera. Das Diskriminierungsverbot ist gemäss Presserat nur verletzt, wenn mit einer Aussage eine angeborene oder kulturell erworbene Eigenschaft herabgesetzt oder herabsetzende Eigenschaften kollektiv zugeordnet werden. Beim Titelbild des Magazins sei für Betrachtende aber erkennbar, dass Kardashian ihren Körper und besonders ihren Hintern bewusst inszeniere und sich im vorliegenden Fall von der Kamera eines Kunstfotografen ablichten lässt. „Frauen werden mit diesem Bild nicht generell als Gruppe herabgesetzt“, schreibt der Presserat. Die Bildunterschrift mache zudem klar, dass es um einen Schönheits- und Optimierungswahn geht. Wenn das «Magazin» diese Thematik aufgreife und mit einem provokativen Foto illustriere, sei dies nichtdiskriminierend gegenüber allen Frauen, sondern Teil der notwendigen medialen Diskussion (Stellungnahme 31/2018 – Partei der Arbeit Bern c. «Das Magazin»).
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«20Minutes» verletzt das Diskriminierungsverbot mit einer Symbolfoto einer schwarzen Hand, die einen italienischen Pass hält. Die Foto illustriert einen Artikel mit dem Titel «Il obtient deux permis de séjour avec de faux papiers». Die Kombination von Titel und Symbolfoto verstärkt gemäss Presserat Vorurteile gegenüber Menschen aus Schwarzafrika (Stellungnahme 41/2018 – X. c. «20 minutes en ligne»).
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Das Diskriminierungsverbot ist nicht verletzt, wenn die wesentlichen Ursachen für die Darstellung von den Diskriminierten selbst gewählt und öffentlich gemacht wurden. «Schaffhauser Nachrichten» und die Website von «Radio Munot» verletzen deshalb das Diskriminierungsverbot nicht, wenn sie Juso-Chefin Tamara Funiciello mit nacktem Oberkörper BH-schwingend abbilden: «Die Darstellung einer Frau ist diskriminierend, wenn diese auf ihr Geschlecht reduziert und nur auf dieser Basis kritisiert wird. Das ist mit der Darstellung einer BH-schwingenden, halbentblössten Frau und deren kritisiertem Verhalten zwar der Fall, aber die für diese Stereotypisierung relevanten Merkmale sind von der Dargestellten selber bewusst so gesetzt worden. Sie hat sich, mit absehbarer erheblicher medialer Wirkung, beim Verbrennen von BHs mit nacktem Oberkörper fotografieren lassen. Dieses von einigen Frauen bewusst gesetzte Bild aufzugreifen, kann nicht als pauschal gegen Frauen gerichteter Akt kritisiert werden.» (Stellungnahme 55/2018 – X. c. «Schaffhauser Nachrichten» und «Radio Munot»).
VI. Der Umgang mit Bildern
1. Wahrhaftigkeit und Transparenz (RL 3.3, 3.4, 3.5, 3.6)
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Eine Grafik, die eine Zunahme als drei Mal grösser darstellt, als sie tatsächlich ist, verletzt das Wahrheitsgebot – auch wenn die abgedruckten Zahlen richtig sind und nur die grafische Umsetzung falsch (vgl. oben Ziff. 2.1). „Grafiken dienen dazu, einen Sachverhalt zu visualisieren. Im vorliegenden Fall ist die Visualisierung offensichtlich falsch, da sie dem Leser den Eindruck vermittelt, eine dreimal grössere Anzahl an Photovoltaikanlagen wäre nötig für die Umsetzung der Energiestrategie als dies tatsächlich der Fall ist. Grafik und Zahlen müssen übereinstimmen. Dies erst recht, wenn die Grafik wie vorliegend fast einen Drittel des ganzen Artikels einnimmt. Stimmt eine solche Grafik nicht, ist sie geeignet, den Leser irrezuführen.“(Stellungnahme 34/2018 – X. c. «20 Minuten»)
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Die Tatsache, dass eine korrekte Interpretation einer Grafik für den Leser schwierig ist, reicht nicht für eine Verletzung des Wahrheitsgebots. Die «Basler Zeitung» publizierte neben einem Artikel eine komplizierte Grafik zum Schmelzen von Grönlandeis. Gemäss Presserat ist die Grafik zwar journalistisch ungenügend erklärt und eingebettet ist, doch werden dem Leser die wesentlichen Informationen vermittelt, wie sie zu interpretieren ist. Deshalb werden laut Presserat keine wichtigen Informationselemente unterschlagen (Stellungnahme 48/2018 – X. c. «Basler Zeitung»).
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Eine Illustration, die Ärzte als geldgierig darstellt, verletzt das Wahrheitsgebot, wenn dies im Text nicht belegt ist. Deshalb wird der «Sonntagsblick» gerügt. Die Zeichnung mit einem operierenden Arzt mit Goldketten, der offenbar einem Patienten Geld aus der Operationswunde zieht, unterstellt gemäss Presserat nichts anderes als Geldgier. Der Vorwurf ziele auf eine ganze Berufsgruppe. Da im Artikel nicht belegt ist, dass Ärzte einen grösseren Teil von den drei Milliarden Franken ungerechtfertigter Rechnungen stellen, ist dieser Vorwurf der Geldgier gemäss Presserat nicht belegt. Zwar sei einer Illustration eine gewisse künstlerische Freiheit zuzugestehen. Aber auch eine in die Berichterstattung eingebettete Illustration habe sich an die grundlegenden medienethischen Regeln zu halten. Die mit der Illustration prominent visualisierte Geldgier geht gemäss Presserat über das hinaus, was als Zuspitzung erlaubt ist. Das Publikum werde durch diese Überspitzung getäuscht (Stellungnahme 54/2018 – FMH c. «Sonntagsblick»).
2. Schutz der Privatsphäre
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Die Onlineplattform „lapravda.ch“ durfte die Foto einer Journalistin ohne Einwilligung verwenden, welche diese auf Twitter als Profilbild hochgeladen hatte. Twitter wende sich an ein breites Publikum. Darum könne man von einer impliziten Einwilligung in eine Publikation auch in einem traditionellen Medium ausgehen (10/2018 – «Tribune de Genève» c. «LaPravda.ch»).
3. Aktualitätsbilder, Täter- und Attentatsfilme, Streaming (RL 8.4, 8.5)
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«Blick.ch» durfte auf seiner Frontseite ein Bild über einen Giftgasangriff in Syrien publizieren, das einen Vater mit zwei bleichen, schlafend aussehenden Kindern in seinen Armen zeigt. Sowohl der Mann als auch die beiden Kinder sind gut identifizierbar. Das Bild der zwei toten Kinder in den Armen ihres Vaters zeigt der Öffentlichkeit gemäss Presserat die menschliche Tragödie des Krieges in Syrien und die schrecklichen Folgen eines Giftgasangriffs. Der Presserat ist klar der Meinung, dass hier das öffentliche Interesse an einer Publikation der Privatsphäre überzuordnen ist. Das Bild sei ein Dokument der Zeitgeschichte, es habe einen hohen Informationswert. Zudem verfüge es über eine grosse Aussagekraft, es zeige den Betrachtenden auf einen Blick, was Worte nicht könnten: den Schrecken, das Leid, den Schmerz, die Trauer, die Gewalt, die Grausamkeit und die Wut. „Das Foto als Ganzes bewahrt einen friedlichen und ikonischen Charakter. Das Bild strahlt Sensibilität aus und ist respektvoll.“, begründet der Presserat seinen Entscheid weiter. Die Menschen, auch wenn von Nahem abgebildet, würden nicht zu Objekten degradiert. Es handelt sich gemäss Presserat nicht um ein sensationelles Foto, sondern um ein Dokument der Zeitgeschichte, das der Öffentlichkeit zeigen kann, was ein Giftgasangriff für Zivilpersonen und Familien für Folgen hat (Stellungnahme 30/2018 – X. c. «Blick.ch»).
VII. Besonderheiten der Polizei- und Gerichtsberichterstattung (RL 7.4, 7.5, 7.6, 7.7)
1. Unschuldsvermutung
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Da ein Artikel des „Blick“ klar als Prozess-Vorschau erkennbar war, verletzte er die Unschuldsvermutung nicht, obwohl diese nicht explizit erwähnt wurde. In einem zweiten Artikel des «Blick» über das Urteil selbst, war dies hingegen nicht mehr gegeben. «Blick» hätte zwingend recherchieren müssen, ob das Urteil weitergezogen worden ist oder ob es Rechtskraft erlangt hat. Der Hinweis, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, hätte zwingend im Artikel über das Urteil erfolgen müssen. Die Argumentation von «Blick», der Beschwerdeführer hätte darauf hinweisen müssen, dass er das Urteil weitergezogen hat, ist gemäss Presserat unhaltbar (Stellungnahme 6/2018 – X. c. «Blick»).
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Engagierte Urteilskommentare von Journalisten, die auch Partei ergreifen, verletzen die Unschuldsvermutung nicht (vgl. etwa Stellungnahme 17/2013). Aber auch solche Kommentare müssen erwähnten, ob das Verfahren noch läuft oder im Gegenteil rechtskräftig abgeschlossen ist (Stellungnahme 22/2010). Da «Le Matin Dimanche» Begriffe wie „Beschuldigter“ oder „mutmasslicher Täter“ verwendete, hat die Zeitung die Unschuldsvermutung respektiert (Stellungnahme 12/2018 – X. c. «Le Matin Dimanche»).
2. Namensnennung
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Siehe zu diesem Thema vorne unter Randnoten 55 ff.
VIII. Unabhängigkeit der Medienschaffenden (Ziffern 9 und 10 Journalistenkodex)
1. Trennung von Redaktion und Verlag (Ziffer 10 Journalisten-kodex, RL 10.1, 10.2 und 10.4)
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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
2. Persönliche Unabhängigkeit (Ziffer 9 Journalistenkodex, RL 2.4, 9.1, 9.2)
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Die Unabhängigkeit einer Journalistin ist nicht in Frage gestellt, wenn ihr Lebenspartner gelegentlich Aufträge für die Gemeinde ausführt, über welche die Journalistin schreibt (Stellungnahme 4/2018 – X. c. «Solothurner Zeitung»).
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Die Unabhängigkeit eines Journalisten, der in der Freizeit für die Öffentlichkeitsarbeit des Museumsvereins Laufen verantwortlich ist, ist gegeben, wenn er einen Artikel über ein anderes Museum (Museum für Musikautomaten in Seewen) verfasst. Grund: Der Museumsverein Laufental ist ein privater Verein, welcher als Träger des Museums Laufental figuriert. Beim Museum für Musikautomaten in Seewen SO handelt es sich hingegen um ein Museum der Schweizerischen Eidgenossenschaft. „Träger und Struktur der beiden Museen sind somit verschieden, Berührungspunkte scheinen weder inhaltlich, räumlich noch sonstwie gegeben zu sein.“ Deshalb sieht der Presserat keine Anhaltspunkte, welche die Unabhängigkeit des Autors in Bezug auf seine Berichterstattung über den Verkauf von Land, welches ans Museum für Musikautomaten angrenzt, auch nur ansatzweise in Frage stellen würden (Stellungnahme 11/2018 – X. c. «Basellandschaftliche Zeitung»).