Wer austeilt, muss auch einstecken können
Das Bezirksgericht Zürich schützt in einem neuen Urteil (CG170019-L) die harsche Kritik an einem Journalisten
Dr. Christoph Born, Rechtsanwalt, Zürich
Inhalt des Urteils in Kürze:
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Der Kläger ist ein israelisch-schweizerischer Journalist. An den Solothurner Filmtagen 2014 wurde der Spielfilm «Akte Grüninger» uraufgeführt – ein Film über den St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger, der in den Jahren 1938 und 1939 mehrere hundert jüdische und andere Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung gerettet hatte. Aus diesem Anlass erschien in einem Schweizer Wochenmagazin u.a. ein Essay des Klägers, in dem dieser – wie schon früher – die Auffassung vertrat, Grüninger sei entgegen der gängigen Auffassung ein korrupter Polizist, ein Nazi-Sympathisant bzw. Nazi-Agent gewesen. Daraufhin wandten sich eine Privatperson (Beklagter 1) und eine Stiftung (Beklagte 2) in einem auf der Website und dem Facebook-Account der Beklagten 2 publizierten offenen Brief an den Chefredaktor des Wochenmagazins. Darin führten sie u.a. aus, dass «jeder halbwegs kundige Chefredaktor oder Historiker in unserem Lande» wisse, dass der Kläger «im besten Fall ein ‘Irrer’ ist, der wirre Thesen zusammenbastelt, die zwar nie bewiesen, aber jederzeit leicht widerlegt werden können». Den Beruf des Klägers – Journalist – setzten sie in Anführungs- und Schlusszeichen. Eine weitere Privatperson (Beklagte 3) zitierte diese Äusserungen auf Facebook. Dem Zitat stellte sie Folgendes voran: «Oh, nur noch … [Name des Klägers] hat uns hier gefehlt. Der Irrsinn hat nun seinen Lauf genommen.» In einem weiteren Kommentar auf Facebook führte der Beklagte 1 über eine Drittperson Folgendes aus: «Er war ein gemeingefährlicher Krimineller und ist ein übler Antisemit und Volksverhetzer, und wenn er jetzt im Gefängnis zugrunde geht, ist er selber schuld und kümmert mich das rein gar nicht». Dasselbe gelte für die «immergleiche[n] blödsinnige[n] Theorien» des Klägers.
2
Vor dem Bezirksgericht beantragte der Kläger die Feststellung, dass die Beklagten ihn je durch ihre Äusserungen in seinen persönlichen Verhältnissen verletzt und unlauteren Wettbewerb begangen hätten. Ferner verlangte er die Löschung der Äusserungen im Internet und auf Facebook, ein Verbot der Weiterverbreitung der Äusserungen und eine Urteilsveröffentlichung.
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Das Bezirksgericht wies alle Begehren ab. Es kam zum Schluss, dass es sich bei den eingeklagten Äusserungen um zulässige reine Werturteile handle (Haupterwägung) bzw. um gemischte persönlichkeitsverletzende Werturteile, die durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt würden, wodurch die Verletzung «geheilt» würde (Eventualbegründung). Zuvor hatte das Bezirksgericht in Bezug auf diejenigen Äusserungen, die in der Zwischenzeit auf den Internet- und Facebook-Seiten gelöscht worden waren, festgestellt, dass kein Störungszustand und somit kein Feststellungsinteresse mehr bestehen würden. Das Rechtsschutzinteresse am Unterlassungsbegehren hatte es bejaht.
Anmerkungen:
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Die Klage richtete sich gegen drei Beklagte, die unterschiedliche – zum Teil sich überschneidende – Äusserungen publiziert hatten, wobei der Kläger sowohl eine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung als auch einen Verstoss gegen Art. 3 Abs. 1 lit. a UWG geltend machte. Bei der Prüfung der sachlichen Zuständigkeit stellten sich für das Bezirksgericht somit zuerst die Fragen, ob es zulässig ist, die drei Beklagten gleichzeitig ins Recht zu fassen und ob es statthaft ist, mehrere Rechtsbegehren gegen diese zu erheben und diese Begehren auf verschiedene Rechtsgründe zu stützen. Je nach Antwort, hätte bei den einen Begehren das Kollegialgericht des Bezirksgerichts im ordentlichen Verfahren und bei den anderen Begehren ein/e Einzelrichter/in im vereinfachten Verfahren oder das Handelsgericht als sachlich zuständig erklärt werden können.
Das Bezirksgesicht Zürich löste diese Problematik überzeugend (Erwägung III 1.2 ff., S. 9 ff.): Es erkannte, dass aus Gründen der Prozessökonomie «in jedem Fall eine Kompetenzattraktion notwendig» war. Gestützt auf die Rechtsprechung des Obergerichts des Kantons Zürich prüfte es, wo der Schwerpunkt der Klage lag. Es kam zum Ergebnis, dass es dem Kläger in der Hauptsache um die von ihm behaupteten Persönlichkeitsverletzungen und nur marginal um den unlauteren Wettbewerb ging. Entsprechend bejahte es seine sachliche Zuständigkeit als Kollegialgericht im ordentlichen Verfahren sowohl in Bezug auf die Persönlichkeitsverletzung als auch – durch eine Kompetenzattraktion – in Bezug auf die Ansprüche aus UWG.
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Obwohl ein Teil der eingeklagten Äusserungen auf den betreffenden Internet- und Facebook-Seiten gelöscht worden war, machte der Kläger geltend, es bestehe diesbezüglich weiterhin ein Störungszustand und demzufolge ein Rechtsschutzinteresse an der gerichtlichen Feststellung der Widerrechtlichkeit. Er begründete dies u.a. damit, dass die von der Organisation Internet Archive betriebene WayBack Machine auch gelöschte Äusserungen anzeige. Das Bezirksgericht erachtete den abstrakten Hinweis des Klägers auf die Internetadresse der WayBack Machine (https://web.archive.org/) als ungenügend. Es hielt fest, dass der Kläger für den geltend gemachten Störungszustand des offenen Briefs hinreichend hätte behaupten sollen, dass dieser im Internet über die genannte WayBack Machine noch zu finden sei (E. III 3.3.1.1, S. 25 ff.) – und verneinte deshalb das Feststellungsinteresse.
Dies ist zu begrüssen. Eine Bejahung hätte eine weitere Überdehnung von Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB bedeutet. Gemäss dieser Bestimmung ist die Klage auf Feststellung der Widerrechtlichkeit an die Bedingung geknüpft, dass sich die Verletzung «weiterhin störend auswirkt». Schon das Bundesgericht hat diese Bestimmung über den Wortlaut hinaus ausgedehnt, indem es keine Störwirkung verlangt, sondern einen Störzustand genügen lässt (vgl. BGE 127 III 481, S. 484 ff. und BGer 5A_605/2007 E. 3.2).
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In Bezug auf das Unterlassungsbegehren des Klägers bejahte das Bezirksgericht das Rechtsschutzinteresse. Es stützte sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts im Lauterkeitsrecht. Gemäss dieser könne die Wiederholungsgefahr regelmässig angenommen werden, wenn der Verletzte die Widerrechtlichkeit des beanstandeten Verhaltens bestreite, da in einem solchen Fall zu vermuten sei, dass er es im Vertrauen auf dessen Rechtmässigkeit weiterführen werde. Diese Vermutung werde weder durch die Einstellung der Verletzung umgestossen noch durch die blosse Erklärung des Beklagten, von künftigen Verletzungen Abstand zu nehmen, «wenn nicht gleichzeitig der Anspruch des Klägers anerkannt wird» (E. III 4.2, S 32 ff.). Dass die unteren Instanzen diese Rechtsprechung des Bundesgerichts jeweils unreflektiert übernehmen, ist bedauerlich. Denn sie raubt den Beklagten das Recht, sich gegen ein Unterlassungsbegehren zu wehren. Wer nämlich nur schon die Auffassung vertritt, seine Äusserung seien nicht widerrechtlich, der unterliegt automatisch in Bezug auf das Unterlassungsbegehren, selbst wenn er die Verletzung eingestellt oder eine Erklärung abgegeben hat, dass er von einer künftigen Verletzung Abstand nimmt.
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Ob die eingeklagten Äusserungen den Kläger widerrechtlich in seiner Persönlichkeit verletzen oder unlauter sind, hat das Bezirksgericht – getreu der ständigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung – nach einem «objektiven Massstab» geprüft und dabei «auf den Wahrnehmungshorizont des Durchschnittsadressaten (Durchschnittslesers) abgestellt» sowie den «Rahmen der Äusserung» in Betracht gezogen (E. VI 2.1, S. 44 f.).
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Den Rahmen der eingeklagten Äusserungen steckte das Bezirksgericht wie folgt ab: Der offene Brief sei auf einem Onlineportal veröffentlicht worden, das sich «mit einem beschränkten Themenkreis … an ein am Nahostkonflikt interessiertes Publikum wendet». Der durchschnittliche Leser erwarte in einem offenen Brief (wie auch auf einer Facebook-Seite) keine sachliche Berichterstattung, sondern die Wiedergabe des subjektiven Standpunkts des Verfassers. Sodann sei der Brief «humoristisch, ironisch geschrieben, an der Grenze zur Satire». Ferner würden die eingeklagten Stellen «als blosser Nebenschauplatz» erscheinen (E. VII 1.2 ff., S. 52 ff.).
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Dass der Beruf des Klägers als Journalist in Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt wurde, qualifizierte das Gericht in seiner Haupterwägung als reines Werturteil. Es handle sich dabei um eine «ironische Herabsetzung der beruflichen Tätigkeit des Klägers». Angesichts des Rahmens, in dem es verwendet werde, sei das Werturteil zulässig und bedeute keine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung (E. VII 3.2, S. 56 ff).
Ob der offene Brief sich an der Grenze zur Satire bewegte, kann hier nicht beurteilt werden, denn das Bezirksgericht zitiert daraus nur die eingeklagten Stellen. Es ist aber höchst fraglich, ob der durchschnittliche Leser in einem offenen Brief (oder auf einer Facebook-Seite) keine sachliche Berichterstattung erwartet, sondern nur die Wiedergabe subjektiver Standpunkte. Selbst wenn dem so wäre, wäre es unzulässig, an eine Meinungsäusserung in einem offenen Brief (oder auf Facebook) generell einen anderen Massstab anzulegen als an Meinungsäusserungen, die auf einem anderen Informationsweg in der Öffentlich verbreitet werden.
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«Im Sinne der Vollständigkeit» prüfte das Bezirksgericht «als Eventualerwägung» auch noch, wie es sich verhalten würde, wenn bei der Aussage bezüglich «Journalist» (in Anführungs- und Schlusszeichen) von einem persönlichkeitsverletzenden gemischten Werturteil ausgegangen würde. Dabei stellte es fest, dass der Kläger gemäss der unbestrittenen Darstellung der Beklagten seit Jahren keine Beiträge als Journalist mehr veröffentlicht hatte (abgesehen von seinem Blog), und es kam zum folgenden Schluss: «Selbst wenn … von einem persönlichkeitsverletzenden gemischten Werturteil ausgegangen würde, könnte die Aussage durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt und die Verletzung damit ‘geheilt’ werden» (E. VII 3.2.2.3 ff., S. 60 ff.). Diese Begründung ist nicht nachvollziehbar. Das Gericht hätte es bei der Feststellung belassen müssen, dass der im gemischten Werturteil enthaltene Tatsachenkern der Wahrheit entspricht und es deshalb zulässig war, den Beruf des Klägers in Anführungs- und Schlussstrichen zu setzen. Bei der Beurteilung, ob der Tatsachenkern eines gemischten Werturteils wahr und das darauf gestützte Werturteil vertretbar ist, spielt der Rechtfertigungsgrund des überwiegenden öffentlichen Interesses keine Rolle. Somit ist es auch verfehlt, die Verletzung als durch das öffentliche Interesse «geheilt» zu erklären.
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Auf analoge Weise qualifizierte das Bezirksgericht in seiner Haupterwägung die Äusserung, der Kläger sei «im besten Fall ein ‘Irrer’», als reines Werturteil. Diese Bezeichnung werde «aufgrund des Kontextes und der Benutzung von Anführungs- und Schlusszeichen vom durchschnittlichen Leser als eine Charakterisierung in einem übertragenen Sinn verstanden, wie bereits die Bezeichnung des Klägers als ‘Journalist’». Der Durchschnittsleser erkenne zudem, dass im darauffolgenden Relativsatz begründet werde, inwiefern der Kläger nach der Meinung der Verfasser ein «Irrer» sei: Weil er «wirre Thesen zusammenbastelt, die zwar nie bewiesen, aber jederzeit leicht widerlegt werden können». Der Durchschnittsleser verstehe damit die Bezeichnung des Klägers als «Irren» im vorliegenden Kontext so, dass der Kläger nach der Meinung des Verfassers eine Person sei, «die im besten Fall ‘irre’ Thesen verbreitet». Dieses Werturteil sei vertretbar und sprenge den Rahmen des Haltbaren nicht (E. VII 4.2.1 und 4.2.2, S. 66 ff.).
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Auch in Bezug auf die Bezeichnung des Klägers als «Irrer» hat das Bezirksgericht in einer «Eventualerwägung» geprüft, wie es sich verhalten würde, wenn von einem persönlichkeitsverletzenden gemischten Werturteil ausgegangen würde. Dabei sei die Aussage, wonach die Thesen des Klägers «nie bewiesen, aber jederzeit leicht widerlegt werden können», das Tatsächliche, auf das sich die Bewertung des Klägers als «Irrer» beziehe. Da sich der Verfasser (auch) hier «pointiert und ironisch» ausdrücke, würden diese Aussagen «vom durchschnittlichen Leser nicht wortwörtlich verstanden». Der Tatsachenkern, welcher der Aussage zu Grunde liege, sei vielmehr, «dass die Thesen des Klägers als nicht bewiesen geltend (recte wohl: gelten) und widerlegt werden können» (E. VII 4.3.3.1, S. 72 f.). In der Folge kommt das Bezirksgericht in eingehender Würdigung der von den Parteien eingereichten zahlreichen Urkunden, zumeist Ausführungen und Stellungnahmen von Historikern, zum Schluss, es entspreche «der gängigen Historikerauffassung, dass diese Thesen des Klägers ohne Beweis geblieben sind» und «nach der gängigen Historikermeinung als widerlegt gelten» (E. VII 4.3.4.2 ff., S. 77 ff.). Und wiederum hält das Gericht überflüssiger- und fälschlicherweise fest, dass die Persönlichkeitsverletzung durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt und die Verletzung damit «geheilt» werde (E. VII 4.3.6, S. 93).
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Auch wenn die Erwägungen des Bezirksgerichts, die es aus der Sicht des Durchschnittsleser vornimmt, mangels Kenntnis des ganzen offenen Briefs nicht abschliessend beurteilt werden können, erwecken sie den Eindruck, dass das Gericht mit dem Durchschnittsleser punktuell etwas zu locker umgegangen sein könnte. Stellenweise wäre wohl auch eine andere Sichtweise möglich gewesen. Jedenfalls zeigen die Erwägungen des Bezirksgerichts zum Durchschnittsleser deutlich auf, über welchen immensen Ermessensspielraum ein Gericht verfügt, wenn es die Beurteilung von Äusserungen gemäss der bundesgerichtlichen Praxis «aus der Sicht des Durchschnittslesers» – einer reinen Rechtsfigur – vornimmt. Dabei ist die Frage, wie die Leserinnen und Leser bzw. die Mehrheit der Leserschaft eine Äusserung verstehen, im Grunde genommen eine Tatfrage, die einem Beweis – zum Beispiel durch demoskopische Umfragen – zugänglich ist. Dennoch behandelt das Bundesgericht den Eindruck und das Verständnis des Durchschnittslesers nicht als Tatsachenfeststellung, «sondern als Rechtsfrage bzw. als ihr gleichgestellte Folgerung aus der allgemeinen Lebenserfahrung» (BGer 5A_76/2018, E. 2) – eine Haltung, die im auffälligen Widerspruch zur Praxis des Bundesgerichts im Markenrecht steht. Dort bezeichnet das Bundesgericht ein demoskopisches Gutachten zur Frage, inwieweit das Publikum eine Warenform als Marke wahrnimmt, als das geeignetste Beweismittel zum Nachweis der Verkehrsdurchsetzung (BGE 130 III 328, S. 335).
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Ungeachtet dieser Problematik ist dem Ergebnis des Urteils des Bezirksgericht Zürich aus den folgenden Gründen zuzustimmen: In den öffentlichen Diskussionen über Paul Grüninger äusserte sich der Kläger immer wieder in völlig unsachlicher Art und Weise über Historiker, die seiner Sichtweise widersprachen. Er bezichtigte sie der «Verlogenheit» und warf ihnen vor, «Anhänger einer ‘Grüninger-Religion’» zu sein. Einzelnen Historikern unterstellte er Beihilfe zur Geschichtsfälschung, «plumpe Geschichtsfälschung», «Demonstration von Unwissen» und «Irreführung der Leserschaft». Zudem behauptete er, dass von den «Grüninger-Verteidigern kaltgestellt» werde, wer die «offizielle, unantastbare Version der Geschichte», wie sie auch im Spielfilm erzählt werde, in Frage stelle. Zu Recht hielt das Bezirksgericht dazu fest: « Wer in einer öffentlichen Diskussion unsachlich austeilt, wie der Kläger dies tut, hat sich auch eher gefallen zu lassen, dass ihm auf ähnliche Weise geantwortet wird. Es gilt insoweit das Prinzip: Wer austeilt, muss auch einstecken können» (E. VII 4.2.3, S. 69 f.). Damit hat das Bezirksgericht dem «Rahmen der Äusserungen» diejenige bedeutende Rolle zuerkannt, die ihm gemäss der ständigen Formel des Bundesgerichts zukommen muss (BGer 5A_456/2013, E. 2 mit Hinweisen).