Auf bekannten Pfaden, auf Neuland und auf Irrwegen
Entscheidübersicht Verfassungsrecht und EMRK: Medienrelevante Rechtsprechung 2019
Franz Zeller, Titularprofessor an der Universität Bern und Lehrbeauftragter für Medien- und Kommunikationsrecht an der Universität Basel
Inhaltsverzeichnis
I. Medien-, Meinungs-, Kunst- und Wirtschaftsfreiheit
1. Allgemeines N 3
2. Staatliche Eingriffe in grundrechtlich geschützte Kommunikation
A. Geltungsbereich: Welche Freiheitsrechte sind betroffen? N 4
B. Eingriff: Staatliche Schmälerung des grundrechtlichen Freiraums? N 7
C. Grundrechtsberechtigung: Befugnis zur Beschwerde gegen einen Eingriff N 16
3. Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK) N 17
4. Berechtigtes Beschränkungsziel (Art. 36 Abs. 2 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK) N 21
5. Primärer Eingriffszweck: Schutz privater Interessen N 17
A. Schutz des Ansehens N 23
B. Schwerpunkt: (Journalistische) Sorgfalt bei rufschädigenden Vorwürfen N 36
C. Schwerpunkt: Ansehensschutz bei Satire, Sarkasmus, Ironie und Humor N 46
D. Schutz privater Interessen bei Vorwürfen strafbaren Verhaltens N 43
E. Schutz der geschäftlichen Reputation von Marktteilnehmern N 50
F. Schutz der Privatsphäre vor Blossstellung (z.B. durch Abbildung) N 51
G. Schwere der Sanktion bei rechtswidrigen Vorwürfen N 57
6. Primärer Eingriffszweck: Schutz von Interessen der Allgemeinheit N 61
A. Schutz staatlicher Geheimnisse N 61
B. Aufrufe zu Diskriminierung, Intoleranz, Hass und Gewalt N 62
C. Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung von Völkermord N 64
D. Massnahmen zum Schutz von Sittlichkeit und Moral N 68
E. Schutz des religiösen Friedens und religiöser Empfindungen N 73
7. Notwendigkeit von Eingriffen wegen Straftaten bei der Recherche N 75
8. Redaktionsgeheimnis / Quellenschutz (Art. 17 Abs. 3 BV und Art. 10 EMRK) N 76
9. Staatliche Pflicht zur Gewährleistung freier Kommunikation (Art. 10 EMRK) N 80
II. Informationszugang für Medien und Allgemeinheit
1. Informationszugang gestützt auf die EMRK N 82
2. Informationszugang gestützt auf das BGÖ N 86
3. Informationszugang gestützt auf kantonales Recht N 89
4. Anspruch auf rechtsgleiche und willkürfreie amtliche Information (Art. 8 f. BV) N 93
5. Gerichtsöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 6 EMRK) N 94
A. Öffentlichkeit der Verhandlung N 94
B. Öffentliche Bekanntgabe des Entscheids N 97
6. Amtliche Pflicht zur Anonymisierung von Informationen N 98
III. Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens N 99
IV. Radio und Fernsehen
1. Redaktioneller Inhalt von Radio- und Fernsehprogrammen N 101
A. Bundesgerichtspraxis N 101
B. Rechtsprechung des EGMR N 105
2. Weitere Aspekte N 110
V. Verfassungsrechtliche Aspekte der Online-Kommunikation
1. Recht auf Zugang zu Online-Informationen N 111
2. Verantwortlichkeit für rechtswidrige Äusserungen N 112
A. Haftung für Links N 112
B. Haftung für Kommentare von Dritten N 113
3. Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten N 116
4. Entlassung nach Post auf Online-Plattform N 118
Einleitung
1
Im Berichtsjahr 2019 stellten sich sowohl dem Bundesgericht als auch dem EGMR verschiedene Fragen von grundlegender Bedeutung: Diese betrafen u.a. den privilegierten Zugang der Medien zu staatlichen Informationen, die Grenzen der Publikation von Personenbildern, die aktiven staatlichen Massnahmen zum Schutz bedrohter Journalistinnen und die Voraussetzungen für die Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten. Daneben zeigte sich in der Strassburger Praxis der Trend, den chronisch überlasteten Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von nebensächlichen Beschwerden zu den Grenzen freier Kommunikation zu entlasten. Punktuell gelang dies. In einem Schweizer Fall (Beschwerde der SRG gegen einen Entscheid der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen) verlor der EGMR allerdings die Orientierung.
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Die Berichterstattung zu den verfassungs- und menschenrechtlichen Fragen ergänzt die bereits erschienenen Jahresübersichten zur Rechtsprechung auf gesetzlicher Ebene (im Zivilrecht, Strafrecht, Programmrecht und dem BGÖ):
– Christiana Fountoulakis/Julien Francey, Aperçu de la jurisprudence fédérale, cantonale et internationale rendue durant l’année 2019 en matière de droit civil et de procédure civile en lien avec les médias, Medialex 2020/08.
– Oliver Sidler, Rechtsprechungsübersicht 2019 der unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI, Medialex 2020/05.
– Miriam Mazou, Morceaux choisis de jurisprudence pénale rendue durant l’année 2019 en lien avec les médias, Medialex 2020/03.
– Daniel Kämpfer/Annina Keller, Überblick über praxisrelevante Entscheide der Jahre 2018 und 2019 zum Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ), Medialex 2020/02.
I. Medien-, Meinungs-, Kunst- und Wirtschaftsfreiheit (Art. 16, 17, 21 und 27 BV; Art. 10 EMRK)
1. Allgemeines
3
Das schweizerische Verfassungsrecht garantiert die freie Kommunikation durch eine Reihe spezifischer Verfassungsbestimmungen, während sie die Europäische Menschenrechtskonvention im Rahmen einer einzigen Rechtsnorm schützt (Art. 10 EMRK). Im Einzelfall haben die Gerichte zu prüfen, ob sich eine bestimmte Äusserung im Geltungsbereich eines oder mehrerer bestimmter Grundrechte befindet und ob der Staat diesen geschützten Bereich geschmälert hat. Nur im Falle einer Grundrechtsbeschränkung sind die strengen Voraussetzungen von Art. 36 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK massgebend: Gesetzliche Grundlage, berechtigtes Eingriffsziel, Verhältnismässigkeit des Eingriffs.
2. Staatliche Eingriffe in grundrechtlich geschützte Kommunikation
A. Geltungsbereich: Welche Freiheitsrechte sind betroffen?
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Im BGer-Urteil 5A_801/2018 (Veganmania) vom 30.04.2019, E. 9.3.3 verneinte die II. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts, dass Facebook-Einträge einer Veganerin durch die Medienfreiheit (Art. 17 BV) geschützt sind. Wer als Privatperson nicht-journalistische Kommentare in Diskussionsforen verfasse, könne sich im Gegensatz zu Medienunternehmen nicht auf den Informationsauftrag der Presse berufen. Dieser fliesse aus der besonderen Bedeutung der Medien für das Funktionieren der demokratischen Gesellschaft.
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Kommentar: Das Urteil liegt auf der Linie der jüngeren bundesgerichtlichen Rechtsprechung, welche die Medienfreiheit im Onlinezeitalter schärfer zu umreissen versucht. Die Abgrenzung zu nicht-journalistischen Kommunikationsformen erleichtert die gezielte Privilegierung des Medienschaffens (etwa beim Quellenschutz oder beim Zugang akkreditierter Berichterstatter zu Gerichtsverhandlungen, von denen die Allgemeinheit ausgeschlossen ist). Zu warnen ist allerdings vor allzu kategorischen Schlussfolgerungen. Durch Art. 16 BV (allgemeine Meinungsfreiheit) geschützte Äusserungen sind nicht per se weniger wertvoll als durch die Medienfreiheit (Art. 17 BV) erfasste Publikationen. In der Abwägung mit entgegenstehenden Interessen (wie dem Persönlichkeitsrecht) verdienen auch nicht-journalistische Beiträge mitunter einen hohen Schutz. Es gibt durchaus Beiträge in Diskussionsforen, Blogs oder auf privaten (z.B. wissenschaftlichen) Websites, an denen ein erhebliches Erkenntnisinteresse der Allgemeinheit besteht. Dies wird durch die Strassburger Rechtsprechung untermauert: Im EGMR-Urteil „Rebechenko c. Russland“ N° 10257/17 vom 16.04.2019 entschied der Gerichtshof zugunsten eines YouTubers, der auf dem Videoportal die Vertreterin einer Nichtregierungsorganisation (NGO) kritisiert hatte. Der EGMR hielt fest, der durch die russische Justiz verurteilte Webvideoproduzent habe rund 2’000 Subscriber auf YouTube und sein Video sei von mehr als 80’000 Personen gesehen worden. Für die Güterabwägung seien daher die gleichen Grundsätze massgebend wie bei Publikationen in der Presse (§ 25): „In these circumstances, the interference must be examined on the basis of the same principles applied when assessing the role of a free press in ensuring the proper functioning of a democratic society.“
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Im EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Telecompaniya Impuls, TOV c. Ukraine“ (Kabelnetzkonzession) N° 51010/10 vom 02.07.2019 hatte sich der Strassburger Gerichtshof mit der Beschwerde eines lizenzierten Kabelnetzbetreibers zu befassen, der sich gegen die ihm auferlegte Gebühr für die Lizenz und gegen amtliche Vorgaben über die Zusammenstellung des von ihm verbreiteten Pakets von Fernsehprogrammen wehrte. Die ukrainische Regierung bestritt nicht, dass die fragliche Verfügung neben der Eigentumsgarantie (Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK) auch die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) tangierte. Der Gerichtshof blieb aber letztlich eine klare Antwort auf die Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 10 EMRK schuldig. Er begnügte sich mit der vorsichtigen Formulierung, er beurteile die Beschwerde in der Annahme, die beiden Konventionsgarantien seien beschränkt worden (§ 52). Siehe dazu auch hinten Rn 110.
B. Eingriff: Staatliche Schmälerung des grundrechtlichen Freiraums?
a) Wird das Grundrecht überhaupt beschränkt?
7
Auch im Berichtsjahr ging der EGMR verschiedentlich von einem staatlichen Eingriff in Art. 10 EMRK aus, obwohl es im nationalen Verfahren letztlich zu keinem Schuldspruch gekommen war. Im EGMR-Urteil „Ali Gürbüz c. Türkei“ N° 52497/08 vom 12.03.2019 bejahte der Gerichtshof eine Beschränkung der Meinungsfreiheit des Eigentümers einer Tageszeitung, der nach Publikationen über die PKK in erster Instanz wegen Verletzung des Anti-Terrorgesetzes verurteilt worden war. Die Schuldsprüche wurden letztlich aufgehoben, dennoch sei Art. 10 EMRK tangiert. Die systematische Verfolgung auch geringfügiger Artikel konnte laut EGMR einen „chilling effect“ haben. Zudem hatten die Verfahren übermässig lange gedauert (zwischen fünf und sieben Jahre).
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Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft u.a. c. Schweiz“ (SRF Puls: Botox) N° 68995/13 vom 05.12.2019 verneinte, dass ein Entscheid der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) die Meinungsfreiheit der SRG beschränkt hat. Der Gerichtshof prüfte gar nicht erst, ob dieses Vorgehen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war (Art. 10 Abs. 2 EMRK), denn die Beschwerde der SRG scheiterte bereits daran, dass ihre Meinungsfreiheit gar nicht tangiert sei. Der EGMR hielt fest, die Strassburger Praxis gehe zwar von einem sehr weiten Verständnis des Eingriffs in die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) aus. Das Vorliegen einer Beschränkung sei aber eng verknüpft mit der Gefahr einer Abschreckungswirkung („chilling effect“). Ein bloss hypothetisches Risiko vermöge nicht zu genügen. Insgesamt habe der vom Bundesgericht bestätigte UBI-Entscheid keine nennenswerten praktischen oder rechtlichen Folgen für die SRG. Mangels einer Beschränkung bezeichnete eine Mehrheit der 3. EGMR-Kammer die Beschwerde als offensichtlich unbegründet (Art. 35 Abs. 3a und 4 EMRK). Ausführlich zu diesem Entscheid hinten Rn 105 ff.
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Kommentar: Dieser Zulässigkeitsentscheid zeugt von einem mangelnden Verständnis für das schweizerische Verfahren der Programmaufsicht. Dieses zielt gerade darauf ab, dass die rechtlich verbindlichen Entscheide der UBI praktische Folgen haben und von den gerügten Programmveranstaltern respektiert werden (vgl. dazu ausführlich hinten IV/1, Rn 101 ff.). Mit anderen Worten ist es der Zweck der UBI-Entscheide, den grundrechtlich geschützten Freiraum des betroffenen Veranstalters und das Anliegen der freien Meinungsbildung des Publikums gegeneinander abzuwägen. Dass dabei das Grundrecht des Veranstalters zuweilen eingeschränkt wird, ist unausweichlich.» Dass die 3. Kammer den Irrweg über die fehlende Grundrechtsbeschränkung gewählt hat, verwundert nicht zuletzt deshalb, weil sie das gleiche (problematische) Ergebnis auch mit einer anderen, schlüssigeren Begründungslinie hätte erreichen können: Sie hätte sich auf die Frage konzentrieren können, ob der UBI-Entscheid der SRG einen signifikanten Nachteil (Art. 35 Abs. 3 Bst. b EMRK) verursachte. Es lässt sich lediglich hoffen, dass der – nicht einstimmig gefällte – Entscheid als wenig durchdachter Ausreisser in Vergessenheit gerät und in Strassburg keine Präjudizwirkung zu entfalten vermag.
b) Verursacht die Grundrechtsbeschränkung einen erheblichen Nachteil (Art. 35 Abs. 3 Bst. b EMRK)?
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Selbst wenn der Gerichtshof eine Beschränkung von Art. 10 EMRK bejaht, kann die Individualbeschwerde in Strassburg an einer prozessualen Hürde scheitern: Nach Art. 35 Abs. 3 Bst. b der EMRK erklärt der EGMR Beschwerden für unzulässig, „wenn er der Ansicht ist, dass dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist“. Mit anderen Worten ist der staatliche Eingriff in solchen Fällen zwar so erheblich, dass er die Meinungsfreiheit beschränkt. Seine praktischen Folgen sind aber zu wenig signifikant für eine Beurteilung durch den Strassburger Gerichtshof. Der EGMR verweist auf den Grundsatz „de minimis non curat praetor“. Letztlich soll sich der überlastete Gerichtshof nicht (mehr) mit Lappalien befassen müssen.
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Kommentar: Am Erfordernis eines signifikanten Nachteils sind auch schon Beschwerden aus der Schweiz gescheitert. So erklärte ein EGMR-Einzelrichter die Beschwerde N°46969/13 eines verurteilten Journalisten am 06.10.2016 für unzulässig. Sie betraf eine Busse von 400 Franken wegen der Veröffentlichung von Ausschnitten eines geheimen Kommissionsprotokolls (Art. 293 StGB) in der NZZ am Sonntag („Schelte für den Bundesanwalt“), welche das Bundesgericht im Urteil 6B_186/2012 vom 11.01.2013 bestätigt hatte. Die Angelegenheit zeigt, dass der EGMR selbst bei strafrechtlichen Schuldsprüchen gegen Medienschaffende nicht ohne Weiteres von einem wesentlichen Nachteil ausgeht. Allgemein drängt sich der Eindruck auf, dass die verfahrensrechtlichen Hürden in Strassburg – und damit auch die Anforderungen an eine detaillierte Begründung der Beschwerden – immer höher werden.
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(Auch) im Berichtsjahr stützte sich der EGMR mehrmals auf Art. 35 Abs. 3 Bst. b EMRK und sprach dem staatlichen Vorgehen einen signifikanten Nachteil für den Beschwerdeführer ab. Exemplarisch seien zwei Fälle herausgegriffen.
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Einen erheblichen Nachteil verneinte der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Artemenko c. Ukraine“ N° 54574/10 vom 14.05.2019. Eine Journalistin war nach einem angriffigen Bericht über den Ehrenpräsidenten eines Fussballclubs zur Publikation einer Klarstellung verpflichtet worden. Eine strafrechtliche Verurteilung oder eine zivilrechtliche Entschädigung hatte der Bericht nicht zur Folge. Die Klarstellung betraf nach den Worten des EGMR weder das Ergebnis ihrer Recherche noch ihre zentralen Argumente. Die vom ukrainischen Gericht angeordnete Massnahme habe keinen „chilling effect“, denn sie betreffe bloss eine Nebensächlichkeit („off-hand comment on a secondary issue“).
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Der Zulässigkeitsentscheid „Savelyev c. Russland“ N° 42982/08 vom 29.05.2019 verneinte einen signifikanten Nachteil für einen sanktionierten Politiker. Er war nach einem u.a. im Internet veröffentlichten Brief zum Widerruf seiner Kritik an einem Behördenvertreter, zur Bezahlung einer Entschädigung von umgerechnet rund 10 Euro sowie zu Gerichtskosten von ca. 20 Euros verurteilt worden.
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Als Beispiel für einen vom Staat bestrittenen, vom EGMR aber bejahten wesentlichen Nachteil lässt sich das EGMR-Urteil „Novaya Gazeta & Borodyanskiy c. Russland“ N°42113/09 vom 29.10.2019 anführen. Nach einem Zeitungsartikel über den luxuriösen Lebenswandel des Gouverneurs von Omsk verurteilte die russische Justiz neben der Medieninhaberin auch einen Redaktor zu einer Entschädigung. Russland argumentierte, die Entschädigung habe den Redaktor nicht signifikant benachteiligt, denn der Betrag sei durch die Medieninhaberin beglichen worden. Der EGMR verwarf diesen Einwand: Die Verurteilung sei zur ungeteilten Hand erfolgt und habe einen „chilling effect“ für den solidarisch haftenden Redaktor gehabt. Folglich prüfte der Gerichtshof die Grundrechtsbeschränkung in der Sache und bezeichnete sie als unverhältnismässig (Art. 10 Abs. 2 EMRK): Die russische Justiz hatte eine Güterabwägung unterlassen und auch nicht geprüft, ob der Journalist Tatsachenbehauptungen oder Werturteile geäussert hatte.
C. Grundrechtsberechtigung: Befugnis zur Beschwerde gegen einen Eingriff
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Im Berichtsjahr gab es dazu keine erwähnenswerten Entscheide.
3. Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)
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Nach ständiger Rechtsprechung bedingt eine Beschränkung der Meinungsfreiheit u.a. eine ausreichend präzise formulierte Gesetzesbestimmung, welche eine nach den Umständen vernünftige Vorhersehbarkeit staatlichen Einschreitens ermöglicht. Diese Anforderung dient auch dem Schutz vor hoheitlicher Willkür.
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Die geforderte Bestimmtheit fehlte beispielsweise dem weit offen formulierten Verbot der kriminellen Organisation in Art. 220 Abs. 7 des türkischen Strafgesetzbuchs, wie das EGMR-Urteil „Das c. Türkei“ N° 36909/07 vom 02.07.2019 festhielt. Die Vorschrift biete keine ausreichende Garantie gegen willkürliche strafrechtliche Verfolgungen. Der Gerichtshof bejahte deshalb einstimmig die Verletzung der Meinungsfreiheit eines kurdischen Aktivisten, bei dem die Strafverfolgungsbehörden Unterschriftenlisten für eine Petition zur Freilassung des inhaftierten PKK-Führers Öcalan gefunden hatten.
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Beim EGMR-Urteil „Soares Gomes da Cruz c. Portugal“ N° 8114/14 vom 24.09.2019 ging es u.a. um einen Schuldspruch wegen Beleidigung des Stadtrats. Ehrverletzende Werturteile gegen juristische Personen oder öffentliche Institutionen stellt Art. 187 des portugiesischen Strafgesetzbuchs gemäss der portugiesischen Gerichtspraxis aber gar nicht unter Strafe (§ 55). Der Beschränkung freier Kommunikation fehlte somit die durch Art. 10 EMRK verlangte gesetzliche Grundlage.
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Im Grundsatz ist es Sache der Gerichte des betroffenen EMRK-Vertragsstaats, die nationalen Rechtsnormen auszulegen. Der Gerichtshof auferlegt sich Zurückhaltung und schreitet laut EGMR-Urteil „Cangi c. Türkei“ (Herausgabe Sitzungsprotokoll) N° 24973/15 vom 29.01.2020, § 42 nur ein, wenn die Auslegung des Gesetzes willkürlich, offenkundig unvernünftig oder in ihren Auswirkungen konventionswidrig ist. Der Fall Cangi zeigt, dass der Gerichtshof nicht nur interveniert, wenn ein Staat Massnahmen gegen rechtswidrige Publikationen auf eine ungenügende gesetzliche Grundlage stützt. Der EGMR schreitet auch ein, wenn die Behörden die Herausgabe amtlicher Informationen ohne ausreichende gesetzliche Grundlage verweigern. Mit anderen Worten müssen auch Beschränkungen des Informationszugangs auf einem genügenden Fundament im nationalen Gesetzesrecht beruhen (vgl. zu diesem Urteil auch hinten II/1, Rn 84).
4. Berechtigtes Beschränkungsziel (Art. 36 Abs. 2 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)
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Art. 10 Abs. 2 listet die zulässigen Zwecke für staatliche Beschränkungen freier Kommunikation auf. Die Formulierung ist so breit, dass der Gerichtshof bisher kaum Schwierigkeiten hatte, die staatlichen Beschränkungen freier Kommunikation einem berechtigten Beschränkungsziel zuzuordnen. Vereinzelte Ausnahmen bestätigen die Regel.
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Dass der berechtigte Eingriffszweck in einzelnen Fällen zweifelhaft sein kann, belegt etwa das EGMR-Urteil „Önal c. Türkei (Nr. 2)“ N° 44982/07 vom 02.07.2019. Es betraf die Busse gegen einen Buchverleger wegen Beleidigung des Präsidenten und Herabwürdigung der Republik (Art. 158 und 159 des früheren türkischen Strafgesetzbuchs). Nach Auffassung der Mehrheit der 2. EGMR-Kammer diente diese der öffentlichen und der nationalen Sicherheit (wobei die Türkei diese berechtigten Ziele mit dem unverhältnismässigen Mittel des Strafrechts verfolgt hatte). In seiner Sondermeinung hielt Richter Pavli fest, angesichts der Abschreckungswirkung der fraglichen, viel zu weit formulierten Vorschriften verbiete sich die Frage nach ihrem legitimen Eingriffszweck.
5. Primärer Eingriffszweck: Schutz privater Interessen
A. Schutz des Ansehens
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Wie üblich dominierten auch im Berichtsjahr Streitigkeiten um den Schutz des guten Rufs die konventions- und verfassungsrechtliche Rechtsprechung zur freien Kommunikation.
a) Vorwürfe im politischen Zusammenhang
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Äusserungen im Wahlkampf sind geradezu der Prototyp besonders schutzwürdiger Kommunikation, die auch ungeschminkte Kritik an den persönlichen Eigenschaften der politischen Akteure umfassen darf. Zwar ist der rechtliche Freiraum auch in dieser Konstellation nicht unbeschränkt, doch verneint die Gerichtspraxis bei pointierten persönlichen Angriffen auf Politikerinnen und Politiker im Zweifelsfall eine Ehrverletzung. Ein Beleg dafür ist das BGer-Urteil 6B_365/2018 („Für wenige statt für alle“) vom 08.10.2019. Nach einer sarkastischen Aufkleberaktion, die sich gegen die Wiederwahl einer SP-Nationalrätin richtete, entschieden zunächst das bernische Obergericht und danach das Bundesgericht gegen die von der Politikerin beantragte Bestrafung wegen übler Nachrede (Art. 173 StGB). Der an die Nationalrätin gerichtete Vorwurf der Doppelmoral tangiere ihre menschlich-sittliche Ehre nicht in strafrechtlich relevanter Weise. Die Vorwürfe zielten auf die Politikerin und nicht auf ihre Geltung als Privatperson. In diesem Zusammenhang war für das Bundesgericht wichtig, dass der für die Aktion Verantwortliche seine Identität nicht verschleiert hatte. Deswegen konnte er sich auf die höchstrichterliche Rechtsprechung berufen, welche Ehrverletzungen in der politischen Debatte nur zurückhaltend bejaht (E. 4.6). Unter Hinweis auf BGE 128 IV 53 erinnerte das Bundesgericht daran, dass sich Kritiker nicht auf den besonderen Schutz für politisch motivierte Äusserungen berufen können, wenn sie ihre Identität verschleiern und sich hinter einer anonym geführten Kampagne verstecken (E. 4.2).
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Kommentar: Die Urteilsbegründung des Bundesgerichts scheint den Grundsatz zu untermauern, dass anonyme Angriffe auf die Person auch dann keinen intensiveren Schutz verdienen, wenn sie vor dem Hintergrund einer politischen Kontroverse geführt werden. Dies geht nach der hier vertretenen Auffassung zu weit. Fraglos sind Auseinandersetzungen mit offenem Visier in einer demokratischen Gesellschaft erwünscht. Gerade wer in den Wahlkampf steigt, muss aber auch mit hinterhältiger Kritik rechnen. Anonyme Polemik auf politischem Parkett mag zwar an einem strengeren Massstab gemessen werden als offene Kritik. Solange die anonymen Vorwürfe aber auf die politische Tätigkeit (und nicht auf das Privatleben) zielen, ist auch bei ihnen eine gewisse Zurückhaltung beim Einsatz des strafrechtlichen Instrumentariums angezeigt.
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Ehrverletzungsstreitigkeiten im politischen Milieu gehörten auch im Berichtsjahr zum Kerngeschäft des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. So schützte er im EGMR-Urteil „Savenko (Limonov) c. Russland“ (Bürgermeister) N° 29088/08 vom 26.11.2019 in einer Live-Sendung am Radio geäusserte Kritik am Moskauer Bürgermeister. Der Gerichtshof widersprach insbesondere der Auffassung der russischen Justiz, wonach der Bürgermeister einen höheren Ehrenschutz verdiene als Normalsterbliche. Die Vorwürfe des verurteilten Oppositionspolitikers beruhten auf einer gewissen Tatsachengrundlage. Zudem hatte die Höhe der dem Bürgermeister zugesprochenen Entschädigung (rund 15‘000 Franken) und das wegen der unvollständigen Zahlung ausgesprochene Ausreiseverbot einen „chilling effect“.
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Als public figure ein höheres Mass an Toleranz gegenüber scharfer Kritik zeigen muss gemäss EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Libicki c. Polen“ (Ex-Parlamentarier) N° 74002/13 vom 22.10.2019 ein früherer Abgeordneter des polnischen Parlaments, dem eine Zeitung gestützt auf Informationen des Instituts für Nationales Gedenken Kollaboration mit dem kommunistischen Staatssicherheitsdienst vorgeworfen hatte. Die Werturteile beruhten auf einer genügenden Faktenbasis.
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Selbst deftige Formulierungen dürfen nicht ungeachtet des (politischen) Kontexts einer Äusserung sanktioniert werden. Diesen etablierten Grundsatz unterstrich etwa das EMGR-Urteil „Antunes Emídio c. Portugal“ (Staatssekretär) N° 75637/13 vom 24.09.2019. Im fraglichen Zusammenhang zulässig war die journalistische Abqualifizierung eines Staatssekretärs als „idiotisch“. Es handelte sich nicht um eine grundlose persönliche Beleidigung, sondern eine Kritik an der Politik der sozialistischen Partei, welche nach Auffassung des Journalisten alle fähigen Regierungsmitglieder durch schlechte ersetzt hatte.
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Faktisch unzutreffende Vorwürfe müssen auch hochrangige Politiker nicht hinnehmen. Im Zulässigkeitsentscheid „Campion c. Frankreich“ (Korruptionsvorwurf gegen Strauss-Kahn) N° 35255/17 vom 12.02.2019 akzeptierte der Gerichtshof einen strafrechtlichen Schuldspruch gegen den Schausteller Campion, der dem Politiker Dominique Strauss-Kahn in einem Zeitungsinterview Bestechlichkeit bei der Übernahme des Vergnügungsparks Mirapolis vorgeworfen hatte. Der Schausteller konnte keinerlei Belege für seine Behauptungen vorweisen. Nach einstimmiger Auffassung des EGMR fehlte eine solide und überzeugende Tatsachengrundlage für Campions gravierende Vorwürfe. Seine Beschwerde sei daher offensichtlich unbegründet.
b) Vorwürfe gegen andere öffentlich exponierte Personen
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Nicht nur amtierende Politiker müssen unerbittliche Kritik ihres Verhaltens dulden. In der Öffentlichkeit exponieren sich z.B. auch Prominente aus Sport, Showgeschäft oder der Wissenschaft. Nicht alle in diesen Bereichen tätigen Personen lassen sich allerdings als „public figures“ bezeichnen, welche sich bewusst öffentlicher Beobachtung aussetzen.
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Zu Unrecht sanktionierte die russische Ziviljustiz die abwertenden Äusserungen eines YouTubers gegen eine NGO-Vertreterin. Gemäss dem EGMR-Urteil „Rebechenko c. Russland“ (Menschenrechtlerin) N° 10257/17 vom 16.04.2019 respektierte die in einem Video vorgebrachte Kritik die für Werturteile erlaubten Grenzen zulässiger Übertreibung. Für den Beurteilungsmassstab spielte auch eine Rolle, dass die angegriffene Menschenrechtlerin als Vorsteherin eines Stadtbezirks zur Gruppe der Politikerinnen gehörte, welche mehr Kritik auszuhalten hat. Die Kritik zielte nicht auf das Privatleben, sondern betraf eine politische Thematik (die Beziehungen von Russland zur Ukraine) von allgemeinem Interesse.
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Keine public figure war laut EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Valerian Stan c. Rumänien“ (Dozent) N° 29497/13 vom 17.12.2019 ein Universitätsdozent, dem in einer Wochenzeitschrift ohne ausreichende Tatsachengrundlage vorgeworfen wurde, er lasse sich von westlichen Staatskanzleien zahlreiche Stipendien und Reisen finanzieren. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe wurden zu Recht sanktioniert.
c) Rufschädigende Vorwürfe gegen Unternehmen und ihre Angestellten
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Innerhalb der Grenzen des Erlaubten bewegte sich die heftige Kritik von Gewerkschaftern an einer Spitalbetreiberin. Das BGer-Urteil 6B_1020/2018 (Arbeitskonflikt) vom 01.07.2019 erinnerte daran, dass juristische Personen im Gegensatz zu Behörden und öffentlich-rechtlichen Körperschaften durch das Ehrverletzungsrecht geschützt sind (E. 5.1.1). Es korrigierte aber die Schuldsprüche der Neuenburger Strafjustiz, welche verschiedene bissige Formulierungen auf Flugblättern als üble Nachrede (Art. 173 StGB) eingestuft hatte. Die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts erinnerte daran, dass bei vermeintlich rufschädigenden Vorwürfen stets der Kontext und die Wirkung im Auge zu behalten sind. Sie betonte, dass es selbst für heftige Polemik im Arbeitskampf einen grossen Freiraum gebe. Dies entspreche auch der Strassburger Rechtsprechung (E. 5.1.3), etwa dem Urteil der Grossen EGMR-Kammer im Fall „Palomo Sanchez u.a. c. Spanien“ N° 28955/06 vom 12.09.2011, § 56.
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Kommentar: Das Bundesgericht verweist in seiner Begründung auf eine wichtige Differenzierung in § 67des zitierten EGMR-Urteils „Palomo Sanchez u.a. c. Spanien“: Auch im gewerkschaftlichen Zusammenhang ist zwischen (mitunter aggressiver) Kritik und grundlosen persönlichen Beleidigungen zu unterscheiden. Im spanischen Fall entschied der Gerichtshof letztlich gegen die kritisierenden Gewerkschafter, denn sie hatten einzelne Mitarbeiter des kritisierten spanischen Unternehmens vulgär beleidigt und damit die grundsätzlich weit gesteckten Limiten zulässiger Übertreibung gesprengt. Im vorliegenden Fall aus dem Kanton Neuenburg lagen die Dinge anders. Die umstrittenen Flugblätter betrafen den Kern gewerkschaftlicher Anliegen (z.B. den erbitterten Kampf für bessere Arbeitsbedingungen). Zwar nahmen die Gewerkschafter die Spitalverantwortlichen schonungslos aufs Korn. Ihre hitzige Kritik zielte aber nicht unter die Gürtellinie einzelner Exponenten. In einer solchen Konstellation greift der Grundsatz, dass es im Arbeitskampf auch Raum für Übertreibung und Polemik geben muss.
d) Rufschädigende Vorwürfe gegen besonders geschützte Personen
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Bestimmten verletzlichen Personengruppen hat der Staat einen intensiveren Schutz ihrer körperlichen und psychischen Integrität zu gewähren. Das BGer-Urteil 6B_673/2019 (Homophobe Beschimpfung) vom 31.10.2019 erinnerte unter Hinweis auf die Strassburger Rechtsprechung zu Art. 8 und Art. 14 EMRK an die staatliche Pflicht, diskriminierenden Beleidigungen entschlossen zu begegnen. Ehrverletzungen wegen der sexuellen Orientierung seien nicht weniger gravierend als solche wegen Rasse, Herkunft oder Hautfarbe (E. 3.1.1). Das Bundesgericht hiess die Beschwerde eines homosexuellen Kellners gut, dessen Strafantrag wegen Beschimpfungen (Art. 177 StGB) und Drohungen (Art. 180 StGB) am Arbeitsplatz die Genfer Staatsanwaltschaft mit einer Nichtanhandnahmeverfügung (Art. 301 StPO) beantwortet hatte.
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Das EGMR-Urteil „Lewit c. Österreich“ (KZ-Überlebender) N° 4782/18 vom 10.10.2019 betraf den Kampf eines KZ-Überlebenden gegen eine ehrverletzende Veröffentlichung in der rechtsgerichteten Zeitschrift „Aula“. Sie hatte den 1945 aus dem Konzentrationslager Mauthausen Befreiten vorgeworfen, „raubend und plündernd, mordend und schändend“ das Land geplagt zu haben. Der 1923 geborene Aba Lewit fühlte sich zusammen mit neun anderen Holocaust-Überlebenden persönlich diffamiert und stellte einen Antrag auf Entschädigung, wie sie § 6 des österreichischen Mediengesetzes den von übler Nachrede und Beleidigung Betroffenen gegen den Medieninhaber einräumt. Die zuständigen Strafgerichte verneinten Lewits Antragslegitimation, denn das Kollektiv der rund 20’000 Mauthausen-Befreiten sei so gross gewesen, dass eine persönliche Betroffenheit fehle. Dadurch verletzte Österreich seine menschenrechtliche Pflicht zum Schutz des Anspruchs auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK). Die nationale Justiz liess ausser Acht, dass nur noch sehr wenige Mitglieder der angegriffenen Gruppe von KZ-Befreiten am Leben sind. Sie hatte es unterlassen, die Frage der Rechtfertigung des Eingriffs in Aba Lewits Recht auf Achtung des Privatlebens umfassend zu untersuchen. Nicht gelten liess der Gerichtshof das Argument, der eingeklagte Artikel vom Februar 2016 habe lediglich die Vorwürfe einer „Aula“-Publikation vom Sommer 2015 wiederholt. Dieser Einwand schien dem EGMR ungenügend begründet, zumal der Kontext und der Zweck der beiden Artikel sehr unterschiedlich gewesen seien.
B. Schwerpunkt: (Journalistische) Sorgfalt bei rufschädigenden Vorwürfen
36
Im Berichtsjahr beschäftigten sich die Gerichte wiederholt mit der Rechtsfrage, ob die gebotene Sorgfalt bei rufschädigenden Tatsachenbehauptungen gewahrt wurde.
37
Einen krassen Verstoss gegen die beruflichen Sorgfaltspflichten bejahte bspw. das EGMR-Urteil „Sallusti c. Italien“ (Abtreibung) N° 22350/13 vom 07.03.2019. Die Tageszeitung „Libero“ berichtete 2007 über eine Dreizehnjährige, welche durch ihre Eltern und den Vormundschaftsrichter zum Schwangerschaftsabbruch gezwungen worden sei. Der von einem unbekannten Autor unter dem Pseudonym „Dreyfus“ publizierte Vorwurf war falsch, denn das schwangere Mädchen hatte sich selber für die Abtreibung entschieden. Dies hatten zahlreiche Medien bereits am Vortag der „Libero“-Publikation klargestellt. Der EGMR teilte die Auffassung der italienischen Strafjustiz, dass es sich um eine gravierende Ehrverletzung und einen schweren Einbruch in die Privatsphäre aller Beteiligten handelte. Der Chefredaktor habe seine medienethische Pflicht zur Verifizierung der Vorwürfe missachtet. Der Gerichtshof verwarf auch den Einwand des Chefredaktors, er habe den Inhalt des fraglichen Artikels nicht gekannt und sei am Tag der Publikation nicht in der Redaktion gewesen. Dies vermochte den Chefredaktor nach einhelliger Auffassung des Gerichtshofs nicht von seiner Überwachungspflicht zu entbinden. Der Schuldspruch gegen den Chefredaktor respektierte daher im Grundsatz die Medienfreiheit (Art. 10 EMRK). Er schoss allerdings in seiner Schwere (14monatige Freiheitsstrafe) weit über das Ziel hinaus (vgl. dazu hinten I/5/G, Rn 58).
38
Kommentar: Der Gerichtshof verweist in seiner Begründung auf das Präjudiz im EGMR-Urteil „Belpietro c. Italien” N° 43612/10 vom 24.09.2013 (zusammengefasst und besprochen in medialex 2013, S. 180f.). Damals hatte der EGMR festgehalten, der Chefredaktor habe den Wahrheitsgehalt eines Artikels auch dann zu prüfen, wenn er von einem Parlamentarier geschrieben worden sei. Eine pflichtwidrige Unsorgfalt des Chefredaktors kann mithin strafrechtliche Konsequenzen haben (nach italienischem Recht wegen „omesso controllo“ gemäss Art. 57 Strafgesetzbuch, nach schweizerischem Recht wegen schuldhafter Nichtverhinderung einer strafbaren Publikation gemäss Art. 322bis StGB). Dass die italienische Strafjustiz und danach auch der EGMR dem renommierten Chefredaktor Alessandro Sallusti schwere Versäumnisse anlasteten, erscheint nachvollziehbar. Seine in § 36 der Urteilsbegründung zusammengefassten Argumente vermögen nicht zu überzeugen. Die Abwesenheit am Publikationstag vermag nur dann eine Straflosigkeit zu rechtfertigen, wenn der Chefredaktor für eine wirksame Stellvertretung besorgt war. Merkwürdig erscheint sein Vorwurf, die Staatsanwaltschaft habe keinerlei Schritte unternommen, um die Identität des anonymen Autors herauszufinden. Befürwortet ein Chefredaktor eine derartige, medienethisch fragwürdige Identifizierung des Verfassers, so kann er das Geheimnis selber lüften. Unter dem Strich erscheint es plausibel, dass der (Chef-) Redaktor in einer solchen Konstellation zur Rechenschaft gezogen wird. Dies ist allerdings kein Freipass für drakonische Sanktionen wie eine längere Freiheitsstrafe. In diesem Punkt verletzte Italien die EMRK (vgl. dazu hinten I/5/G, Rn 58 f.).
39
Im EGMR-Urteil „Prunea c. Rumänien“ (Vorwürfe gegen Kandidaten) N° 47881/11 vom 08.01.2019 bestätigte der Gerichtshof die Verurteilung eines Publizisten. Er hatte einen Kandidaten für die Parlamentswahl in einer Zeitung als Hochstapler bezeichnet, denn der Kandidat habe ein Darlehen nicht zurückgezahlt und hoffe nun auf die parlamentarische Immunität. Nach Auffassung des EGMR hatte der Publizist den privaten Rechtsstreit unter Unternehmern ohne ausreichende Gründe an die Öffentlichkeit gezerrt, ihn aus einseitiger Optik geschildert und dabei die nötige Sorgfalt vermissen lassen. Mit 5:2 Stimmen akzeptierte der Gerichtshof die zivilrechtliche Verurteilung des Publizisten. Die Gerichtsminderheit kritisierte in ihrer abweichenden Meinung, die rumänische Ziviljustiz habe den Gesamtkontext der Äusserung unzureichend beachtet. Der Vorwurf habe durchaus eine genügende Tatsachengrundlage im hängigen Rechtsstreit um das Darlehen gehabt.
40
Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Tosheva c. Bulgarien“ (Vorwurf der Fehldiagnose) N° 32638/11 vom 04.12.2019 betraf die Recherche der Chefredaktorin einer Lokalzeitung, welche zur Bezahlung von 5‘600 Euro Genugtuung verurteilt wurde. Sie hatte eine Ärztin wegen einer angeblich unzutreffenden Krebsdiagnose kritisiert (Schlagzeile: „Ärztin erschreckt Patienten mit fataler Diagnose“). Der vermeintliche Tumor auf dem Röntgenbild sei bloss der Schatten eines Muttermals gewesen. Der im bulgarischen Zivilprozess beigezogene gerichtliche Sachverständige attestierte der Ärztin jedoch, sie habe die ärztlichen Berufsregeln respektiert. Der EGMR war nicht überzeugt, dass an der Schilderung dieser Angelegenheit ein erhebliches öffentliches Interesse bestand. Es handle sich hier nicht um die Darstellung eines verbreiteten medizinischen Missstandes, sondern bloss um die Erörterung eines Einzelfalles, welcher wenig über die Qualität der gesundheitlichen Versorgung in Bulgarien aussagte (§ 24). Deswegen mass der Gerichtshof die verlangte journalistische Sorgfalt an einem eher strengen Massstab, dem die Chefredaktorin nicht zu genügen vermochte. Der EGMR bemängelte insbesondere, dass die Journalistin die Ärztin nicht mit den Vorwürfen konfrontiert hatte (unterlassene Anhörung – audiatur et altera pars; § 26). Der EGMR bezeichnete ihre Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet.
41
Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Golubenko c. Ukraine“ N° 46928/07 vom 12.03.2019 betraf einen kritischen Zeitungsartikel über eine nicht namentlich genannte, aber identifizierbare Abteilungsleiterin des Justizministeriums. Wegen unrichtiger Tatsachenbehauptungen verurteilte die ukrainische Ziviljustiz den Autor zum Widerruf seiner Vorwürfe und zu einer Entschädigung von umgerechnet rund 1’600 Franken. Es verblüffte den Gerichtshof, dass der Autor als erfahrener Anwalt und Spezialist des von ihm beschriebenen Themas die von ihm publizierten Schlussfolgerungen gezogen hatte.
C. Schwerpunkt: Ansehensschutz bei Satire, Sarkasmus, Ironie und Humor
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Im Berichtsjahr keine erwähnenswerte Rechtsprechung.
D. Schutz privater Interessen bei Vorwürfen strafbaren Verhaltens
a) Unschuldsvermutung, Ansehensschutz und Recht auf einen fairen Prozess
43
Das BGer-Urteil 1B_509/2018 (Schweigegebot für Genfer Anwalt) vom 06.03.2019 betraf das im Kanton Genf geführte Strafverfahren gegen einen bekannten Islamforscher, den eine Frau im April 2018 wegen einer Sexualstraftat angezeigt hatte. Der Verdächtigte wehrte sich im Juni 2018 bei der Genfer Staatsanwaltschaft dagegen, dass der Anwalt der Frau den Medien ausführliche Auskünfte über die hängige Untersuchung gegeben habe. Er verlangte, dass dem Anwalt ein Schweigegebot über das Verfahren und die darin involvierten Personen auferlegt werde. Die gegen ihn geführte, tendenziöse Medienkampagne verletze die Unschuldsvermutung und die Ehre. Sie beeinträchtige auch den ordnungsgemässen Verfahrensverlauf. Die Staatsanwaltschaft lehnte das beantragte Schweigegebot im September ab. Dabei verletzte sie das rechtliche Gehör, weil sie dem Beschuldigten die Eingabe des Anwalts vom August vorenthalten hatte und er sich damit nicht zu seinen Argumenten hatte äussern können. Das Bundesgericht wies die Angelegenheit an die Genfer Vorinstanz zurück.
44
Medienberichte über Strafverfahren haben grundsätzlich anonymisiert zu erfolgen. An diesen Grundsatz erinnerte das italienischsprachige BGer-Urteil 5A_562/2018 (Namensnennung eines Tatverdächtigen) vom 22.07.2019 eine Tageszeitung. Sie publizierte den Vor- und Nachnamen eines tatverdächtigen Anwalts. Die Staatsanwaltschaft hatte 2012 gegen den Rechtsbeistand eines Unternehmens ein Strafverfahren eröffnet (das sie einige Monate später einstellte, was die Zeitung anschliessend ebenfalls vermeldete.) Die Identifizierung des in der breiten Öffentlichkeit unbekannten Anwalts verletzte dessen Persönlichkeitsrechte (Art. 28 ZGB), denn sie diente keinem konkreten öffentlichen Bedürfnis. Sie liess sich laut Bundesgericht auch nicht durch den Umstand rechtfertigen, dass besonders Neugierige durch die Konsultation früherer Medienberichte den Namen des Anwalts ausfindig machen konnten. Die II. zivilrechtliche Abteilung gab zu bedenken, dass die Namensnennung offensichtliche Gefahren für die professionelle Reputation des Anwalts barg (E. 4.2.3). Allerdings gehöre negative Publizität im Zusammenhang mit undurchsichtigen Aktivitäten von Mandanten in gewisser Hinsicht zum anwaltlichen Berufsrisiko. Der persönlichkeitsverletzenden Publikation fehlte deshalb die für das Zusprechen einer Genugtuungssumme (Art. 49 OR) erforderliche Schwere (E. 5.2.2).
45
Das EGMR-Urteil Urteil „Mityanin c. Russland“ (Zeitungsbericht über Tatverdächtigen) N° 11436/06 vom 07.05.2019 betraf neben der problematischen Publikation des Fotos (vgl. dazu hinten I/5F [Recht am eigenen Bild], Rn 51) auch einen heiklen Text über einen vorbestraften Mann, gegen den die russischen Behörden 2008 ein Verfahren wegen Gründung einer kriminellen Organisation eröffnet hatten. Der bebilderte Zeitungsartikel berichtete unter Namensnennung über seine Verhaftung. Seine Zivilklage gegen die Zeitung wurde abgewiesen. Der Gerichtshof verneinte, dass die Identifizierung einem „trial by media“ gleichkam. Er räumte ein, dass der Medienbericht den Verhafteten als Mitglied einer kriminellen Vereinigung bezeichnet hatte. Im vorherigen Absatz sei aber ausgeführt worden, Mityanin und andere Personen seien angeklagt. Zwar gab es damals noch keine Anklage, sondern bloss einen Tatverdacht. Die Formulierung sei jedoch eher umgangssprachlich als juristisch gemeint gewesen. In einer Gesamtbetrachtung könne der Zeitungsartikel vernünftigerweise so gelesen werden, dass der Verhaftete lediglich tatverdächtig war. Der Gerichtshof teilte auch die Auffassung der russischen Justiz, dass sich der Journalist in guten Treuen auf die Angaben der Behörden gestützt hatte. Mit 6:1 Stimmen verneinte der EGMR einen Verstoss gegen die staatliche Pflicht zum Schutz der Achtung von Mityanins Privatleben (Art. 8 EMRK). In seiner abweichenden Meinung hielt Richter De Gaetano fest, die Formulierung des Artikels sei zu weit gegangen. Für die gewöhnliche Leserschaft sei es extrem schwierig gewesen, die Nuancen des rechtlichen Kontexts zu erfassen. Hinsichtlich der Schwere des Tatverdachts habe der Journalist nicht sorgfältig genug formuliert.
b) Behördliche Äusserungen über identifizierte Tatverdächtige
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Die amtliche Kommunikation zu hängigen Strafverfahren führt immer wieder zu juristischen Auseinandersetzungen. In mehreren Fällen hatte sich der EGMR damit zu befassen, ob die Behörden mit ihren Äusserungen zu weit gingen und dadurch die Unschuldsvermutung verletzten.
47
Im EGMR-Urteil „Korban c. Ukraine“ N° 26744/16 vom 04.07.2019 ging es um einen inhaftierten Politiker. Behördliche Medienmitteilungen bezeichneten ihn als Anführer einer kriminellen Organisation, die in eine Reihe schwere Straftaten verwickelt sei. Die ukrainische Regierung argumentierte in Strassburg, die Behörden hätten die Öffentlichkeit lediglich über einen aufsehenerregenden Kriminalfall orientiert. Der EGMR erinnerte an seine etablierte Rechtsprechung, wonach Behördenvertreter niemanden als schuldig bezeichnen dürfen, bevor er gerichtlich verurteilt worden ist. Über Verdachtsgründe, Verhaftungen und Geständnisse dürften die Behörden zwar orientieren, doch sei eine diskrete und vorsichtige Wortwahl geboten. Vorliegend bestärkten die ukrainischen Behörden die Bevölkerung im Eindruck, der inhaftierte Politiker sei schuldig, noch bevor dies die Gerichte festgestellt hatten. Der Gerichtshof stellte einstimmig eine Verletzung der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) fest.
48
Das EGMR-Urteil „Maslarova c. Bulgarien“ N° 26966/10 vom 13.01.2019 betraf in den Medien wiedergegebene amtliche Äusserungen zum hängigen Strafverfahren gegen eine Ministerin, der Veruntreuung in Millionenhöhe vorgeworfen wurde. Am Tag nach Aufhebung ihrer Immunität hielt der Sprecher der Staatsanwaltschaft an einer Medienkonferenz unzweideutig fest, die Ministerin habe öffentliche Gelder abgezweigt. Dies verletzte die Unschuldsvermutung. Zu weit gingen auch die Äusserungen eines Parlamentariers in einem Zeitungsinterview. Er hatte die Vorgänge als Paradebeispiel für Korruption bezeichnet, was die Leserschaft als kategorische Bejahung der Strafbarkeit interpretieren konnte.
c) Berichterstattung nach abgeschlossenen Strafverfahren
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Keine nennenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
E. Schutz der geschäftlichen Reputation von Marktteilnehmern
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Richtet sich rabiate öffentliche Kritik gegen eine juristische Person, eine Vereinigung oder eine Institution, so mahnt der EGMR die nationalen Gerichte zu besonderer Zurückhaltung beim Einsatz des Ehrverletzungsrechts. Das EGMR-Urteil „Ciorhan c. Rumänien“ N° 49379/13 vom 03.12.2019 betraf in einem Zeitungsartikel publizierte, massive Vorwürfe angeblicher finanzieller Unregelmässigkeiten bei der nationalen Fischer- und Jägervereinigung. Der Gerichtshof unterstrich, dass die „Würde“ einer Institution nicht der menschlichen Würde entspreche und deshalb nicht den gleich umfangreichen rechtlichen Schutz beanspruchen könne. Ein besonders grosses öffentliches Interesse an der Aufdeckung allfälliger Missstände bestehe bei Unternehmen, die einen Service public anbieten (§ 32). Diesfalls ist für den Gerichtshof auch übertriebene Kritik akzeptabel – umso mehr, als sie vorliegend keinen wirtschaftlichen Schaden zur Folge hatte. Das Urteil der rumänischen Ziviljustiz (welche der Vereinigung eine Genugtuung von umgerechnet rund 1’400 Euro zugesprochen hatte) verstiess gegen Art. 10 EMRK.
F. Schutz der Privatsphäre vor Blossstellung (z.B. durch Abbildung)
a) Recht am eigenen Bild
51
Das vorne (I/5/D/a, Rn 45) erwähnte EGMR-Urteil Urteil „Mityanin c. Russland“ (Zeitungsbericht über Tatverdächtigen) N° 11436/06 vom 07.05.2019 betraf neben der schriftlichen Formulierung auch die Abbildung einer Fotografie, welche die Zeitung ohne die Einwilligung des namentlich genannten Tatverdächtigen publiziert hatte. Für den Gerichtshof war klar, dass er keine public figure war. Habe die Veröffentlichung des Bildes im Kontext eines hängigen Strafverfahrens wie hier keinen eigenständigen Informationswert, so brauche es zwingende Gründe („compelling reasons“) für den Eingriff in das Privatleben des Abgebildeten (§ 110). Nach den Ausführungen der russischen Behörden diente die Publikation in der Zeitung dem öffentlichen Interesse an der Aufklärung von Straftaten, da sie mögliche Augenzeugen zu Aussagen über die fraglichen oder über mögliche weitere Delikte motivieren konnte. Dies schien 6 von 7 EGMR-Mitgliedern plausibel. In seiner abweichenden Meinung kritisierte der maltesische Richter De Gaetano diese Vermutung hingegen als komplett unbegründete Hypothese, denn der Medienbericht habe nicht einmal einen Zeugenaufruf enthalten.
52
Kommentar: Auf den ersten Blick spricht viel für die Dissenting Opinion des überstimmten Richters Vincent De Gaetano. Die Urteilsbegründung erweckt den Eindruck, die Mehrheit der 3. EGMR-Kammer habe sich die Sache etwas einfach gemacht. Genügt der vage Hinweis auf theoretisch mögliche Zeugen für die Publikation von Personenbildern in Massenmedien, so könnten wohl sehr viele Fotos von Tatverdächtigen publiziert werden. Letztlich wären es so viele Bilder, dass die vom EGMR verlangten zwingenden Gründe für die Veröffentlichung zur Leerformel zu verkümmern drohen. Man mag zwar darüber streiten, ob die Bildpublikation in solchen Fällen stets einen förmlichen Zeugenaufruf voraussetzt. Zu verlangen sind aber zumindest konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich die Publikation dazu eignet, einen erheblichen Beitrag zur Aufklärung gewichtiger Straftaten zu leisten.
53
Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Vučina c. Kroatien“ (Falsche Bildlegende) N° 58955/13 vom 24.09.2019 betraf die Veröffentlichung der kleinformatigen Fotografie einer an einem Popkonzert applaudierenden Frau in der Lifestyle-Zeitschrift „Gloria“. Die Bildlegende bezeichnete die abgebildete Frau fälschlicherweise als Gattin des Bürgermeisters von Split. Die Zeitschrift verweigerte eine Richtigstellung und eine Entschuldigung. Die Entschädigungsklage wies die kroatische Ziviljustiz ab. Der EGMR akzeptierte dies und verneinte einstimmig eine Verletzung der staatlichen Pflicht, Massnahmen zum Schutz des Privatlebens (Art. 8 EMRK) zu ergreifen. Die Aufnahme des Fotos bei einer Veranstaltung an einem öffentlichen Ort und dessen anschliessende Publikation sei nicht besonders problematisch gewesen. Die fehlerhafte Bildlegende möge der verheirateten Ärztin und Universitätsdozentin zwar gewisse Unannehmlichkeiten bereitet haben. Die Verwechslung lasse sich aber nicht als Verunglimpfung bezeichnen. Gesamthaft war sie nicht geeignet, eine negative öffentliche Wahrnehmung zu verursachen. Weder hinsichtlich ihres Rechts am eigenen Bild noch hinsichtlich des Schutzes ihres guten Rufs war die Publikation von einer Schwere, welche menschenrechtliche Fragen aufwarf. Der EGMR stufte die Beschwerde daher als offensichtlich unbegründet ein.
54
Kommentar: Dieser Zulässigkeitsentscheid entspricht dem schon vorne (I/2, Rn 4 ff.) geschilderten Bestreben des Gerichtshofs, sich weniger mit Bagatellen zu befassen. Die Fehlleistung der Zeitschrift und die anschliessend verweigerte Richtigstellung waren zwar ärgerlich, aber letztlich nicht dramatisch. Später allerdings spitzte sich die Situation zu. Ein Internetportal veröffentlichte das Foto aus „Gloria“ und bezeichnete Diana Vučina erneut als Ehefrau des Bürgermeisters. Dies geschah zur Illustration eines Artikels über eine angebliche aussereheliche Affäre (und das fragwürdige Geschäftsgebaren) des Bürgermeisters. Die kroatische Justiz verpflichtete das Portal, eine Richtigstellung zu veröffentlichen und Vučina eine finanzielle Entschädigung zu bezahlen. Hätte sie es nicht getan, so wäre eine Beschwerde in Strassburg wohl aussichtsreich gewesen.
b) Bilder von public figures
55
Im EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Zu Guttenberg c. Deutschland“ (Fotos von Villen) N° 14047/16 vom 25.06.2019 akzeptierte der Gerichtshof die Publikation von Fotos der Häuser des 2011 nach einer Plagiatsaffäre zurückgetretenen Bundesverteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg. Die Zeitschrift „Bunte“ veröffentlichte 2014 verschiedene Bilder der zum Verkauf ausgeschriebenen Villa in Berlin und des neuen Hauptwohnsitzes in Greenwich (USA). In (lediglich) dreiköpfiger Besetzung hielt die 5. EGMR-Kammer einstimmig fest, die deutsche Ziviljustiz habe die Strassburger Kriterien für die Veröffentlichung von Fotos richtig angewandt. Der EGMR teilte die Auffassung des Oberlandesgerichts Köln, dass die Bilder nicht nur die Neugier des Publikums befriedigten, sondern auch einen gewissen Bezug zu den allgemein interessierenden Spekulationen über eine mögliche Rückkehr von Guttenbergs in die deutsche Politik hatten. Umstritten waren lediglich die Fotos der Hausfassaden und des Gartens, welche kaum Details aus dem Privatleben enthüllten. Es bestand nur ein sehr geringes Risiko, dass Aussenstehende den Wohnsitz entdecken und als Rückzugsort beeinträchtigen konnten.
56
Kommentar: Der Entscheid illustriert die Entwicklungen der Strassburger Rechtsprechung in den 15 Jahren seit dem bahnbrechenden Leiturteil zu den Fotos der Prinzessin Caroline (Urteil N° 59320/00 „Von Hannover c. Deutschland [N° 1]“ vom 24.06.2004). Die Berichterstattung über Prominente misst der EGMR an einem ausgefeilten Kriterienkatalog, der eine den Umständen des Einzelfalls angepasste Würdigung erlaubt. Auch die vorliegende Angelegenheit wurde differenziert beurteilt: Die „Bunte“ hatte auch Aufnahmen aus dem Innern der Berliner Villa veröffentlicht, deren erneute Publikation das erstinstanzliche Regionalgericht untersagte (was die Zeitschrift akzeptierte). Und hinsichtlich der vom Oberlandesgericht und dem EGMR als rechtmässig eingestuften Fotos der Fassaden wäre die Abwägung womöglich anders ausgefallen, wenn deren Publikation ein erhebliches Risiko von Belästigungen am Rückzugsort geschaffen hätte. So ist der Gerichtshof auch schon gegen die Publikation der Wohnadresse einer Schauspielerin eingeschritten, welche einzig auf die Neugier der Leserschaft abzielte (EGMR-Urteil N° 42811/06 „Alkaya c. Türkei“ vom 09.10.2012; zusammengefasst und besprochen in medialex 2013, S. 24f.) Dies zeigt, dass stets der Kontext der Veröffentlichung im Auge zu behalten ist. Bei der „Bunte“-Publikation war es für den EGMR plausibel, dass die Fotopublikation nicht nur voyeuristischen Zwecken diente, sondern einen Konnex zu einem allgemein interessierenden Thema (politische Zukunft von Guttenbergs) hatte. Dass ein solcher Zusammenhang nicht bloss vorgeschoben oder komplett gekünstelt sein darf, macht die Strassburger Rechtsprechung ebenfalls deutlich (EGMR-Urteil N° 8772/10 „Caroline von Hannover c. Deutschland [N° 3]” vom 19.09.2013; zusammengefasst und besprochen in medialex 2013, S. 184).
G. Schwere der Sanktion bei rechtswidrigen Vorwürfen
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Im Lichte von Art. 10 EMRK müssen staatliche Sanktionen gegen rufschädigende oder sonstwie rechtswidrige Medienberichte stets verhältnismässig sein. Auch im Berichtsjahr musste der EGMR mehrmals feststellen, dass im Ansatz berechtigte Beschränkungen der Medienfreiheit in ihrer Schwere (deutlich) über das Ziel hinausschossen.
58
Im vorne (I/5/B, Rn 38) erwähnten EGMR-Urteil „Sallusti c. Italien“ (Abtreibung) N° 22350/13 vom 07.03.2019 schritt der Gerichtshof gegen die überrissene Bestrafung eines Chefredaktors ein. Seine Zeitung „Libero“ hatte den falschen Vorwurf publiziert, eine Dreizehnjährige sei zum Schwangerschaftsabbruch gezwungen worden. Auf Strafklage des kritisierten Vormundschaftsrichters wurde der Chefredaktor wegen fahrlässig unterlassenen Einschreitens gegen diese krass ehrverletzende Äusserung („omesso controllo“) zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten verurteilt. Er verbüsste drei Wochen in Hausarrest, bevor der Staatspräsident die Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe von 15’500 Euro umwandelte. Der Gerichtshof erinnerte an seine Rechtsprechung, wonach eine (bedingt oder unbedingt ausgesprochene) Freiheitsstrafe für Medienpublikationen nur in ausserordentlichen Umständen menschenrechtskonform ist, bspw. bei Hate speech oder bei Anstiftung zu Gewalt. Sanktioniere der Staat ein unterlassenes Einschreiten gegen ehrverletzende Publikationen mit einem Freiheitsentzug, so sei ein „chilling effect“ unvermeidlich. Dies gelte auch, wenn die Strafe letztlich durch einen Gnadenakt in eine Geldstrafe umgewandelt werde.
59
Kommentar: Der Gerichtshof verweist in seiner Urteilsbegründung auf die Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates 1920 (2013) „The state of media freedom in Europe“ und auf ein Dokument der Venice Commission zur problematischen Rechtslage in Italien (Opinion no. 715/2013 „on the Legislation on Defamation of Italy“). Italien hat auf die Defizite reagiert und eine Gesetzesrevision in die Wege geleitet. Es sei an dieser Stelle wieder einmal daran erinnert, dass auch die schweizerische Rechtslage nicht über alle Zweifel erhaben ist. Anders als in Italien werden fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzungen zwar lediglich mit Busse bedroht. Bei vorsätzlicher Nichtverhinderung einer strafbaren Veröffentlichung sieht Art. 322bis StGB hingegen eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (oder eine Geldstrafe) vor. Vor dem Hintergrund der internationalen Rechtsentwicklung tun die schweizerischen Strafgerichte gut daran, wenn sie das unterbliebene Einschreiten gegen ehrverletzende Publikationen höchstens mit Geldstrafe ahnden.
60
Immer wieder schreitet der Gerichtshof gegen überrissene Beträge ein, welche die Ziviljustiz für rechtswidrige Publikationen zuspricht. Im EGMR-Urteil „Ifandiev c. Bulgarien“ (Antisemitisches Buch) N° 14904/11 vom 18.04.2019 wurde ein Buchautor zur Bezahlung von umgerechnet rund 20‘000 Franken an einen hart kritisierten Gewerkschafter verurteilt. Dies war nach Auffassung des EGMR klarerweise überrissen, denn die Summe entsprach rund 117 monatlichen Mindestlöhnen. Ein solcher Betrag lasse sich auch nicht dadurch rechtfertigen, dass die rechtswidrige Publikation die Gesundheitsprobleme des Gewerkschafters verschärft hatte.
6. Primärer Eingriffszweck: Schutz von Interessen der Allgemeinheit
A. Schutz staatlicher Geheimnisse
61
Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
B. Aufrufe zu Diskriminierung, Intoleranz, Hass und Gewalt
a) Bundesgericht
62
Das BGer-Urteil 6B_620/2018 (Gewaltaufruf durch Imam) vom 07.08.2019 bestätigte einen Schuldspruch wegen Verstosses gegen Art. 259 StGB (öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder zur Gewalttätigkeit). Ein Imam hatte 2016 im Rahmen einer öffentlich zugänglichen Freitagspredigt in der Winterthurer An’Nur-Moschee u.a. gesagt, es müsse getötet werden, wer nicht in der Gemeinschaft bete. Seine Worte konnten „unter den gegebenen Umständen von einem gläubigen Muslim als Handlungsaufforderung zu einem genügend bestimmten Tun verstanden“ werden. Sie erfüllten das Tatbestandsmerkmal der Eindringlichkeit. Die zu Gewalt auffordernden Passagen der Predigt seien nicht mit zurückhaltender Sachlichkeit formuliert worden und innerhalb der gesamten Predigt durchaus ins Gewicht gefallen.
b) EGMR
63
Im EGMR-Urteil „Ifandiev c. Bulgarien“ (Antisemitisches Buch) N° 14904/11 vom 18.04.2019 befasste sich der Gerichtshof mit dem Buch „Der Schatten von Zion“, dessen Autor zur Bezahlung einer Entschädigung an einen kritisierten Gewerkschaftsführer verurteilt worden war. Die bulgarische Regierung wehrte sich dagegen, dass der Gerichtshof den Eingriff überhaupt an den Beschränkungsvoraussetzungen von Art. 10 EMRK mass. Es handle sich um einen Missbrauch der Konventionsrechte gemäss Art. 17 EMRK. Diese vom Gerichtshof verschiedentlich angewandte Vorschrift greift bei Handlungen, die auf Abschaffung der in der Konvention festgelegten Rechtsansprüche abzielen. Sie betreffe aber nur Äusserungen, bei denen es ins Auge springe („it is immediately clear“), dass ihr wahrer Zweck eindeutig den Zielen der EMRK widerspricht. Dies war hier nicht gegeben. Vorliegend wurde der Autor nicht wegen der antisemitischen Stossrichtung entschädigungspflichtig, sondern wegen seiner Angriffe auf die Person des Gewerkschafters. Das Urteil der bulgarischen Ziviljustiz hatte eine genügende gesetzliche Grundlage, verfolgte ein legitimes Ziel und war in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Dennoch hiess der Gerichtshof die Beschwerde einstimmig gut, weil die zugesprochene Genugtuungssumme (umgerechnet rund 20‘000 Franken) exzessiv war (vgl. dazu vorne I/5/G, Rn 60).
C. Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung von Völkermord
a) Bundesgericht
64
Das BGer-Urteil 6B_350/2019 (Gaskammerleugnung) vom 29.05.2019 bestätigte den Schuldspruch für einen Autor, der in seinen antisemitischen Publikationen unter anderem den Holocaust bagatellisiert und Gaskammerleugner unterstützt hatte (ausführlich dargestellt in der Entscheidübersicht Verfassungsrecht und EMRK: Medienrelevante Rechtsprechung 2018, Rn 73f.). Das Urteil berücksichtigte die Strassburger Praxis, welche in die gleiche Richtung zielt.
b) EGMR
65
Mehrere Entscheide aus dem Jahr 2019 unterstreichen, dass der EGMR jene EMRK-Vertragsstaaten stützt, die entschlossen gegen Holocaustleugner und Antisemiten vorgehen. Zu erwähnen ist der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Pastörs c. Deutschland” N° 55225/14 vom 03.10.2019: Ein deutscher Parlamentarier hatte in einer Rede behauptet, „dass der sogenannte Holocaust politischen und kommerziellen Zwecken dienbar gemacht” werde. Der Gerichtshof bestätigte den Schuldspruch wegen Verstosses gegen § 187 und 189 des deutschen StGB.
66
Ebenfalls offensichtlich unbegründet war die Beschwerde eines englischen Bischofs nach einem Interview für das schwedische Fernsehen, in dem er die Existenz von Gaskammern geleugnet hatte. Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Williamson c. Deutschland” N° 64496/17 vom 31.01.2019 bestätigte eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen (zu je 20 Euro). Der EGMR verwarf den Einwand, die deutsche Justiz habe zu Unrecht den Schwerpunkt der Tathandlung in Deutschland angenommen. Williamson sei damit einverstanden gewesen, das Interview in Deutschland zu geben, obwohl er genau wusste, dass seine Aussagen nach deutschem Strafrecht verboten sind. Sie wurden auch in Deutschland „öffentlich”, da das schwedische Programm weltweit konsumiert werden konnte (z.B. über Video-on-Demand). Er hatte sich auch nicht gegen die Ausstrahlung gewehrt, sondern dem Interviewer bloss gesagt, er solle „vorsichtig sein“, denn die Aussagen würden in Deutschland strafrechtlich verfolgt. Dass die eher milde Strafe konventionskonform war, stand für den Gerichtshof ausser Frage. Er erinnerte an die besondere moralische Verantwortung von Staaten, welche die nationalsozialistische Schreckensherrschaft erlebt haben, sich von diesen Massenverbrechen zu distanzieren. Die Beschwerde sei offensichtlich unbegründet.
67
Kommentar: Der Gerichtshof hält fest, Williamson habe sein Recht auf freie Meinungsäusserung zur Verbreitung von Gedankengut benützt, das dem Text und dem Geist der EMRK widerspricht. Er lässt aber offen, ob hier eine Anwendung von Art. 17 EMRK (Missbrauch der Konventionsrechte) am Platz gewesen wäre. Das Verbot des Missbrauchs der Rechte hat praktische Bedeutung. Bei einem Missbrauch verweigert der Gerichtshof nur schon eine Prüfung der Beschränkungsvoraussetzungen von Art. 10 EMRK (und würde daher selbst drastische Strafen unbesehen hinnehmen). Die bisherige Praxis ist allerdings wenig konsequent. Der Gerichtshof bejahte etwa einen Verstoss gegen Art. 17 EMRK beim Aufruf zu Gewalt und Unterstützung terroristischer Aktivitäten der PKK (Zulässigkeitsentscheid „Roj TV A/S c. Dänemark” N° 24683/14 vom 17.04.2018). Er bejahte ihn auch bei einer satirisch bemäntelten Darstellung von antisemitischem Hass und Holocaustleugnung durch den Komiker Dieudonné (Zulässigkeitsentscheid „Dieudonné M’Bala M’Bala c. Frankreich“ N° 25239/13 vom 20.10.2015) – welche auf den ersten Blick nicht gravierender erscheint, als es die ungeheuerlichen Aussagen von Bischof Williamson sind. Ausdrücklich offen gelassen hat der EGMR die Anwendung von Art. 17 EMRK im Urteil „Atamanchuk c. Russland“ N° 4493/11 vom 11.02.2020 (Hassrede gegen nichtrussische Bevölkerungsgruppen). In seinem Sondervotum zu jenem Urteil hat sich Richter Lemmens bemüht, die bislang unbeständige Rechtsprechung zu Art. 17 EMRK zu ordnen. Es bleibt aber ungewiss, ob der EGMR künftig eine klare Linie finden wird.
D. Massnahmen zum Schutz von Sittlichkeit und Moral
a) Pornografie und Obszönität
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Mit der Herstellung pornografischer Gewaltdarstellungen in einem Film befasste sich das BGer-Urteil 6B_149/2019 vom 11.12.2019. Es bejahte die Strafbarkeit von Filmsequenzen, welche Schläge auf das nackte Gesäss von Frauen zeigten. Die Schwelle einer Verletzung der Menschenwürde könne bei der Kombination von Sexualität und Gewalt auch schon dann überschritten sein, wenn die Gewalt weniger intensiv sei als von Art. 135 StGB (Brutaloverbot) verlangt. Die Tatbestandsmässigkeit richte sich weniger nach der Schwere der Gewalt als nach ihrer erniedrigenden Wirkung. Entgegen dem Gesetzeswortlaut könne in Fällen (nicht einvernehmlicher) sexualisierter Gewalt auch dann ein Verstoss Art. 197 Abs. 4 und 5 StGB vorliegen, wenn eine in hohem Masse explizite Wiedergabe sexueller Vorgänge fehle. Die Darstellung und Banalisierung von Erniedrigung mit augenfälligem Sexualbezug begründe die Strafbarkeit. Je ausgeprägter die Gewaltanwendung ist, desto weniger hohe Anforderungen gelten laut Bundesgericht für den pornografischen Charakter des sexuellen Kontextes.
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Kommentar: Unter dem Strich bejaht das Bundesgericht einen Schuldspruch wegen (harter) Pornografie, obwohl die fraglichen Filmsequenzen gar nicht alle Merkmale des Pornografietatbestands erfüllten. Dieses Ergebnis ist sonderbar und nährt die Vermutung, dass sich das höchste Gericht nicht nur von nüchterner juristischer Überlegung hat leiten lassen, sondern auch von moralischen Reflexen. Im Ergebnis dehnt dieses Vorgehen die durch den Wortlaut des Gesetzes gezogenen Grenzen der Strafbarkeit in fragwürdiger Weise aus.
70
Im EGMR-Urteil „Pryanishnikov c. Russland“ (Filmproduzent) N° 25047/05 vom 10.09.2019 hiess der Gerichtshof einstimmig die Beschwerde eines Produzenten erotischer Filme gut. Die russischen Behörden hatten seinen Antrag auf eine Lizenz zur Vervielfältigung ihm gehörender Filme wegen des letztlich unberechtigten Verdachts abgewiesen, er sei in die illegale Pornoproduktion verwickelt gewesen. Der EGMR bemängelte, dass sich die russischen Gerichte lediglich auf Vermutungen gestützt hatten. In einem aussergewöhnlich umfangreichen Sondervotum beleuchtete Richter Pinto de Albequerque die staatliche Pflicht zur Bestrafung von Pornografie vor dem Hintergrund der Istanbul-Konvention und anderer internationalrechtlicher Vorgaben, an der sich auch die EGMR-Rechtsprechung vermehrt orientieren sollte.
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Dass obszöne Äusserungen auch einen politischen Konnex haben können, illustriert das EGMR-Urteil „Matasaru c. Republik Moldau“ N° 69714/16 und 71685/16 vom 15.01.2019. Aus Protest gegen Korruption und politische Klüngelei hatte ein Aktivist vor dem Büro des Obersten Staatsanwalts hölzerne Skulpturen eines Penis und einer Vulva aufgestellt, die mit Bildern des Parlamentspräsidenten und hochrangiger Staatsanwälte versehen waren. Er wurde wegen Hooliganismus zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, was nach einhelliger Auffassung des EGMR offenkundig unverhältnismässig war und einen „chilling effect“ auf andere Äusserungswillige hatte.
b) Sexuelle Belästigung
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Im BGer-Urteil 6B_69/2019 (Vulgärer Rap gegen Nationalrätin) vom 04.11.2019 interpretierte das Bundesgericht das Verbot sexueller Belästigung in Artikel 198 StGB vor dem Hintergrund eines groben verbalen Angriffs auf eine Nationalrätin in einem Rapsong. Er enthielt die Behauptung, die Nationalrätin verdanke ihren politischen Erfolg sexuellen Gefälligkeiten. Allgemein hielt das Bundesgericht fest, dass auch audiovisuelle Inhalte gegen das Verbot der sexuellen Belästigung verstossen können. Art. 198 StGB spreche von „Worten“ und umfasse aufgrund seiner Mehrdeutigkeit nicht nur ausgesprochene Belästigungen, sondern auch schriftliche oder bildliche Tatobjekte (E. 2.3.2.). Vorliegend verneinte das Bundesgericht aber eine Verletzung von Art. 198 StGB, denn dem ins Internet gestellten und der Strafklägerin erst eineinhalb Jahre nach der Publikation bekannt gewordenen Video fehlte das Tatbestandsmerkmal der unmittelbaren Wahrnehmung durch das Opfer. Gleichzeitig liess das Bundesgericht keinen Zweifel daran, dass eine unwahre und damit ehrverletzende Tatsachenbehauptung (Art. 173ff. StGB) vorlag.
E. Schutz des religiösen Friedens und religiöser Empfindungen
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Das EGMR-Urteil “Tagiyev & Huseynov c. Aserbaidschan” N° 13274/08 vom 5.12.2019 betraf eine 2006 unter dem Titel „Europa und wir“ veröffentlichte Kolumne in einer Zeitschrift. Vor dem Hintergrund der Unterschiede zwischen östlicher und westlicher Welt kritisierte ein Schriftsteller den Islam. Zusammen mit dem Chefredaktor wurde er zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Strafgerichte stützten sich auf ein Sachverständigengutachten. Sie bejahten ohne eigenständige rechtliche und kontextbezogene Analyse, dass der Text zum Hass angestiftet hatte. Der EGMR hielt hingegen fest, dass die Publikation zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beigetragen habe. Zwar dürfe ein Staat angemessene Massnahmen gegen die Aufstachelung zu religiöser Intoleranz ergreifen. Religiöse Gruppen müssten es aber hinnehmen, dass ihrem Glauben entgegengesetzte Meinungen publiziert werden. Darüber hinaus war die Freiheitsstrafe eine unverhältnismässig harte Sanktion.
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Kommentar: In seiner Urteilsbegründung hielt der Gerichtshof fest, dass das rigorose Vorgehen Aserbaidschans eine abschreckende Wirkung („chilling effect“) hatte und dazu beitragen konnte, dass sich die Medien vor einer offenen Diskussion religiöser, gesellschaftlicher oder anderer brisanter Themen fürchten. Der vorliegende Fall zeigt auf tragische Weise, dass dies keine leeren Worte sind. Die beiden Journalisten verbrachten über ein Jahr im Gefängnis. Am Tag nach seiner Entlassung wurde Journalist Tagiyev in Baku auf offener Strasse niedergestochen und verstarb wenige Tage später. Die Witwe führte das Verfahren in Strassburg weiter und erhielt letztlich Recht – nach einer Verfahrensdauer von mehr als 11 Jahren.
7. Notwendigkeit von Eingriffen wegen Straftaten bei der Recherche
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Im Berichtsjahr gab es zu dieser Thematik keine relevante Rechtsprechung.
8. Redaktionsgeheimnis / Quellenschutz (Art. 17 Abs. 3 BV und Art. 10 EMRK)
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Im BGer-Urteil 1B_550/2018 (Videos in Mastbetrieb) vom 06.08.2019 akzeptierte das Bundesgericht die Entsiegelung von elektronischen Geräten und Datenträgern, welche die Strafverfolgungsbehörden bei einem Tatverdächtigen beschlagnahmt hatten. Dieser bezeichnete sich als „freischaffender Publizist“. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, er sei in Hühner-Mastbetriebe eingedrungen (Hausfriedensbruch) und habe dort verbotene Videoaufnahmen angefertigt. Der beschuldigte Publizist wandte vergeblich ein, die Entsiegelung erlaube der Staatsanwaltschaft Rückschlüsse auf die Quellen der ihm zugespielten Videos. Laut der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung kommen die beschlagnahmten Kameras unmittelbar als Tatwerkzeuge in Frage. Es widerspräche dem Sinn des journalistischen Quellenschutzes (Art. 172 StPO bzw. Art. 28a StGB), wenn er auch selber einer Straftat verdächtige Medienleute privilegieren würde. Wer eigene Delikte auf Video banne, könne sich als Beschuldigter der Entsiegelung nicht mit dem Hinweis entziehen, er sei im gleichen Zusammenhang auch „journalistisch tätig“ gewesen.
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Das Bundesgericht verneinte auch, dass die kantonalen Behörden mit ihrem Zugriff auf das beschlagnahmte Material primär bezwecken, die Informanten des Beschuldigten zu enttarnen und auf diesem Wege den Quellenschutz zu unterlaufen. Anhaltspunkte für eine rechtsmissbräuchliche Beschuldigung vermochte das Bundesgericht nicht zu erkennen. Vielmehr gebe es hinreichend konkrete Verdachtsgründe gegen den Publizisten, die er nicht bestreite (E. 3.4).
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Quellenschutz bejahte das Bundesgericht hingegen grundsätzlich für allfällige Korrespondenz des Beschwerdeführers mit den (nicht selber mitbeschuldigten) Medienschaffenden von SRF. Allerdings konkretisierte er gegenüber dem Zwangsmassnahmengericht (ZMG) nicht, welche der beschlagnahmten Geräte solche Korrespondenz mit SRF enthalten könnten. Nach der bundesgerichtlichen Praxis trifft den Inhaber von zu Durchsuchungszwecken sichergestelltem Material die prozessuale Obliegenheit, die von ihm angerufenen Geheimhaltungsinteressen ausreichend zu substanziieren. Dies gelte besonders bei grossen Datenmengen. Das ZMG war laut Bundesgericht nicht verpflichtet, selber nach quellengeschützten Informationen in den sehr umfangreichen Datenmengen zu forschen (E. 3.5).
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Kommentar: Das Urteil ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Erstens untermauert es, dass der Quellenschutz einen selber tatverdächtigen Journalisten nicht vor behördlichen Zwangsmassnahmen abzuschirmen vermag. Wichtig ist, dass die Behörden den Tatverdacht gegen den Journalisten nicht nur vorschieben, um einen Hebel zur Enthüllung seiner Informationsquellen zu haben. Dieses Verbot der Umgehung des Quellenschutzes hat in der EGMR-Praxis einen hohen Stellenwert. Zumindest ansatzweise hat das Bundesgericht vorliegend geprüft, ob die kantonalen Behörden das Umgehungsverbot respektiert haben. Zweitens zeigt das Urteil, dass der wirksame Schutz der Informationsquellen für Medienschaffende in der Praxis eine anspruchsvolle Angelegenheit sein kann. Auch wenn beschlagnahmte Unterlagen im Grundsatz Quellenschutz geniessen, müssen die Medienleute gegenüber dem Zwangsmassnahmengericht präzise Angaben machen. Dies bestätigte etwas später ein weiterer Bundesgerichtsentscheid. Im Urteil 1B_389/2019 vom 16. Januar 2020 akzeptierte das oberste Gericht die Entsiegelung von drei Mobiltelefonen einer kurdischen Journalistin, welche der Nötigung und Drohung verdächtigt wird. Der journalistische Quellenschutz hätte zwar ihre Korrespondenz mit Personen abgeschirmt, die nicht selber beschuldigt sind. Derartige Kontakte habe die Journalistin aber nicht ausreichend substanziiert und weder Dateien noch Speicherorte näher bezeichnet. Das sei gerade bei grossen Datenmengen wichtig, denn das prozesstaktische Interesse an einer erschwerten Beweiserhebung verdiene keinen Schutz: „Kommt der Betroffene seiner Mitwirkungs- und Substanziierungsobliegenheit im Entsiegelungsverfahren nicht nach, ist das ZMG nicht gehalten, von Amtes wegen nach allfälligen materiellen Durchsuchungshindernissen zu forschen. Tangierte Geheimnisinteressen sind wenigstens kurz zu umschreiben und glaubhaft zu machen. Auch sind diejenigen Aufzeichnungen und Dateien zu benennen, die dem Geheimnisschutz unterliegen.“ (E. 4.2)
9. Staatliche Pflicht zur Gewährleistung freier Kommunikation (Art. 10 EMRK)
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In bestimmten Konstellationen trifft den Staat die Pflicht, die freie Kommunikation durch aktive Vorkehren zu sichern („obligations positives“ – staatliche Schutz- und Gewährleistungspflichten). Dazu gehören zum Beispiel wirkungsvolle Massnahmen gegen die Versuche von Privatpersonen, die Medienfreiheit zu beschränken.
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Das EGMR-Urteil „Khadija Ismayilova c. Aserbaidschan” N° 65286/13 + 57270/14 vom 10.01.2019 betraf den ungenügenden Schutz einer bedrohten Investigativjournalistin. Sie hatte kritische Artikel über Korruption in der Präsidentenfamilie publiziert. Kurz darauf wurden intime Videos von ihr veröffentlicht (später entdeckte sie heimlich installierte Kameras in ihrer Wohnung). Zeitungen warfen ihr unmoralisches Verhalten vor. Die Beschwerden der Journalistin bei nationalen Behörden und Gerichten waren nutzlos. Die von der Journalistin vermutete direkte staatliche Verantwortung für die Aktionen liess sich zwar nicht zweifelsfrei feststellen. Der EGMR kam aber einstimmig zum Schluss, dass der Staat seine positiven Verpflichtungen zum Schutz der Rechte der Journalistin nach Art. 8 EMRK verletzt hatte. Er unterliess eine Reaktion auf die schwerwiegende, schamlose und aussergewöhnlich heftige Verletzung ihres Privatlebens. Die nationalen Behörden verzichteten auf eine effektive strafrechtliche Untersuchung der Vorfälle. Da diese Straftaten augenscheinlich mit ihrer journalistischen Tätigkeit zusammenhingen, bejahte der EGMR einstimmig auch eine Verletzung der staatlichen Pflicht, die Medienfreiheit (Art. 10 EMRK) zu schützen. Vor dem Hintergrund weiterer gemeldeter Verletzungen der Rechte von Medienschaffenden in Aserbaidschan hielt der EGMR fest, die Behörden hätten ihre Pflicht missachtet, ein schützendes Umfeld für unerschrockenen Journalismus zu gewährleisten.
II. Informationszugang für Medien und Allgemeinheit (Art. 17 und 16 Abs. 3 BV; Art. 10 EMRK)
1. Informationszugang gestützt auf die EMRK
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Im EGMR-Urteil „Szurovecz c. Ungarn“ (Zugang zu Aufnahmezentrum) N° 15428/16 vom 08.10.2019 hiess der Gerichtshof die Beschwerde eines Journalisten gut, dem 2015 der Zugang zu einem Aufnahmezentrum für Asylwerber verweigert worden war. Er wollte Asylsuchende befragen und fotografieren, nachdem ernsthafte Bedenken im Hinblick auf ihre Lebensbedingungen im Raum standen. Die Zugangsverweigerung behinderte die journalistische Recherche und tangierte damit den Geltungsbereich von Art. 10 EMRK. Die staatliche Massnahme diente dem legitimen Zweck, das Privatleben der Asylbewerber zu schützen. Sie war jedoch in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Zwar seien die Behörden der EMRK-Vertragsstaaten grundsätzlich besser geeignet als der EGMR, die Schutzbedürfnisse der Asylbewerber zu beurteilen. Sie müssten die Gründe für eine Informationsverweigerung aber überzeugend dartun, denn das öffentliche Interesse an journalistischer Berichterstattung aus erster Hand bestehe gerade für den Umgang der Behörden mit schutzbedürftigen Menschen. Die ungeklärte Frage ihrer menschenwürdigen Unterbringung war von grosser Bedeutung. Zwar sei die Sorge um die Sicherheit und Privatsphäre der im Aufnahmezentrum weilenden Asylsuchenden berechtigt gewesen. Szurovecz hatte aber versichert, er werde nur Personen fotografieren, die damit einverstanden sind und nötigenfalls ihre schriftliche Zustimmung einholen. Er plane keine Sensationsberichterstattung. Diesen Argumenten schenkten die ungarischen Behörden in ihrer summarischen Begründung keine Beachtung. Sie unterliessen die gebotene Abwägung der auf dem Spiel stehenden Grundrechtsinteressen. Die von ungarischer Seite angeführte Möglichkeit, Asylbewerber ausserhalb des Lagers zu kontaktieren und Informationen von Nichtregierungsorganisationen zu berücksichtigen, war nach Auffassung des EGMR kein tauglicher Ersatz. Dies vermochte die authentischen Eindrücke einer Recherche aus erster Hand nicht zu ersetzen. Der EGMR bemängelte darüber hinaus, dass der Journalist nach ungarischem Recht keine gerichtliche Überprüfung der Zugangsverweigerung erwirken konnte.
83
Kommentar: Dieses Urteil betrifft Grundsätzliches. Die Bedeutung der Angelegenheit wird dadurch unterstrichen, dass Journalist Szurovecz von einer Reihe bedeutender internationaler Organisationen als Nebenintervenienten unterstützt wurde. Dazu gehörten das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit, die Media Legal Defence Initiative (MLDI) sowie Index on Censorship. Sie unterstrichen, dass gerade die Beschaffung von Informationen vor Ort für den Investigativjournalismus zentral ist. Der EGMR pflichtete bei, dass Hindernisse beim Zugang zu öffentlich interessierenden Informationen die wichtige Kontrollfunktion der Medien beeinträchtigen. Der Gerichtshof war offenkundig bemüht, den Fall in einen grösseren Kontext zu stellen. So schilderte er auch die Rechtslage in anderen EMRK-Vertragsstaaten: 24 Staaten kennen keine Regeln für den Medienzugang zu Aufnahmezentren, mindestens 10 verlangen eine vorgängige Bewilligung und einige Staaten sehen besondere Zugangsrechte für Medienschaffende vor. Wie immer das nationale Regime ausgestaltet sein mag: Das Strassburger Urteil macht deutlich, dass sich die Behörden im Einzelfall nicht mit oberflächlichen Begründungen begnügen dürfen. Verlangt ist eine sorgfältige Analyse. Dass die Behörden in bestimmten Konstellationen eine Rechtspflicht zur Zugangsgewährung trifft, heisst übrigens nicht, dass sich die Medienschaffenden den Zugang kurzerhand selber verschaffen und dabei gesetzliche Vorschriften verletzen dürfen. Recherchieren sie heimlich (unter verschleierter Identität und mit Täuschungsmanövern), so riskieren sie strafrechtliche Konsequenzen. Ein Beleg dafür ist der (problematische) EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Endy Gesina-Torres c. Polen“ (Verdeckte Recherche in Flüchtlingslager) N° 11915/15 vom 15.03.2018; zusammengefasst und besprochen in der Entscheidübersicht Verfassungsrecht und EMRK 2018, medialex 2018, S. 75, Rn 82ff.
84
Das EGMR-Urteil „Cangi c. Türkei“ (Herausgabe Sitzungsprotokoll) N° 24973/15 vom 29.01.2019 behandelte die verweigerte Herausgabe eines Sitzungsprotokolls des Rates für die Bewahrung des Kultur- und Naturerbes. Die Sitzung betraf Massnahmen zum Schutz der antiken Stätten von Allianoi, welche durch einen Dammbau tangiert sind. Ein Dammbaugegner (Anwalt und Mitglied einer Nichtregierungsorganisation) berief sich vergeblich auf das türkische Gesetz n° 4982 von 2003 über den Zugang zu Informationen. Der Gerichtshof hielt fest, die Interpretation des türkischen Gesetzesrechts sei zwar primär Sache der nationalen Gerichte. Der EGMR schreite aber ein, wenn die Gesetzesauslegung willkürlich oder offenkundig unvernünftig sei. Das war vorliegend der Fall, denn die Lesart des Gesetzes durch die türkische Justiz war für die Betroffenen nicht vorhersehbar. Ihre Interpretation verkehrte den gesetzlichen Grundsatz (Öffentlichkeit mit ausnahmsweisem Geheimnisvorbehalt) in sein Gegenteil (Öffentlichkeit nur im Ausnahmefall, in dem die fraglichen Informationen als öffentlich bezeichnet sind). Dies betrachtete der Gerichtshof als offensichtlich unvernünftig. Mangels einer gesetzlichen Grundlage verstiess die Beschränkung gegen Art. 10 EMRK.
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Kommentar: Auch dieses Urteil dokumentiert den in den vergangenen Jahren gestiegenen Stellenwert der Informationsfreiheit in der Strassburger Gerichtspraxis. Der EGMR scheint dem Trend zu vermehrter Transparenz der amtlichen Tätigkeit zu folgen und schränkt den Spielraum der EMRK-Vertragsstaaten vermehrt ein.
2. Informationszugang gestützt auf das BGÖ
86
Der Zugang zu amtlichen Informationen wird auf eidgenössischer Ebene durch das Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (BGÖ) geregelt. Die Anwendung des BGÖ beschäftigte die schweizerische Justiz auch im Berichtsjahr regelmässig. Für eine ausführliche Erörterung der Gerichtspraxis vgl. den Überblick über praxisrelevante Entscheide zum BGÖ in den Jahren 2018/2019 von Daniel Kämpfer/Annina Keller, mediaoex 2020/02.
87
An dieser Stelle sei ein Fall herausgegriffen, welcher neben der Anwendung der gesetzlichen Normen auch Fragen von verfassungsrechtlicher Tragweite aufwarf. Das BGer-Urteil 1C_462/2018 (Strafprozess gegen Bankangestellten) vom 17.04.2019 bestätigte zwar, dass das Eidg. Finanzdepartement einem SRF-Redaktor die Unterlagen zur Anklage und zum Strafprozess gegen einen früheren UBS-Angestellten vorläufig nicht herausgeben muss. Die 2008 erstellten Dokumente seien aussenpolitisch brisant. Das Bundesgericht unterstrich das gewichtige öffentliche Interesse an ihrer Vertraulichkeit bis zum Abschluss des langjährigen Steuerstreits mit den USA. Zumindest gegenwärtig greife daher die Ausnahmebestimmung zum Schutz aussenpolitischer Interessen im Öffentlichkeitsgesetz (Art. 7 Abs. 1 Bst. d BGÖ). Von verfassungsrechtlicher Tragweite sind die generellen Ausführungen zur Medienfreiheit. Das Bundesgericht hielt fest, bei Begehren von Medienvertretern um Zugang zu behördlichen Informationen diene das im BGÖ verankerte Transparenzgebot zumindest indirekt auch der Verwirklichung der Medienfreiheit (Art. 17 BV). Deshalb seien die Bestimmungen zur ausnahmsweisen Informationsverweigerung (Art. 7 BGÖ) auch im Lichte der Medienfreiheit auszulegen. Das Bundesgericht legte sowohl die Interessen des Redaktors als auch jene der Allgemeinheit an Transparenz in die Waagschale (E. 6.5). In dieser Güterabwägung gewichtete es die Diskretionsanliegen zumindest vorläufig stärker.
88
Kommentar: In methodischer Hinsicht fällt auf, dass die I. öffentlich-rechtliche Abteilung die vom Journalisten ins Feld geführte Medienfreiheit (Art. 17 BV) viel stärker berücksichtigt hat als vor ihm das Bundesverwaltungsgericht. Das Bundesverwaltungsgericht hatte sich wieder einmal mit der verstaubten Behauptung begnügt, die Medienfreiheit räume „bloss Abwehrrechte“ ein (BVGer-Urteil A-6475/2017 vom 06.08.2018, E. 6.2). Das Bundesgericht hingegen begnügt sich nicht mit einer Abschätzung des Schadensrisikos im Falle einer Herausgabe der verlangten Dokumente. Es bezieht auch die Medienfreiheit in seine Überlegungen ein und nimmt eine eigentliche Güterabwägung vor. Dieses Vorgehen überzeugt. Zwar sieht das BGÖ bei den Ausnahmegründen von Art. 7 Abs. 1 keine eigentliche Interessenabwägung vor (was das Bundesverwaltungsgericht in E. 3.2.3 im Gegensatz zum Bundesgericht betont). Der Wortlaut des BGÖ eröffnet den Gerichten aber auch ohne ausdrücklich statuierte Abwägung einen grossen Interpretationsspielraum (E. 5.2 des BGer-Urteils). Diesen Spielraum haben die Gerichte nicht zuletzt im Lichte des übergeordneten Rechts auszufüllen, was für eine Güterabwägung spricht. Die verfassungs- und konventionskonforme Gesetzesanwendung des Bundesgerichts harmoniert mit der neueren Strassburger Rechtsprechung zu Art. 10 EMRK: Der EGMR prüft abgelehnte Einsichtsgesuche von Medienschaffenden und anderen „public watchdogs“ im Rahmen einer Abwägung auf ihre Verhältnismässigkeit (vgl. dazu das grundlegende Urteil der Grossen Kammer des EGMR „Magyar Helsinki Bizottság c. Ungarn“ N° 18030/11 vom 08.11.2016 und seither etwa das EGMR-Urteil „Centre for democracy and the rule of Law c. Ukraine“ N° 10090/16 vom 26.03.2020).
3. Informationszugang gestützt auf kantonales Recht
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Das Bundesgericht stärkte den Anspruch auf Informationszugang nach Art. 17 der Zürcher Kantonsverfassung bzw. dem darauf gestützten Gesetz über die Information und den Datenschutz (IDG/ZH). Im BGer-Urteil 1C_452/2018 vom 15.04.2019 beanstandete es die verweigerte Herausgabe von Informationen zu Wertschriftendepots, welche die Evangelisch-reformierte Landeskirche bei bestimmten Banken besass.
90
Im BGer-Urteil 1C_136/2019 vom 04.12.2019 schützte das Bundesgericht die verweigerte Herausgabe der Namen und Adressen von 469 offiziell eingeladenen Gästen für den Empfang des neuen Waadtländer Grossratspräsidenten. Der Gesuchsteller vermochte weder im kantonalen Verfahren noch vor Bundesgericht zu begründen, weshalb er eine namentliche Liste wünschte. Vergeblich bestritt er, dass die kantonalen Behörden den Zugang an den Nachweis eines überwiegenden Interesses knüpfen durften. Gegen eine Abwägung ist laut Bundesgericht auch im Lichte von Art. 16 Abs. 3 und Art. 17 BV nichts einzuwenden. Die Waadtländer Justiz habe willkürfrei festgehalten, dass das Informationsinteresse des Gesuchstellers leichter wog als die datenschutzrechtlichen Anliegen der zahlreichen Betroffenen (E. 2.5).
91
Kommentar: Kollidieren Auskunftsbegehren mit privaten Diskretionsinteressen, so ist eine Güterabwägung üblich. Auf eidgenössischer Ebene ist diese Interessenabwägung gesetzlich vorgesehen (Art. 7 Abs. 2 BGÖ). Der Waadtländer Fall illustriert, dass Einsichtsgesuche auch auf kantonaler Ebene mitunter am ungenügenden Nachweis eines legitimen Informationsinteresses scheitern.
92
Das BGer-Urteil 1C_665/2017 vom 16.01.2019 bejahte das Einsichtsrecht in Leistungsverzeichnisse zu den Verträgen, die eine St. Galler Gemeinde mit einer IT-Firma abgeschlossen hatte. Die Dokumente enthielten weder Interna noch Geschäftsstrategien. Nach Auffassung des Bundesgerichts ermöglichte die Kenntnis ihres Inhalts der Konkurrenz kein gezieltes Unterbieten bei künftigen IT-Beschaffungen.
4. Anspruch auf rechtsgleiche und willkürfreie amtliche Information (Art. 8 und 9 BV)
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Zum Anspruch auf rechtsgleiche und willkürfreie behördliche Orientierung gab es im Jahr 2019 keine erwähnenswerte Rechtsprechung.
5. Gerichtsöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 6 EMRK)
A. Öffentlichkeit der Verhandlung
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Im BGer-Urteil 1B_571/2018 (Vergewaltigungsprozess: Medienzutritt) vom 10.05.2019 wies das Bundesgericht eine Beschwerde gegen die Zulassung akkreditierter Gerichtsberichterstatter ab. Das Obergericht des Kantons Zürich hatte in einem Vergewaltigungsprozess den kompletten Ausschluss der Öffentlichkeit abgelehnt und akkreditierten Gerichtsberichterstatterinnen und -berichterstattern den Zugang zur Berufungsverhandlung gewährt. Das Obergericht verpflichtete die Medienschaffenden, alle Angaben zu unterlassen, die Rückschlüsse auf die Identität der Privatklägerin ermöglichten. Sie beschwerte sich dennoch gegen die Zulassung der Medienleute. Laut Bundesgericht enthielt die aussichtslose Beschwerde der Privatklägerin keine Anhaltspunkte dafür, dass die obergerichtliche Abwägung (Schutz der Privatsphäre einerseits und Justizöffentlichkeit sowie Interessen der akkreditierten Medienleute anderseits) verfassungswidrig sein könnte.
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Gemäss BGE 146 I 30 sind informelle und freiwillige Vergleichsgespräche in einem Zivilprozess keine Gerichtsverhandlungen im Sinne von Art. 30 Abs. 3 BV. Das Bundesgericht wies die Beschwerde einer akkreditierten Gerichtsberichterstatterin ab, der das Arbeitsgericht Zürich den Zutritt zur Vergleichsverhandlung in einem Rechtsstreit aus der Bankenbranche verweigert hatte. Laut Bundesgericht dient die verfassungsrechtlich garantierte Justizöffentlichkeit einzig der Transparenz der rechtsprechenden Tätigkeit und umfasst nicht auch die vermittelnde Tätigkeit der Gerichtsvorsitzenden. Das Bundesgericht hatte auch keine Einwände dagegen, dass das Zürcher Obergericht im fraglichen Einzelfall eine Abwägung der öffentlichen Transparenzanliegen gegen die Diskretionsbedürfnisse der Prozessparteien unterliess (E. 2.4).
96
Kommentar: Hinsichtlich der ausgebliebenen Interessenabwägung ist die Begründung der I. zivilrechtlichen Abteilung sehr knapp ausgefallen, zumal sich die ausgeschlossene Medienschaffende nicht nur auf Art. 30 Abs. 3 BV berufen hatte. Sie führte auch die Informations- und die Medienfreiheit (Art. 16 Abs. 3 und Art. 17 BV) ins Feld. Diese grundrechtlich geschützten Garantien ertragen nach Art. 36 Abs. 3 BV nur verhältnismässige Beschränkungen und gebieten grundsätzlich eine einzelfallweise Interessenabwägung. Mangels spezifischer Ausführungen zur Informations- und Medienfreiheit lässt sich letztlich nur darüber spekulieren, weshalb das Bundesgericht eine Güterabwägung als entbehrlich betrachtet.
B. Öffentliche Bekanntgabe des Entscheids
97
Im Berichtsjahr gab es dazu keine erwähnenswerte Rechtsprechung.
6. Amtliche Pflicht zur Anonymisierung von Informationen
98
Im Berichtsjahr gab es dazu keine erwähnenswerte Rechtsprechung.
III. Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK)
99
Gegen überbordende Kommunikation der Massenmedien können sich Betroffene gestützt auf die ihnen garantierte Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) wehren. Die (Justiz-) Behörden haben die Aufgabe, diese Anliegen im Konfliktfall gegen die Medienfreiheit (Art. 10 EMRK) auszubalancieren (vgl. dazu vorne die Ausführungen zu I/5, Rn 23 ff.).
100
Den Staat trifft daneben (und in erster Linie) die Pflicht, eigene Verletzungen von Art. 8 EMRK zu unterlassen. Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Kwiatkowski c. Polen“ (PUK zu TV-Korruption) N° 58996/11 vom 23.04.2019 betraf den Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission über Korruption beim öffentlich-rechtlich Fernsehveranstalter TVP. Dieser enthielt u.a. Korruptionsvorwürfe gegen TVP-Verwaltungsratspräsident Robert Kwiatkowski. Zur Eröffnung eines Strafverfahrens kam es nicht, weshalb der EGMR den PUK-Bericht nicht primär unter dem Blickwinkel der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK), sondern von Art. 8 EMRK prüfte. Die Allgemeinheit hatte laut EGMR ein Recht auf Informationen über diese wichtige Affäre. Da die Feststellungen der PUK eine gewisse Tatsachengrundlage hatten und die Medienkampagne zu dieser Affäre nicht den Behörden zuzurechnen war, verneinte der EGMR einstimmig einen Verstoss gegen Art. 8 EMRK.
IV. Radio und Fernsehen (Art. 93 BV; Art. 10 EMRK)
1. Redaktioneller Inhalt von Radio- und Fernsehprogrammen
A. Bundesgerichtspraxis
101
Die Einhaltung deer inhaltlichen Anforderungen an Radio- und Fernsehsendungen wird durch die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) geprüft (vgl. Oliver Sidler, Rechtsprechungsübersicht 2019 der unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI, Medialex 2020/05). Die vorliegenden Ausführungen beschränken sich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR.
102
Das BGer-Urteil 2C_589/2018 (Regi Ostschweiz Volksmotionen Nichtberichterstattung) vom 05.04.2019 drehte sich um grundrechtliche Fragen im Spannungsfeld von Programmfreiheit des Radioveranstalters, Informationsfreiheit des Publikums und Ansprüchen Dritter, welche eine redaktionelle Berichterstattung über ihr Anliegen verlangen. Der Erstunterzeichner von zwei Volksmotionen im Bistum St. Gallen brachte vor, das „Regionaljournal Ostschweiz“ von Radio SRF habe der Hörerschaft die von ihm lancierten Volksbegehren zu Unrecht verschwiegen. Die UBI räumte im Entscheid b. 774 ein, es hätte Gründe für eine Berichterstattung über die Motionen gegeben, welche immerhin von rund 340 Stimmberechtigten unterstützt worden waren. Dies bedeute aber nicht, dass eine Rechtspflicht des Programmveranstalters zur Berichterstattung (Art. 97 Abs. 2 lit. b des Radio- und Fernsehgesetzes, RTVG) bestehe.
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Nach bundesgerichtlicher Praxis liegt eine „rechtswidrige“ Zugangsverweigerung nur in verfassungs- oder konventionsrechtlich bedingten Ausnahmefällen vor (BGE 136 I 167 E. 3.3.2 S. 174). Journalistische Arbeit verlange wegen der Vielzahl interessierender Ereignisse und der limitierten Ressourcen (beschränkte Sendezeit, ausgelastetes Personal) stets eine Selektion. Die Grenzen rechtmässiger Auswahl werden nach höchstrichterlicher Praxis gesprengt, wenn der Programmveranstalter eine Person oder Gruppierung ohne sachlichen Grund anders behandelt als Betroffene in ähnlich gelagerten Fällen (was das Bundesgericht als „Diskrimination“ bezeichnet). Ebenfalls nicht rechtmässig wäre es, wenn bestimmte Betroffene bzw. Themen aus weltanschaulichen oder politischen Motiven generell ausgegrenzt würden („systematische Boykottierung“). Beides war vorliegend nicht der Fall. Der Verzicht von Radio SRF auf eine Berichterstattung beruhte weder auf einer Ungleichbehandlung gegenüber vergleichbaren Fällen noch handelte es sich um eine generelle Tabuisierung öffentlicher Kritik an der katholischen Kirche. Das Bundesgericht vermochte keinerlei Anhaltspunkte dafür zu erkennen, dass das Regionaljournal mögliche Missstände totschweigen wollte.
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Kommentar: Das Bundesgericht erinnert daran, dass die 2006 ins RTVG eingefügte Zugangsbeschwerde die Kontrolle des diskriminierungsfreien Programmzugangs gerade vor politischen Wahlen bezweckte. Der aktuelle Fall illustriert, dass die Justiz nicht nur den chancengleichen Zugang überprüft. Eine Zugangsbeschwerde kann auch in anderen Lebensbereichen als dem Wahl- oder Abstimmungskampf vom Erfolg gekrönt sein. Ebenfalls unzulässig ist die systematische Ausgrenzung relevanter Akteure oder Themen, für die der Veranstalter keine stichhaltigen Gründe anführen kann. Allerdings ist die gerichtliche Kontrolle, ob eine solche unzulässige Ausgrenzung vorliegen könnte, verfassungsrechtlich heikel. Die Programmautonomie (Art. 93 Abs. 3 BV) setzt einer intensiven Kontrolle redaktioneller Inhalte relativ enge Grenzen. Vor diesem Hintergrund wäre es problematisch, wenn die UBI und das Bundesgericht quasi an die Stelle der Redaktion treten und die journalistische Relevanz bestimmter Inhalte rechtsverbindlich festlegen würden. Auch bei der Forschung nach möglichen sachfremden „weltanschaulichen oder politischen Motiven“ der zuständigen Redaktion empfiehlt sich richterliche Zurückhaltung.
B. Rechtsprechung des EGMR
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Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft u.a. c. Schweiz“ (SRF Puls: Botox) N° 68995/13 vom 12.11.2019 verneinte, dass ein Entscheid der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) die Meinungsfreiheit der SRG beschränkt hat. Die UBI hatte 2012 festgestellt, ein ausführlicher Fernsehbeitrag des Gesundheitsmagazins „Puls“ zum Nervengift Botox habe das Sachgerechtigkeitsgebot (Art. 4 Abs. 2 des Radio- und Fernsehgesetzes, RTVG) missachtet. Die SRG hätte das Publikum über die Tests an Mäusen bei der Botox-Produktion orientieren müssen. Das Bundesgericht bestätigte diesen Entscheid 2013. Die SRG beschwerte sich in Strassburg, doch der Gerichtshof prüfte gar nicht erst, ob dieses Vorgehen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war (Art. 10 Abs. 2 EMRK), denn die Beschwerde der SRG scheiterte bereits daran, dass die Meinungsfreiheit gar nicht tangiert war (vgl. vorne I/2/B, Rn 8 f.). Art. 10 EMRK schütze nicht vor bloss hypothetischen Gefahren.
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Die SRG argumentierte vergeblich, der UBI-Entscheid habe einen starken Einfluss auf die Programmgestaltung und schaffe Rechtsunsicherheit. Laut EGMR verpflichtete der UBI-Entscheid die SRG lediglich dazu, sie über ihre Vorkehren zur Vermeidung künftiger Programmrechtsverletzungen zu orientieren. Die UBI habe von der SRG nie verlangt, sie müsse die umstrittene Sendung von ihrem Videoportal entfernen. Der UBI genüge es, wenn die SRG auf ihrer Website einen Hinweis auf den UBI-Entscheid publiziere (was dem Interesse der Allgemeinheit diene). Ihr Entscheid habe die SRG auch nicht daran gehindert, weitere Sendungen zum Thema Botox auszustrahlen (was die SRG 2013 und 2015 denn auch getan habe – wiederum ohne Hinweise auf die Tierversuchsproblematik). Insgesamt habe der vom Bundesgericht bestätigte UBI-Entscheid keine nennenswerten praktischen oder rechtlichen Folgen für die SRG. Mangels einer Beschränkung von Art. 10 EMRK bezeichnete eine Mehrheit der 3. EGMR-Kammer die Beschwerde als offensichtlich unbegründet (Art. 35 Abs. 3a und 4 EMRK).
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Kommentar: Dieser Entscheid weckt den Eindruck, der Gerichtshof sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wortreich erwähnt die Entscheidbegründung verschiedene Facetten der bisherigen Strassburger Praxis zu Eingriffen in Art. 10 EMRK (exemplarisch listet sie nicht weniger als 14 mehr oder minder relevante Konstellationen auf). Und detailliert erörtert der EGMR verschiedene Aspekte des schweizerischen Verfahrens der Programmaufsicht und des Verhaltens der SRG. Er verliert aber die grossen Linien des Verfahrens aus den Augen: Mit hoheitlichem, rechtsverbindlichem Entscheid wurde die SRG gerügt, weil sie über ein bestimmtes Thema nicht berichtet hat (was einen zentralen Bereich ihres journalistischen Ermessensspielraums betrifft). Sie wurde verpflichtet, mit geeigneten Massnahmen dafür zu sorgen, dass sich eine solche Rechtsverletzung nicht wiederholt (Art. 89 Abs. 1 Bst. a RTVG). Ob die SRG der Ansicht ist, hier mischten sich die UBI und das Bundesgericht ohne überzeugenden Anlass in ihre freie Programmgestaltung ein, tut nichts zur Sache. Die SRG muss diese hoheitlichen Vorgaben umsetzen. Das schweizerische Programmrecht verlangt, dass sie sich ohne Wenn und Aber an eine solche Anordnung hält. Es ist darauf angelegt, Wirkungen zu erzielen. Folglich sieht das RTVG bei renitentem Verhalten der SRG auch ein Durchsetzungsinstrumentarium vor: Das Departement kann auf Antrag der UBI die SRG-Konzession ergänzen, einschränken oder suspendieren (Art. 89 Abs. 3 RTVG). Die der SRG auferlegte Rechtspflicht ist real, nicht hypothetisch. UBI-Entscheide würden ihren Freiraum nur dann nicht beschränken, wenn sich die SRG kaltschnäuzig zum Rechtsbruch entscheiden würde und die schweizerischen Behörden dies untätig hinnehmen würden. Aus diesem Grund ist der fragwürdige Zulässigkeitsentscheid des EGMR über den vorliegenden Einzelfall hinaus als bedenklich bis gefährlich zu qualifizieren: Er entwertet letztlich das schweizerische Programmaufsichtsverfahren und rückt es in die Nähe unverbindlicher Selbstregulierung. Etwas zugespitzt liesse sich festhalten, der EGMR degradiere die UBI gewissermassen zum zahnlosen Tiger, dessen gutgemeintes Einschreiten meist wirkungslos ist.
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Rechtswidrige Inhalte in Radio- oder Fernsehprogrammen können statt (oder neben) programmrechtlichen auch straf- oder zivilrechtliche Folgen haben. Im EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Teleradiokompaniya NBM c. Ukraine“ N° 35211/09 vom 02.07.2019 bestätigte der Gerichtshof ein Urteil der ukrainischen Ziviljustiz, die eine Fernsehveranstalterin zum Widerruf eines Vorwurfs und zur Bezahlung einer Entschädigung verurteilt hatte. Anlass für die Verurteilung war die kritische Berichterstattung über einen (letztlich dennoch gewählten) Kandidaten. Im Fernsehprogramm „5 Kanal“ war er ohne ausreichende Tatsachengrundlage der Korruption bezichtigt worden. Die Programmveranstalterin argumentierte vergeblich, es habe sich um eine zugelieferte Wahlsendung eines Dritten gehandelt, weshalb der zuliefernde Vertragspartner von „Teleradiokompaniya NBM“ zivilrechtlich belangt werden müsse. Nach Auffassung des EGMR wusste die Fernsehveranstalterin um ihre gesetzliche Verantwortung. Sie lasse sich nicht durch einen Vertrag mit einem Programmzulieferer aus der Welt schaffen.
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Kommentar: Dass sich Programmveranstalterinnen ihrer juristischen Verantwortung für die Ausstrahlung rechtswidriger Inhalte nicht durch eine vertragliche Regelung mit einem Inhaltslieferanten entledigen können, leuchtet ein. Heikler wäre die Rechtslage, wenn die Veranstalterin die fremden Inhalte nicht aus freien Stücken ausstrahlt, sondern aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung. So verpflichtet Art. 8 RTVG die konzessionierten schweizerischen Veranstalterinnen zur Ausstrahlung bestimmter Informationen Dritter (z.B. dringliche polizeiliche Bekanntmachungen und behördliche Verhaltensanweisungen). Art. 8 Abs. 2 RTVG verdeutlicht, dass für solche Sendungen die Behörde verantwortlich ist, welche sie veranlasst hat. Ein derartiger Verantwortlichkeitsausschluss sollte sich nicht nur auf das Programmrecht beziehen, sondern auch auf das Zivilrecht (etwa im zumindest theoretisch denkbaren Fall, dass eine behördliche Warnung zu einer Umsatzeinbusse bei einem Unternehmen und anschliessend zu einer Schadenersatzklage führt).
2. Weitere Aspekte
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Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Telecompaniya Impuls, TOV c. Ukraine“ (Kabelnetzkonzession) N° 51010/10 vom 2. 7.2019 betraf einen lizenzierten Kabelnetzbetreiber. Das Unternehmen wehrte sich gegen die ihr auferlegte Gebühr für die Lizenz und gegen die behördlichen Auflagen zur Zusammensetzung des von ihm verbreiteten Programmpakets. Im abstrakten Normenkontrollverfahren scheiterte der Kabelnetzbetreiber vor dem ukrainischen Höchstgericht. Dessen Urteilsbegründung war nach Auffassung des EGMR zwar knapp ausgefallen. Sie machte aber immerhin deutlich, dass die Verfügung der nationalen Behörde (National Television and Radio Council of Ukraine) auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhte. Es handle sich um eine hoch spezialisierte und technische Materie, deren Einzelheiten der Gerichtshof nur mit Schwierigkeiten beurteilen könne, solange die Interpretation der nationalen Gerichte weder willkürlich noch offenkundig unvernünftig sei (§ 61f.). Der EGMR wies die Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet zurück.
V. Verfassungsrechtliche Aspekte der Online-Kommunikation (Art. 16, 17 und 27 BV; Art. 10 EMRK)
1. Recht auf Zugang zu Online-Informationen
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Im EGMR-Urteil „Navalnyy c. Russland (No. 2)“ N° 43734/14 vom 09.04.2019 ging es um die einem politischen Aktivisten auferlegten Kommunikationseinschränkungen. Sie betrafen nicht nur den Kontakt zu seiner Familie, zu seinen Anwälten und zu den Medienschaffenden, sondern auch den Zugang zum Internet. Diese Anordnung missachtete Art. 10 EMRK.
2. Verantwortlichkeit für rechtswidrige Äusserungen
A. Haftung für Links
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Keine Rechtsprechung im Berichtsjahr,
B. Haftung für Kommentare von Dritten
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Im EGMR-Urteil „Høiness c. Norwegen” N° 43624/14 vom 19.03.2019 hatte sich der Gerichtshof einmal mehr mit der Frage zu befassen, in welchen Konstellationen die Betreiber von Internetportalen für die von Drittpersonen verfassten Kommentare (zivil-) rechtlich belangt werden können. Das Newsportal Hegnar Online hatte über das fragwürdige Verhalten der landesweit bekannten Anwältin (und früheren Talkshow-Moderatorin) Mona Høiness im Erbfall einer wohlhabenden Witwe berichtet. Dies provozierte vereinzelte anonyme Nutzer zur Publikation vulgärer und ehrverletzender Kommentare im Forum von Hegnar Online. Wegen drei Kommentaren strengte Høiness einen Zivilprozess gegen das Unternehmen Hegnar Media AS und einen Redaktor an. Die Beklagten verwiesen darauf, dass sie die anstössigen Kommentare entfernt hatten, sobald sie über deren Existenz orientiert worden waren. Die norwegische Ziviljustiz verneinte eine Haftbarkeit für die unsachlichen und geschmacklosen Kommentare und verurteilte die Anwältin dazu, die Verfahrenskosten der Beklagten (in einer Gesamthöhe von rund 50’000 Franken) zu begleichen.
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In ihrem einstimmigen Urteil verneinte die 2. EGMR-Kammer, dass Norwegen das Recht der Anwältin auf Achtung ihres Privatlebens (Art. 8 EMRK) unzureichend geschützt hatte. Sie stützte sich dabei auf den für solche Fälle massgebenden Kriterienkatalog: Was war der Inhalt der fraglichen Kommentare? In welchem Kontext standen sie? Welche Massnahmen ergriff das Internetportal, um die anstössigen Kommentare zu verhindern oder zu entfernen? Wie stand es mit der Haftbarkeit der tatsächlichen Verfasser der Kommentare? Welche Folgen hatte das norwegische Gerichtsverfahren für das Unternehmen? Der Gerichtshof verzichtete auf eine vertiefte Analyse der drei Kommentare. Sie bewegten sich jedenfalls unterhalb der Schwelle des Hate speech und des Gewaltaufrufs. Der EGMR räumte ein, dass rechtliche Schritte gegen die anonymen Urheber der Kommentare für Mona Høiness schwierig waren. Bei Hegnar Online handelte es sich zwar um ein grosses, kommerziell betriebenes Portal, doch waren die Beiträge im Diskussionsforum keine Fortsetzung der redaktionellen Publikationen. Das Unternehmen hatte ein sinnvolles System etabliert: Moderatoren überwachten die Inhalte. Für die Leserschaft gab es Buttons zur Meldung problematischer Kommentare. Zwei der Kommentare gegen Høiness wurden gemeldet und innerhalb von 13 Minuten gelöscht. Den letzten der drei Kommentare löschten die Moderatoren aus eigenem Antrieb. Der EGMR sah keinen Anlass, die Abwägung der norwegischen Gerichte zu korrigieren. Dies galt auch für die Auferlegung der beträchtlichen Verfahrenskosten an die unterlegene, finanzkräftige Prozesspartei.
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Kommentar: Das Urteil liegt auf der Linie der bisherigen Strassburger Rechtsprechung, welche in medialex wiederholt thematisiert worden ist. Nach dem Grundsatzurteil im Fall „Delfi AS c. Estland“ (Haftung eines professionellen Nachrichtenportals für extrem beleidigende User-Kommentare mit Hate speech und Gewaltaufruf) N° 64569/09 vom 16.06.2015 hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung nuanciert. So entschied er im Zulässigkeitsentscheid „Pihl c. Schweden“ N° 74742/14 vom 07.02.2017 zugunsten einer kleinen Nonprofit-Organisation, welche einen ehrverletzenden anonymen Kommentar (erst) nach einem entsprechenden Hinweis gelöscht hatte. Eine Verantwortlichkeit verneinte er auch im Urteil „Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete & Index.hu Zrt c. Ungarn“ N° 22947/13 vom 02.02.2016 (vulgäre, aber nicht extrem beleidigende Kommentare wegen Geschäftspraktiken einer Immobilien-Website auf einem Nachrichtenportal) und im Zulässigkeitsentscheid „Tamiz c. Vereinigtes Königreich“ N° 3877/14 vom 19.09.2017 (beleidigende Äusserungen im „London Muslim“-Blog, das auf Googles Social Media-Plattform betrieben wird). Die Strassburger Rechtsprechung macht deutlich, dass nicht jeder ehrverletzende Text als Hassrede zu qualifizieren ist und dass die Widerrechtlichkeit längst nicht immer ins Auge springt. Sie belegt auch, dass adäquate Melde- und Löschungsverfahren die Gefahr rechtlicher Sanktionen deutlich reduzieren.
3. Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten
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Das EGMR-Urteil „Kablis c. Russland“ N° 48310/16 + 59663/17 vom 30.04.2019 betraf die vom Staatsanwalt angeordnete und vom Bloghoster bewirkte Sperrung eines Bloggers, der zur Teilnahme an unbewilligten Demonstrationen aufgerufen hatte. Dieses amtliche Vorgehen war in verschiedener Hinsicht konventionswidrig. Der Gerichtshof kritisierte insbesondere das unzureichende Sperrverfahren. Die Sperrung erfolgte noch vor einem gerichtlichen Entscheid über die Rechtswidrigkeit der fraglichen Inhalte. Sie gehörte mit anderen Worten zur Kategorie der Präventiveingriffe („prior restraints“), welche der Gerichtshof wegen ihrer Gefahr für die freie Kommunikation mit höchster Sorgfalt prüft. Dass eine Information durch ihre Verzögerung jeden Wert verlieren kann, gelte nicht nur für Äusserungen periodisch erscheinender Massenmedien. Vorliegend hatte der Generalstaatsanwalt ausserordentlich weite Befugnisse und konnte selbst auf harmlose Gesetzesvorstösse mit einer Sperranordnung reagieren. Nach den Worten des EGMR muss der Staat garantieren, dass noch vor dem geplanten Termin der Kundgebung eine gerichtliche Überprüfung solcher Sperrverfügungen erfolgt. Dies vermochte das russische Recht angesichts einer gesetzlichen Frist von 30 Tagen nicht zu gewährleisten. Darüber hinaus war die Sperre zu umfassend (Overblocking durch Sperrung des gesamten VKontakte-Accounts) und fehlten auch Anhaltspunkte dafür, dass der geringfügige Verstoss gegen die Vorschriften über die Durchführung öffentlicher Veranstaltungen eine reale Gefahr für die öffentliche Ordnung schuf.
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Kommentar: Die Erwägungen des Gerichtshofs zur Notwendigkeit eines gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Online-Blockaden verdienen grosse Aufmerksamkeit. Neben Russland dürften auch andere EMRK-Vertragsstaaten Mühe damit haben, eine zeitnahe gerichtliche Überprüfung von Sperrverfügungen zu garantieren. Dies könnte nicht nur beim Aufruf zu öffentlichen Kundgebungen relevant sein, sondern bei allen zeitkritischen Äusserungen. In dieser Hinsicht sticht auch der Einwand nicht, dass ein geblockter Blogger ersatzweise auch auf einem anderen Kanal hätte kommunizieren können. Der EGMR hält in § 84 fest: „That the applicant could create a new social networking account or publish new entries on his blog has no incidence on this finding.“
4. Entlassung nach Post auf Online-Plattform
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Im EGMR-Urteil „Herbai c. Ungarn“ N° 11608/15 vom 05.11.2019 hiess der Gerichtshof die Beschwerde eines Bankangestellten gut, der nach Einträgen auf einer Online-Plattform entlassen worden war. Die ungarische Justiz hielt fest, der Mitarbeiter der Personalabteilung habe legitime Interesse seines Arbeitgebers gefährdet. Seine mit einer Steuerreform zusammenhängenden Überlegungen zur Gehaltspolitik erfolgten aber weder aus Gewinnstreben noch aus Rachsucht. Die Entlassung als besonders schwere Sanktion verstiess gegen Art. 10 EMRK.