Plumpes Verschleiern von Werbung kontaminiert redaktionelle Inhalte
Die Spruchpraxis des Schweizer Presserates im Jahr 2020
Dominique Strebel, Jurist und Studienleiter an der Schweizer Journalistenschule MAZ
I. Einleitung N 1
II. Verfahrensfragen und Geltungsbereich
1. Allgemeine Verfahrensfragen N 4
2. Gerichtliche Parallelverfahren N 15
3. Geltungsbereich des Journalistenkodex
A. Medien, die dem Journalistenkodex unterstehen N 17
B. Buchauszüge, Gastbeiträge, Leserbriefe, Onlinekommentare, Teaser N 19
4. Begründungspflicht N 31
III. Wahrhaftigkeit und Transparenz
1. Meinungspluralismus N 32
2. Wahrhaftigkeitsgebot
A. Belegen von Fakten N 33
B. Formulierungen von Frontanriss, Titel, Lead, Bildlegende N 44
C. Unterschlagen von Informationen N 51
3. Umgang mit Gerüchten und Verdächtigungen N 52
4. Umgang mit Quellen N 53
5. Trennung von Information und Kommentar N 58
6. Berichtigungspflicht N 59
IV. Fairness
1. Allgemeine Grundsätze N 60
2. Einholen von Stellungnahmen N 61
A. Schwerer oder leichter Vorwurf N 64
B. Frist zur Stellungnahme; Präzisierung der Vorwürfe N 68
C. Recht zur Autorisierung N 72
D. Substitut für eine Stellungnahme N 75
E. Recherchegespräch N 77
3. Lauterkeit der Recherche N 78
V. Schutz von Privatsphäre und Menschenwürde
1. Schutz der Privatsphäre
A. Spezifische Informationen zur Privatsphäre N 83
B. Berichterstattung mit Namensnennung N 84
C. Anonymisierung N 85
D. Ungerechtfertigte Anschuldigungen N 89
E. Besonderer Schutz von Kindern und von Opfern N 90
2. Schutz der Menschenwürde und vor Diskriminierung
A. Menschenwürde N 94
B. Diskriminierung N 95
VI. Umgang mit Bildern
1. Wahrhaftigkeit und Transparenz N 101
2. Schutz der Privatsphäre N 102
3. Schutz von Personen in Notlage N 105
4. Schutz der Menschenwürde N 106
5. Aktualitätsbilder, Täter- und Attentatsfilme, Streaming N 107
VII. Besonderheiten der Polizei- und Gerichtsberichterstattung
1. Unschuldsvermutung N 108
2. Namensnennung N 112
3. Nachführpflicht N 113
VIII. Unabhängigkeit der Medienschaffenden
1. Trennung von redaktionellem Teil und Werbung N 114
2. Persönliche Unabhängigkeit N 124
I. Einleitung
1
Beim Presserat sind im Berichtsjahr (2020) 181 Beschwerden eingegangen. Die Zahl der Eingänge hat damit im Vergleich zu den drei Vorjahren einen markanten Sprung nach oben gemacht (2019: 126; 2018: 115; 2017: 127). Er hat 98 Stellungnahmen verfasst (2019: 83; 2018: 62; 2017: 53; 2016: 51). 23 Beschwerden hat der Presserat ganz oder teilweise gutgeheissen, 61 abgewiesen und auf 63 Beschwerden ist er nicht eingetreten (auf 12 davon mit Stellungnahme). Von sich aus hat der Presserat 2020 kein Thema aufgegriffen. Insgesamt wurden 163 Beschwerden erledigt (Vorjahr: 123). Aufgrund der grossen Anzahl neuer Beschwerden ist der Pendenzenberg trotz Effort leicht angewachsen.
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Die grosse Zahl der Beschwerden stellt den Presserat zunehmend vor die Frage, wie er es schafft, sich auf die wichtigen Fragen konzentrieren zu können. Deshalb machte er 2020 vermehrt Gebrauch von seiner Kompetenz, bei umfangreichen Beschwerden nur auf die wichtigsten Punkte einzugehen (Art. 17 Abs. 2 Geschäftsreglement). So etwa in den Stellungnahmen 12/2020, 18/2020, 29/2020, 30/2020, 67/2020, 83/2020, 93/2020.
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Ein Schwerpunkt der Tätigkeit des Presserates im Berichtsjahr betraf wie bereits im Vorjahr die Frage der Trennung von Werbung und redaktionellem Teil (Stellungnahmen 6, 7, 17, 41, 42/2020). Im zweiten Halbjahr beschäftigten den Presserat zudem zahlreiche Beschwerden zur Corona-Problematik. So etwa die Stellungnahmen 66, 68, 69, 70, 76, 82, 83, 91/2020.
II. Verfahrensfragen und Geltungsbereich
1. Allgemeine Verfahrensfragen
4
Am 28. Februar 2020 hat der Presserat seine Stellungnahme 31/2016 berichtigt. Er wies die zugrunde liegende Beschwerde der Zeugen Jehovas nun vollumfänglich ab und stellte fest, der «Tages-Anzeiger» habe die Wahrheitspflicht nicht verletzt. In der ursprünglichen Version der Stellungnahme hatte der Presserat eine Verletzung der Wahrheitspflicht festgestellt, weil die Expertin Regina Spiess in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» gesagt hatte, dass die Zeugen Jehovas dem Vorwurf eines sexuellen Missbrauchs nur dann nachgehen würden, wenn zwei Zeugen den Missbrauch bestätigen (Zwei-Zeugen-Regel). Diese Zwei-Zeugen-Regel gelte aber nicht mehr, meinte der Presserat damals gestützt auf eine Stellungnahme des Rechtsdienstes des «Tages-Anzeigers», der dies als Tatsache anerkannt habe. Der Presserat verlangte in seiner Stellungnahme sogar vom interviewenden Journalisten, Auskünfte von Experten nachzuprüfen (dies kritisierte der Schreibende in der Jahresübersicht im Medialex Jahrbuch 2017, S. 128, Rn 15).
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Der «Tages-Anzeiger» verlangte in der Folge eine Revision des Entscheides, weil es sich um ein Missverständnis gehandelt habe. Zudem sprach das Bezirksgericht Zürich Regina Spiess mit rechtskräftigem Urteil vom 9. Juli 2019 vom Vorwurf der üblen Nachrede frei und hielt fest, «dass die sogenannte Zwei-Zeugen-Regel existiert». Laut Gericht hat Regina Spiess zumindest den Gutglaubensbeweis erbracht und ihre Aussagen zur Zwei-Zeugen-Regel und den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas entsprechen «zumindest im Kerngehalt der Wahrheit». Deshalb weist der Presserat nun auch eine analoge Beschwerde der Zeugen Jehovas gegen ein Interview der «Rhonezeitung» ab, in dem Regina Spiess gesagt hatte, dass die Zeugen Jehovas die Zwei-Zeugen-Regel weiter anwenden (Stellungnahme 7/2020). Erst in diesem weiteren Entscheid erfährt man nun von der Korrektur der alten Stellungnahme.
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Kommentar: Dass der Presserat seine fragwürdige Stellungnahme korrigiert, ist richtig. Doch hat die Stellungnahme Schaden angerichtet – vor allem bei der zu Unrecht diskreditierten Expertin Regina Spiess. Deshalb muss er 1. sich vertieft Gedanken machen, wie es zu dieser fehlerhaften Stellungnahme kommen konnte; 2. die Korrektur einer Stellungnahme aktiver kommunizieren; 3. mithelfen, dass die in der fehlerhaften Stellungnahme diskreditierte Expertin Regina Spiess rehabilitiert wird; 4. das Verfahren grundsätzlich neu regeln, um Dritten, die durch eine Stellungnahme geschädigt werden – wie in concreto die Expertin Regina Spiess – , rechtliches Gehör zu gewähren.
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Gemäss Presserat ist es eine «Angelegenheit von geringer Relevanz», wenn sich eine Beschwerde gegen zwei oder drei von Hunderten von Onlinekommentaren richtet. Und es gilt als taugliche Korrekturmassnahme, wenn diese Kommentare Stunden oder wenige Tage nach Erscheinen gelöscht werden. Deshalb tritt er gestützt auf Art. 11 seines Geschäftsreglements auf zwei Beschwerden gegen Onlinekommentare auf der Website von «20Minuten» nicht ein (Stellungnahmen 52/2020 und 65/2020).
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Kommentar: Diese Praxis der Presserats ist fragwürdig. Die Kommentare auf «20Minuten Online» in 65/2020 verstossen in krasser Weise gegen den Antirassismusartikel (Art. 261bis StGB) und werfen auch die Frage auf, ob sich die verantwortlichen Medienleute strafbar gemacht haben. Im Fall 52/2020 sind die Kommentare zudem persönlichkeitsverletzend (gegen Greta T. und auch gegen Knie). Der Presserat verabschiedet sich mit seiner wenig überzeugenden formellen Argumentation aus einer der wichtigsten medienrechtlichen und kommunikationsethischen Debatten der Gegenwart.
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Der Presserat ist auf eine Beschwerde des Kommunikationsfachmannes René Zeyer nicht eingetreten, weil sie sich direkt gegen Max Trossmann richtete, den Vizepräsidenten des Presserates, und nicht gegen die Medienwoche, auf deren Plattform Trossmanns Kommentar erschienen war. Der Presserat bedauert zugleich das spontane Verhalten seines Mitglieds Max Trossmann.
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Der Hintergrund dieses Falles geht zurück ins Jahr 2019. Damals hatte Ringier im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit (Spiess-Hegglin) veranlasst, dass rund 200 Artikel, die in diesem Zusammenhang gestanden hatten, aus der SMD-Mediendatenbank gelöscht wurden. Der Grund: Vorbeugende Massnahmen gegen befürchtete Schadenersatzforderungen. Der Presserat hatte nach dieser Ankündigung dafür plädiert, diese Artikel zugänglich zu halten, das Archiv zur Wahrung historischer Fakten intakt bleiben zu lassen, derartige Löschungen verfälschten das Bild dessen, was Schweizer Medien publiziert hätten. Zeyer argumentierte daraufhin im erwähnten Artikel der «Medienwoche» vom 18. April 2019 für die Position von Ringier, indem er schrieb, es gebe keine Archivfreiheit, die SMD sei kein historisches Archiv, sondern ein Arbeitsinstrument für JournalistInnen, es würden nach entsprechenden Gerichtsentscheiden aus gutem Grund, nämlich Persönlichkeitsschutz, laufend Artikel in der SMD gelöscht. Dies wiederum kritisierte Max Trossmann in der Leserrubrik unterhalb des Artikels mit folgendem Leserkommentar:
«René Zeyer ist sicher der berufenste Fürsprecher von Ringiers unternehmerischen Interessen. Und berufen, für den Journalistenkodex einzustehen. So wie er sich für Jean-Claude Bastos ins Zeug legt. Oder für Raiffeisen. Und sich anderntags als PR-Profi andient. Zeyer spreche ich als Autor jede Glaubwürdigkeit ab. Basta. Max Trossmann, Historiker und Publizist, Vizepräsident Schweizer Presserat.»
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Zeyer beschwerte sich darauf beim Presserat, weil dieser Kommentar sachlich nicht gerechtfertigt sei (Ziffer 7 des Kodexes) und weil er zu den Vorwürfen nicht angehört wurde.
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Kommentar: Die rein formelle Erledigung dieser Beschwerde ist unbefriedigend. Dem Presserat hätte es gut angestanden, inhaltlich Stellung zu nehmen, obwohl er sich in einem doppelten Interessenkonflikt befand. Es gibt diskussionswürdige Ansatzpunkte wie die Frage, ob Trossmanns Kommentar im Kern sachlich gerechtfertigt war und ob es sich dabei um einen offensichtlichen Verstoss gegen den Journalistenkodex handelte, wie er bei Onlinekommentaren und Leserbriefen nötig ist, damit eine Beschwerde gutgeheissen wird.
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Der Presserat tritt nicht auf einen Beschwerdepunkt ein, der sich auf einen Brief des Stadtpräsidenten und des Sekretärs der Stadt Yverdon an die Chefredaktorin der Lokalzeitung «La Région Nord vaudois» stützt. Darin hatte der Gemeindevorsteher angekündigt, dass bis auf weiteres die amtlichen Mitteilungen nicht mehr in der Lokalzeitung inseriert würden, unter anderem weil diese zu wenig sorgfältig und zu wenig ausführlich über die Region berichte. Der Presserat beurteilt dieses Vorgehen materiell nicht, da eine Gemeindeverwaltung nicht dem Journalistenkodex unterstehe. In einer Schlussbemerkung kritisiert er das Vorgehen der Gemeinde trotzdem – quasi ausserhalb des Beschwerdeverfahrens – mit klaren Worten: Ein staatliches Organ, das auch der Medienfreiheit der Bundesverfassung verpflichtet sei, dürfe nicht auf die publizistische Linie einer Redaktion Druck ausüben. Der Presserat appelliert an alle Gemeinwesen, von ähnlichen Druckversuchen abzusehen – gerade in einer Zeit, in der der Journalismus finanziell unter Druck stehe. Gleichzeitig fordert er alle Redaktionen auf, ähnliche Vorgänge öffentlich zu machen (Stellungnahme 78/2020).
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Kommentar: Die klaren Worte des Presserates, die er quasi ausserhalb des Verfahrens formuliert, sind richtig und wichtig. Für die Öffentlichkeit und die öffentliche Hand sind unabhängige Medien zentral – gerade in Zeiten, in denen die öffentliche Meinung unter dem wachsenen Einfluss finanzkräftiger PR-Agenturen und der Dynamik von Sozialen Medien steht.
2. Gerichtliche Parallelverfahren
(Art. 11 des Geschäftsregl. des Presserates)
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Der Presserat tritt auf verschiedene Beschwerden ein, obwohl gerichtliche Verfahren angedroht werden (aber noch nicht laufen). Dies ist ständige (und begrüssenswerte) Praxis (vgl. etwa den Kommentar des Schreibenden in der Jahresübersicht in medialex 2017, S. 126, Rn 4). Gemäss Presserat würde alles andere das Recht der Beschwerdeführer auf Zugang zu einem ordentlichen Gericht beschneiden (statt vieler: Stellungnahme 82, 92/2020).
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Der Presserat tritt trotz (strafrechtlicher) Parallelverfahren in jenen Punkten auf Beschwerden ein, die nicht Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens sind. Dabei vergleicht er die Beschwerden an den Presserat und die gerichtlichen Verfahren detailliert. So tritt er etwa auf eine Beschwerde gegen «Bazonline.ch» ein, in der gerügt wurde, dass das Onlineportal zwei Aufnahmen eines Therapiegesprächs eines achtjährigen Kindes veröffentlicht hatte. Der Presserat behandelt aber nur den Aspekt «Veröffentlichung eines Audios», weil dieser nicht Gegenstand der Strafverfahren sei und weil sich dabei medienethische Grundsatzfragen stellen (Stellungnahme 88/2020). Ebenso tritt er auf eine Beschwerde der KESB Solothurn gegen «Bazonline.ch» in einigen Punkten ein, obwohl gleichzeitig Strafverfahren laufen (Stellungnahme 89/2020).
3. Geltungsbereich des Journalistenkodex [Kodex]
(Art. 2 Geschäftsregl., Richtlinien [RL] 5.2 und 5.3)
A. Medien, die dem Journalistenkodex unterstehen
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Publikationen von Online-Medien unterliegen ab der ersten Sekunde ihrer Veröffentlichung dem Journalistenkodex. Der Presserat weist das Argument von «Blick.ch» zurück, dass neu geregelt werden müsse, ab welcher Publikationsdauer Texte der Beurteilung des Presserates unterliegen. Gemäss «Blick.ch» ist es nicht richtig, dass Online-Inhalte trotz ihrer bisweilen sehr kurzen Halbwertszeit unter die gleich strengen Bestimmungen fallen wie Zeitungen, «die sozusagen für die Ewigkeit veröffentlicht» würden. Der Presserat lehnt derartige Unterscheidungen ab: Online-Inhalte unterliegen den gleichen journalistischen Kriterien wie gedruckte. Alles andere würde gemäss Presserat letztlich ein Bekenntnis zu zwei qualitativ verschiedenen Journalismen bedeuten: Im Print spielten dann Fehler eine Rolle, online hingegen weniger. Das könne nicht sein (Stellungnahme 82/2020).
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Kommentar: Der Entscheid ist im Resultat richtig: Es darf keine besonders kurze Publikationsdauer geben, welche der medienethischen Diskussion aus rein zeitlichen Gründen entzogen wäre. Wenn Massenmedien etwas veröffentlichen, so greifen sowohl das Recht als auch die Medienethik. Die Frage ist, wie stark sie greifen. Und da versucht der Presserat dem Unterschied von Print- und Onlinemedien in konkreten Einzelfällen Rechnung zu tragen – wenn auch nicht immer überzeugend. So beurteilt der Presserat zum Beispiel die Frage nicht, ob ein Aufruf, Maskenverweigerer zu fotografieren ein verwerflicher Aufruf zu Denunziantentum sei, weil der Aufruf nur wenige Stunden online war (Stellungnahme 82/2020). Ähnliches gilt für sexistische, rassistische oder diskriminierende Online-Kommentare, die nach wenigen Stunden gelöscht wurden. Da tritt der Presserat auf die Beschwerde nicht ein, weil die schnelle Löschung eine nur geringfügige Verletzung des Journalistenkodex begründet haben könnte (Stellungnahmen 52 und 65/2020, vgl. auch den kritischen Kommentar unter Ziffer 1, oben Rn 8).
B. Buchauszüge, Gastbeiträge, Leserbriefe, Onlinekommentare, Teaser
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SRF durfte einen Online-Kommentator sperren, weil er die SRF-Redaktion wiederholt beleidigt und damit gegen die Nutzungsbedingungen verstossen hatte. So hatte er in einem Kommentar die Online-Redaktor/innen als «selbstherrliche, anonyme Kontrolleure» einer «Zensurabteilung» bezeichnet, in einem zweiten hatte er gefragt, ob «wieder mal ein A am Werk» sei beim Kontrollieren, im dritten hatte er sein Gegenüber herausgefordert, ob er «kein Berufsethos habe». Gemäss Presserat ist die Bezeichnung eines Mitarbeiters als A (Arschloch) ein so krasser Verstoss, dass der Entzug des Zugangs unter den Bedingungen der Netiquette (welche der User mit seiner Anmeldung akzeptiert) ohne jede Frage gerechtfertigt sei. Der Presserat fordert SRF aber auf, dem Nutzer mitzuteilen, wie lange diese Sperre gelte. Eine zeitlich unbegrenzte Sperre sei im konkreten Fall nicht zu rechtfertigen (Stellungnahme 79/2020).
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Kommentar: Dieser Entscheid des Presserates ist zu begrüssen. Er könnte bei einer allfälligen Diskussion rund um das Deplatforming (dauerhafte Löschung eines Users von Social-Media-Plattformen) herangezogen werden.
4. Begründungspflicht (Art. 9 Geschäftsregl.)
31
Beschwerdeführer müssen einen konkreten Sachverhalt schildern und auf konkrete Ziffern des Journalistenkodex Bezug nehmen. Ansonsten tritt der Presserat auf die ganze Beschwerde oder Teile davon nicht ein. So stehe es dem Presserat zum Beispiel nicht an, über die allgemeine Haltung oder die Berichterstattung eines Mediums generell zu befinden. Besonders nicht, wenn die Berichterstattung des «Blick» als stellvertretend für alle «Mainstream-Medien» angeführt wird, wie dies eine Beschwerdeführerin machte. Der «Blick» berichte einseitig über die Coronakrise. Kritische Haltungen gegenüber den behördlich verhängten Massnahmen in der Coronakrise würden als Verschwörungstheorien abgetan oder in die «rechte Ecke» gestellt. Damit ein Verstoss geltend gemacht werden kann, muss ein konkreter Sachverhalt benannt werden und ist die Verletzung einer Ziffer der «Erklärung» zu begründen (Stellungnahme 83/2020).
III. Wahrhaftigkeit und Transparenz
1. Meinungspluralismus (RL 2.2)
32
Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
2. Wahrheitsgebot (Kodex Ziff. 1 und 3, RL 1.1)
A. Belegen von Fakten
33
Der Presserat sieht die Anforderungen an die Wahrheitspflicht erfüllt, obwohl ein Journalist bei einem Artikel über einen Pachtstreit einzig auf die Aussagen der Pächter abstellt und keine zumutbaren Recherchen unternommen hat, um deren Aussagen zu verifizieren. Die Pächter werfen dem Verpächter im Artikel vor, er habe «im Dorf und darüber hinaus» verbreitet, dass die Pächter Schmarotzer seien und auf dem Hof lebten ohne Pacht zu bezahlen. Weiter habe der Verpächter die Autonummern von Kunden des Hofladens notiert, um diese dann anzurufen und sie vor den beiden «Schmarotzern zu warnen». (Stellungnahme 10/2020).
34
Kommentar: Dieser Entscheid öffnet einem Verdachts- und Gerüchtejournalismus Tür und Tor, da der beurteilte Artikel sich einzig auf eine Quelle abstützt, die zudem wenig tragfähig ist. Die zitierten Pächter sind Betroffene des Streites und damit Partei. Unter dem Aspekt des Wahrhaftigkeitsgebotes genügt es nicht, eine Information auf nur eine – zudem klar parteiische – Quelle abzustützen, auch wenn dem Kritisierten im Artikel Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Stellungnahme kann nicht eine tragfähige zweite Quelle ersetzen (vgl. Stellungnahme 77/2020 unten) . Zudem widerspricht der Entscheid der langjährigen klaren Praxis des Presserates, dass einseitige, subjektive Erfahrungsberichte nur veröffentlicht werden dürfen, wenn sich die Fakten nur mit unverhältnismässigem Aufwand verifizieren lassen (vgl. etwa Stellungnahmen 30/2016; 28/2016; 18/2016; 38/2015). Im konkreten Fall wäre es etwa mit verhältnismässigem Aufwand möglich gewesen, bei Bewohner/innen des Dorfes und Kunden des Hofladens nachzufragen, ob der Verpächter die Pächter tatsächlich als «Schmarotzer» bezeichnet hatte.
35
Stützt ein Medium sich nur auf eine (anonymisierte) Quelle, wird dieser Mangel nicht dadurch geheilt, dass die kritisierte Person ausführlich zu den Vorwürfen Stellung nehmen kann. Deshalb rügt der Presserat die Zeitschrift «Vigousse», die sich in einem Artikel über das Privatradio Rouge FM nur auf einen ehemaligen Mitarbeiter stützte und die Vorwürfe im Wechsel mit Stellungnahmen der Geschäftsführerin des Radios publizierte (Stellungnahme 77/2020).
36
Der Presserat rügt die «Basler Zeitung», weil sie schrieb, in 98 Prozent der Fälle entspreche die Kesb Solothurn nicht den Bedürfnissen und Wünschen ihrer Kunden. Gemäss Presserat weist die Statistik ganz andere Zahlen aus: «Es sind nur 2,2 Prozent der 8630 Solothurner Kesb-Verfahren im Jahr 2019, in denen Beschwerde erhoben wird. In 97,8 Prozent der Fälle bleiben die Entscheide unangefochten. Und nur gerade 6 der 192 Beschwerden hat das Solothurner Verwaltungsgericht ganz oder teilweise gutgeheissen.» (Stellungnahme 89/2020).
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Gemäss Presserat durfte «Watson» schreiben, dass Ken Jebsen «ein ehemaliger Moderator (ist), der vor fast zehn Jahren seinen Job beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) aufgrund von Antisemitismus verlor – damals bezeichnete er den Holocaust als PR.» Ein Beschwerdeführer bestritt dies und verwies zum Beweis auf die damalige Presseerklärung des Rundfunks Berlin Brandenburg. Die Pressemitteilung sprach davon, man habe Jebsen lange gegen Vorwürfe des Antisemitismus und des Holocaust-Leugnens verteidigt, jetzt aber trenne man sich, weil Jebsen sich wiederholt nicht an journalistische Standards und getroffene Vereinbarungen gehalten habe. Gemäss Presserat belegt der Wortlaut dieser Erklärung nicht die These des Beschwerdeführers, dass Antisemitismus bei Jebsens Entlassung keine Rolle gespielt habe. Sie lasse den Grund für die Trennung vielmehr offen, spreche nur von einem Nicht-Einhalten von getroffenen Vereinbarungen, sage aber nicht, was für Absprachen das gewesen seien. Daraus schliesst der Presserat, dass insgesamt weder eine Verletzung von Ziffer 1 (Wahrheit) noch Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen, Entstellen von Meinungen) der «Erklärung» mit dem Hinweis auf die Presseerklärung des rbb belegt sei und weist die Beschwerde in diesem Punkt ab (Stellungnahme 68/2020).
38
Die «Basler Zeitung» verstiess gegen das Gebot zur Wahrhaftigkeit, weil sie in einem Artikel über die Gewerkschaft Unia von «Sex-Affären» im Plural schrieb, obwohl nur eine «Sex-Affäre» belegt ist. Zulässig war hingegen im gleichen Text die Formulierung «Sex- und Mobbing-Affären», weil sich der Plural in diesem Fall auf die Summe der Affären (sowohl wegen Mobbing wie auch wegen einer sexuellen Belästigung) bezogen hat (Stellungnahme 71/2020).
39
Der «Beobachter» verstiess mit zwei falschen Informationen gegen das Gebot der Wahrhaftigkeit. Die Zeitschrift behauptete, das «Berner Heimatwerk» sei in Schieflage geraten, weil «… eine frühere Geschäftsführerin Geld hinterzogen haben soll. Davon hätten sich die Berner Heimatwerke nie erholt, so ein Insider.» Die Genossenschaft sei nun in Liquidation. Tatsache ist, dass die Hinterziehung der Geschäftsführerin nur maximal 7000 Franken betrug und nicht entscheidend war für die finanziellen Probleme des Heimatwerks. Zudem trifft es gemäss Presserat nicht zu, dass das «Berner Heimatwerk» in Liquidation ist.
40
Spätestens als die ehemalige Geschäftsführerin nach der Print-Publikation die falschen Informationen gegenüber dem «Beobachter» kritisiert habe, hätte der «Beobachter», der sich auf zwei anonymisierte Quellen stützte, gemäss Presserat nachrecherchieren und den Online-Text korrigieren müssen. Das gilt gemäss Presserat, selbst wenn die beiden Quellen anfänglich als zuverlässig gegolten haben (Stellungnahme 72/2020).
41
Auch ein Editorial oder ein Kommentar muss die Sorgfaltspflichten des Journalistenkodex beachten. So muss etwa die Stellungnahme einer Behörde erfragt werden, der eine Redaktion Vorwürfe macht. Deshalb rügt der Presserat ein Editorial in der Zeitschrift «L’illustré», das in einem konkreten Fall die Funktionsfähigkeit der Genfer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde in Frage stellte, ohne sich auf konkrete Belege zu stützen und ohne mit der Behörde selbst vorgängig das Gespräch gesucht zu haben (Stellungnahme 75/2020).
42
Kommentar: Die Stellungnahme ist diffus. Es bleibt unklar, ob der Presserat einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht oder gegen das Fairnessprinzip rügt. Mit anderen Worten: Hätte die Behörde befragt werden müssen, um den Vorwurf sauber zu belegen? Oder hätte sie mit einem (belegbaren) Vorwurf konfrontiert werden müssen? Trifft ersteres zu, geht der Entscheid zu weit, wenn der Presserat damit die Konsultation einer konkreten Quelle vorschreibt, die er in anderen Stellungnahmen zudem nicht als gültige zweite Quelle gelten lässt (vgl. Stellungnahme 77/2020). Hätten die Vorwürfe mit anderen Quellen belegt werden können, muss dies unter dem Aspekt Wahrheitspflicht genügen. Zudem bleibt unklar, ob der Presserat den Vorwurf als schwer einstuft, was es unter dem Aspekt des Fairnessprinzips nötig machen würde, eine Stellungnahme einzuholen.
43
Kann eine Redaktion Informationen belegen, muss sie auf das Angebot nicht eingehen, einen Augenschein zu nehmen oder weitere Auskunftspersonen zu befragen (die einem Kritisierten günstig gesinnt sind) (Stellungnahme 86/2020).
B. Formulierungen von Frontantriss, Titel, Lead, Bildlegenden
44
Zuspitzungen im Titel sind medienethisch vertretbar, wenn sie durch die recherchierten Fakten gedeckt sind und früh im Lead oder zu Beginn des Textes in einen differenzierten Kontext gestellt werden.
45
Die beiden Titel «Abschiedsparty für 53’000 Franken» und «unbewilligtes 53’000-Franken-Fest in der Psychiatrischen Klinik» im Boten der Urschweiz waren gemäss Presserat nicht nur zugespitzt, sondern unwahr. Im Betrag von 53’000 Franken war nämlich auch ein Fachsymposium mit namhaften Referenten eingeschlossen, das einen Grossteil der Summe kostete (Stellungnahme 45/2020).
46
Der Lead «Die Skandalfirma MS Direct betreibt für Coop ein Callcenter in Muttenz BL. Dort herrschen gruusige Zustände – aber die Chefin garniert ein Traumsalär» ist gemäss Presserat nicht zu beanstanden, obwohl die kritisierten Zustände zum Zeitpunkt der Publikation teilweise nicht mehr bestanden haben. Schimmel und das Leck in der Decke waren inzwischen behoben. Entlastend ist gemäss Presserat ins Feld zu führen, dass zum einen die Spitzmarke «Ex-Mitarbeitende der Firma MS Direct packen aus: (…) » auf die Vergangenheit verweist, zum anderen im Lauftext der Satz «Und ein Jahr lang sei das Dach undicht gewesen» in der Vergangenheitsform steht. Zudem akzeptiert der Presserat die Zuspitzungen «Schimmel, Schikane, schäbige Löhne, Skandalfirma, gruusige Zustände» in Titel und Lead, obwohl sie nicht relativiert werden. Grund: Weil sich die Firma zu keiner Antwort bemüssigt sah und Gegenargumente erst durch ihren Anwalt in der Beschwerdeschrift lieferte. Am problematischsten erachtet der Presserat den Ausdruck «Skandalfirma». Er wertet ihn als für eine Gewerkschaftszeitung gerade noch zulässige Zuspitzung, angesichts des übrigen Textes aber hart an der Grenze zur Überspitzung (Stellungnahme 47/2020).
47
Kommentar: Da hat die Zeitschrift «Work» offenbar schwere Vorwürfe erhoben, die zum Zeitpunkt der Publikation nicht mehr zutrafen. Der Presserat gibt der kritisierten Firma die Schuld für diesen Umstand, weil sie innert knapper Frist nicht Stellung genommen und die Angelegenheit nicht ins richtige Licht gerückt hat. «Work» hat aber offenbar gewusst oder zumindest geahnt, dass die Mängelbeschriebe alt waren und möglicherweise nicht mehr der Wahrheit entsprachen. So schrieb die Zeitschrift von «Ex-Mitarbeitenden», welche die Vorwürfe erhoben haben, und davon, dass das Dach «ein Jahr lang» undicht gewesen sei. Wenn «Work» im Artikel aber den Eindruck erweckt, die Mängel bestünden auch heute noch, ist dies ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht. Entweder hat die Zeitschrift bewusst falsche Informationen publiziert oder aber die Informanten, auf die sie sich stützte, unvollständig befragt, obwohl es Hinweise gab, dass die Mängel heute nicht mehr bestehen. Diese Sorgfaltspflichtverletzungen werden nicht dadurch geheilt, dass die kritisierte Firma nicht Stellung genommen hat. Kritisierte dürfen schweigen. Journalist/innen müssen ihren Job unabhängig von deren Stellungnahme machen und nur das schreiben, was sorgfältig belegbar ist. Dies erkennt der Presserat in anderen Stellungnahmen (vgl. etwa 77/2020) klar und deutlich. Wieso nicht auch hier?
48
Die Titel «Im schlimmsten Fall gibt es bei uns 30’000 Tote» (20 Minuten) und «Es könnte drei Millionen Infizierte in der Schweiz geben» (Blick) fassen gemäss Presserat den Inhalt eines Interviews mit dem Epidemiologen Christian Althaus in der NZZ zwar korrekt zusammen. Aber die Titel hätten nicht in Anführungszeichen gesetzt werden dürfen, weil Althaus diese Äusserungen nicht wörtlich so gemacht hat. Der Experte hatte auf die Frage der NZZ «Es könnte also drei Millionen Infizierte in der Schweiz geben. Bei einer Sterblichkeit von einem Prozent sprechen wir von 30’000 Toten» die Antwort gegeben: «Ja, ein solches Worst-Case-Szenario ist nicht ausgeschlossen» (Stellungnahme 62/2020).
49
Der Begriff «Klimaleugner» darf auch für Personen verwendet werden, die den Klimawandel zwar nicht leugnen, aber abstreiten, dass er auf das Verhalten der Menschen zurückzuführen ist. Dabei ist gemäss Presserat aber immer darauf zu achten, dass die präzise Haltung der betreffenden Person oder Institution im Kontext genauer beschrieben wird. Im konkreten Fall hat die «NZZ am Sonntag» eine Person Klimaleugner genannt, die sich mit der Aussage zitieren liess, dass «der menschgemachte Klimawandel wissenschaftlich umstritten ist». Dadurch war gemäss Presserat der Anforderung des Wahrheitsgebots, wenn auch nur sehr knapp, Genüge getan (Stellungnahme 19/2020).
50
Als «Nationalsozialist» darf gemäss Presserat bezeichnet werden, wer auf seinem öffentlichen Facebook-Account dem «Onkel» (gemeint sei damit Adolf Hitler) zum Geburtstag gratuliert (der Gruss an den Führer wird mit «GruSS» buchstabiert); das Bild einer Pistolenpatrone zeigt mit dem Text «Die Pille für kriminelle Ausländer und soz. Schmarotzer, schnell wirksam, 100% sicher» und das Bild eines schwarzen Steines, bemalt mit dem Totenkopfsymbol und den SS-Runen links und rechts davon. «Wer nicht als Anhänger des Nationalsozialismus gesehen werden will, verbreitet sicher nicht derartiges nationalsozialistisches Bildmaterial, jedenfalls nicht ohne gleichzeitig klar zu machen, dass man sich vom Inhalt entschieden distanziert», schreibt der Presserat (Stellungnahme 30/2020).
C. Unterschlagen von Informationen (Kodex Ziff. 3)
51
Die «Basler-Zeitung» verletzt gemäss Presserat den Journalistenkodex, weil sie bei einer kurzen Schilderung eines Falles unterschlagen hat, dass ein ausführliches psychiatrisches Gutachten vorliegt, das eine zentrale strittige Frage untersucht (Kindswohlgefährdung). Gemäss Presserat muss in einem kurzen Fallbeschrieb zwar nicht jedes Aktenstück aufgezählt werden, doch ein qualifiziertes Aktenstück muss erwähnt werden, wenn es um eine zentrale Frage des beschriebenen Falles geht (Stellungnahme 89/2020).
3. Umgang mit Gerüchten und Verdächtigungen
52
Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
4. Umgang mit Quellen
(Kodex Art. 3 und 6, RL 3.1, 3.2, 3.3, 6.1, 6.2, a.1)
53
Bei der Berichterstattung über einen seit langem schwelenden Konflikt über die Ostschweizer Kunstturnerszene durfte das «St. Galler Tagblatt» die Quellen anonymisieren, die dem Präsidenten Verfehlungen vorwarfen. Der Presserat erachtet diese Anonymisierung zum Zwecke des Quellenschutzes für gerechtfertigt. Eine Berichterstattung sei «in einem derart konfliktgeladenen Bereich in der Regel nur möglich, wenn die Quellen geschützt werden» (Stellungnahme 11/2020).
54
Die Zeitschrift «Vigousse» durfte einen ehemaligen Mitarbeiter des Privatradios Rouge FM in einem Artikel über seine frühere Arbeitgeberin aus Gründen des Quellenschutzes anonymisieren (Stellungnahme 77/2020).
55
Der «Tages-Anzeiger» hat dem umstrittenen Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen zu Unrecht ein Zitat in den Mund gelegt. Was zwischen Anführungs- und Schlusszeichen steht, gilt als Zitat. Es muss also belegt sein, dass die zitierte Person, dies auch so gesagt hat. So schrieb der Journalist, Ken Jebsen «bediene antisemitische Ressentiments gegen den angeblichen ‹Juden-Kapitalismus›». «Juden-Kapitalismus» wurde in Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt, obwohl der Journalist nicht belegen konnte, dass Ken Jebsen diese Bezeichnung je verwendet hatte. Der «Tages-Anzeiger» verteidigte das Zitat mit dem Argument, der Begriff sei nicht als Zitat gemeint gewesen, sondern bloss als Beispiel für die von Jebsen bedienten antisemitischen Ressentiments. Das lässt der Presserat nicht gelten: «Wer einen Begriff in einem Satz, der die Denkweise einer Person beschreibt, in Anführungszeichen setzt, schreibt ihn dieser Person zu.». Gemäss Presserat verletzt das unbelegte Zitat Art. 3 des Journalistenkodex, weil die von Ken Jebsen geäusserte Meinung entstellt wurde (Stellungnahme 70/2020).
56
Obwohl die «Freiburger Nachrichten» im Mantelteil Texte von Tamedia übernommen hatten, durfte die Lokalzeitung schreiben, dass es sich um Recherchen «dieser Zeitung» handelt und um Dokumente, die «dieser Zeitung» vorliegen, oder um Aussagen, die gegenüber «dieser Zeitung» gemacht wurden. Gemäss Presserat ist entscheidend, dass die «Freiburger Nachrichten» letztlich auch für den Mantelteil die publizistische Verantwortung tragen. Deshalb sieht der Presserat in der Bezeichnung «dieser Zeitung» keine Verletzung der Pflicht zur korrekten Quellenangabe, obwohl die «Freiburger Nachrichten» wohl nicht immer Zugang auch zu allen Quellen der von Tamedia übernommenen Artikel erhalte. Allerdings kritisiert der Presserat die fehlende Transparenz. Er empfiehlt Medien, direkt in der Autorenzeile die Herkunft von Artikeln zu deklarieren, die sie von verlagsexternen Lieferanten beziehen (Stellungnahme 73/2020).
57
Auch eine Medienmitteilung eines Schweizer Universitätsspitals muss nachrecherchiert werden, wenn sie missverständliche Formulierungen aufweist. Gemäss Presserat gehört es gerade beim sensiblen Thema Corona zum «üblichen und angemessenen Mass journalistischer Sorgfaltspflicht im Berufsalltag», an der grundsätzlichen wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit einer Medienmitteilung eines schweizerischen Universitätsspitals zu zweifeln. Das Universitätsspital Zürich (USZ) hatte im ersten Satz des Leads einer Medienmitteilung vermeldet, dass 10 Prozent der Covid-19-Patienten lebensbedrohlich erkranken und intensivmedizinische Behandlung benötigen. Doch diese Aussage war nicht das Ergebnis der Studie des USZ, über welche in der Medienmitteilung berichtet werden sollte, sondern nur eine Einleitung, welche die praktische Wichtigkeit der neuen Studie unterstreichen sollte. Unklar blieb in der Einleitung auch, wer mit «Covid-Patienten» gemeint ist? Je nachdem, ob man darunter positiv Getestete versteht oder nur Menschen mit Symptomen, oder nur solche, die als «Patienten» bereits in ärztlicher Behandlung stehen, oder sogar nur im Spital Befindliche, ergeben sich vollkommen verschiedene Schlussfolgerungen, vollkommen andere Bedeutungen der Meldung. Das muss in einer solchen Lage geklärt werden, bevor man publiziert. Der Presserat rügt «Watson», «Aargauer Zeitung, «St. Galler Tagblatt» und «Pilatus Today» weil sie keine Rückfragen beim USZ gemacht und getitelt hatten: «10 Prozent der bestätigten Fälle haben schweren Verlauf» (Watson), respektive «10 Prozent aller Covid-19-Patienten schweben in Lebensgefahr» (Aargauer Zeitung). «higgs.ch» und Die «NZZ am Sonntag» haben hingegen ihre Sorgfaltspflichten erfüllt, weil sie bei der Medienstelle des USZ, resp. dem konkreten Studienleiter nachgefragt haben. Dass alle vier Medien die 10-Prozent-Aussage fälschlicherweise der Zürcher Studie zugeordnet haben, ist gemäss Presserat ein untergeordneter Fehler, der knapp keine Rüge begründet (Stellungnahme 91/2020).
5. Trennung von Information und Kommentar (RL 2.3)
58
Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
6. Berichtigungspflicht (Kodex Ziff. 5, RL 5.1)
59
Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
IV. Fairness
1. Allgemeine Grundsätze (Präambel)
60
Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr
2. Einholen von Stellungnahmen (RL 3.8, 3.9)
61
Werden schwere Vorwürfe von einem Interviewpartner erhoben, müssen ebenfalls Stellungnahmen der Kritisierten eingeholt werden. Sind diese Stellungnahmen durch eine vorgängige Berichterstattung bereits bekannt, muss der Interviewer diese Positionen in die Fragestellung einbauen. In einem Interview, das in zahlreichen CH-Media-Titeln abgedruckt wurde, erhob ein abgesetzter Unia-Regionalsekretär schwere Vorwürfe gegen die nationale Geschäftsführung der Unia. Er zeichnete das Bild einer undemokratisch geführten Gewerkschaft, die Mitgliederbeiträge versickern lasse und Kritiker der eigenen Basis «kaltstelle» und «wegmobbe». Mit diesen Vorwürfen hätte die Redaktion gemäss Presserat Unia-Präsidentin Vania Alleva und die nationale Unia-Geschäftsleitung vor der Publikation zwingend konfrontieren müssen, sofern sie gänzlich oder in ihrer Schwere neu waren. Falls dies nicht der Fall war – wenn also die Angegriffenen mit denselben Vorwürfen schon im Vorfeld der Publikation des Artikels vom 6. April 2019 konfrontiert worden waren –, hätten deren Standpunkte im Interview wenigstens kursorisch wiedergegeben werden müssen, sei es in den Fragen oder in einem Begleittext (Stellungnahme 39/2020).
62
Selbst wenn eine kritisierte Person anonymisiert ist, muss bei besonders schweren Vorwürfen (klar illegales Verhalten) eine Stellungnahme eingeholt werden, falls sie für ihr berufliches Umfeld trotzdem erkennbar ist. Deshalb rügt der Presserat den «Beobachter», der einer ehemaligen Geschäftsführerin des «Berner Heimatwerkes» vorwarf, Geld hinterzogen zu haben und so die Liquidation des «Berner Heimatwerks» (mit)verursacht zu haben, diese aber nicht mit den schweren Vorwürfen konfrontierte (Stellungnahme 72/2020).
63
Kommentar: Diese Stellungnahme ist richtig und wichtig. Sie ist für Journalistinnen und Journalisten besonders bemerkenswert, weil die darin statutierte Sorgfaltspflicht nicht der bisher von Medien geübten Praxis entspricht.
A. Schwerer oder leichter Vorwurf
64
Gemäss Richtlinie 3.8 des Presserates sind Kritisierte nur, aber immerhin bei schweren Vorwürfen anzuhören. Laut seiner ständigen Praxis wiegt ein Vorwurf dann schwer, wenn jemandem ein illegales oder damit vergleichbares unredliches Verhalten vorgeworfen wird.
65
Als schweren Vorwurf hat der Presserat im Berichtsjahr unter anderem bezeichnet:
- den Vorwurf des «Tages-Anzeigers», Ständerat Roland Eberle habe am Frauenstreiktag zwei Frauen mit Wasser übergossen und eine obszöne Geste gemacht (Stellungnahme 27/2020);
- den Vorwurf des «St. Galler Tagblatts», ein Anwalt sei mit 10’000 Franken gebüsst worden, weil er übersetzte Honorare verlangt habe; er habe ein Treuhandkonstrukt erarbeitet, um seine Vermögensverhältnisse zu verschleiern (Stellungnahme 54/2020);
- der Vorwurf des «Beobachters» gegenüber einer früheren Geschäftsführerin des «Berner Heimatwerks», Geld hinterzogen zu haben (Stellungnahme 72/2020);
- den Vorwurf des «Boten der Urschweiz» gegen den Stiftungsrat eines Altersheims, er schaffe «durch sein eigenmächtiges Auftreten ein ‹Klima der Angst›». Er mische sich laufend ins operative Geschäft ein und dies mit unlauteren Methoden, begünstige Mobbing, Denunzierungen, Diskriminierungen, Demütigungen, verbale Attacken, Schikanierungen bis hin zu handgreiflichen Auseinandersetzungen (Stellungnahme 80/2020);
- den Vorwurf der Zeitschrift «Work», die Firma MS Direct lasse Mitarbeiter in «schmutzigen Büros» mit Schimmel arbeiten; es herrschten «gruusige Zustände». Die Mitarbeiter müssten «Schikanen», «Demütigungen und Ungerechtigkeiten» und «Anschreien» über sich ergehen; sie erhielten nur «schäbige Löhne». Die Firma unterbiete zudem den Mindestlohn von 18.27 Franken. Diese Vorwürfe sind gemäss Presserat geeignet, die Reputation der Firma nachhaltig in Mitleidenschaft zu ziehen und sind damit schwer. (Stellungnahme 47/2020);
- den Vorwurf der «Basler Zeitung» an die Gewerkschaft Unia, sie sei «undemokratisch», der Interimsleiter sei eingestellt worden, «um radikal alle Personen aus dem Weg zu räumen, die sich nicht zu 100 % mit dem Regime einverstanden erklären». Diese Vorwürfe sind gemäss Presserat zweifellos geeignet, die Gewerkschaft als demokratisch strukturierte Organisation, die sich für Arbeitnehmer einsetzt, in ihrer Reputation zu verletzen. Erst recht gilt dies für den Vorwurf, jemanden gestützt zu haben, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird. Entsprechend bestand die Pflicht, die Unia anzuhören (Stellungnahme 71/2020).
66
Kommentar: Laut bisheriger Praxis des Presserates wiegt ein Vorwurf schwer, wenn ein illegales oder damit vergleichbares unredliches Verhalten vorgeworfen wird. In den beiden obgenannten Stellungnahmen qualifiziert der Presserat die Vorwürfe als schwer, weil die kritisierte Person oder Organisation in ihrer Reputation verletzt werde. Mit diesem diffusen Kriterium scheint der Presserat seinen Katalog schwerer Vorwürfe zu erweitern. Davon ist abzuraten, weil er sonst seine bewährten Kriterien verwässert und Steuerungswirkung verliert. Der Presserat hätte erstens prüfen müssen, ob «Work» der Firma «MS direct» oder die «Basler Zeitung» der Unia strafbares Verhalten vorwerfen. Dies trifft in den beiden Fällen nur auf den ehrenrührigen Vorwurf zu, die Unia habe einen sexuellen Belästiger geschützt. Zweitens hätte der Presserat prüfen müssen, ob die Vorwürfe ein mit illegalem Verhalten vergleichbares unredliches Verhalten umschreiben. Auch dies ist m.E. bei den Vorwürfen nicht gegeben, die Unia sei «undemokratisch» und habe einen Interimsleiter eingestellt, «um radikal alle Personen aus dem Weg zu räumen, die sich nicht zu 100 % mit dem Regime einverstanden erklären». Bei den Vorwürfen von «Work» gegen die «MS Direct» ist dies hingegen wohl gegeben.
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Als leichten Vorwurf, zu dem Betroffene nicht angehört werden müssen, hat der Presserat bezeichnet:
- den Vorwurf einer Watson-Journalistin, die Facebook-Gruppe «Stillen Schweiz» propagiere ein antiquiertes Rollenbild, Mitglieder seien einem «enormen Druck» ausgesetzt, wenn man nicht mehr stille, und Mitglieder hätten einen «Horror-Start ins Elternleben» (Stellungnahme 1/2020);
- den Vorwurf einer 20-Minuten-Journalistin, eine Primarschule nehme in Kauf, dass Kinder kollabieren, wenn sie bei ausserordentlicher Hitze bei einer Papiersammlung mitwirken müssen. Gemäss Presserat wird der Schule nur indirekt der Vorwurf gemacht, sie verletze ihre Fürsorgepflicht (Stellungnahme 43/2020);
- den Vorwurf des Onlinemagazins «Das Lamm», die Tages-Anzeiger-Journalistin Michèle Binswanger betreibe eine Hetzkampagne gegen Jolanda Spiess-Hegglin. «Hetzkampagne» ist gemäss Presserat zwar ein scharfer Ausdruck, aber im Rahmen einer ohnehin klar als kommentierend erkennbaren Textpassage sei er zulässig, da er zwar Verwerfliches, aber kaum Illegales impliziere (Stellungnahme 61/2020);
- den Vorwurf der «Berner Zeitung», das Berner Kurzfilmfestival Shnit habe seine Unterlagen zu spät und unvollständig eingereicht.
B. Frist zur Stellungnahme; Präzisierung der Vorwürfe
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Bei einem schweren Vorwurf muss genügend Zeit aufgewendet werden, um den Betroffenen für eine Stellungnahme zu erreichen. Mehrmalige Kontaktversuche innert weniger Stunden genügen nicht. Der Zeitdruck im Online-Journalismus rechtfertigt keine Verkürzung von Fristen. Deshalb rügte der Presserat die «SonntagsZeitung». Sie hatte am 15. Juni 2019 vermeldet, dass SVP-Ständerat Roland Eberle von seiner Wohnung aus zwei Teilnehmerinnen des Frauenstreiktages mit Wasser übergossen und eine obszöne Geste gemacht habe. Wie sich herausstellte, war Eberle gar nicht vor Ort und die Meldung falsch.
69
Die «SonntagsZeitung» stützte sich auf die beiden betroffenen Frauen, die glaubten, den Ständerat erkannt zu haben, und auf die Tatsache, dass an der Hausklingel Eberles Namen beschriftet war. Den SVP-Ständerat habe man trotz mehrmaligen Kontaktversuchen nicht für eine Stellungnahme kontaktieren können, verteidigte sich Tamedia. Von einem Politiker könne aber erwartet werden, dass er auch am Samstag erreichbar sei. Dem widerspricht der Presserat in klaren Worten: «Ob die Öffentlichkeit von einem derartigen Vorfall einen Tag früher oder später erfährt, ändert inhaltlich nichts. Die Redaktion hätte abwarten müssen, bis sie Roland Eberle mit dem Vorwurf hätte konfrontieren können. Dass die Redaktionen immer schneller arbeiten, um online sofort präsent zu sein, wie Tamedia das zu bedenken gibt, ist ihre eigene Politik; sie können sich nicht darauf berufen, wenn sie sich gerade deswegen zu wenig Zeit für gründliches Arbeiten nehmen.» (Stellungnahme 27/2020)
70
Eine Frist von einem Tag für eine Firma genügt knapp, um 16 detaillierte Fragen zu Arbeitsbedingungen in einer Filiale zu beantworten. «Eine Antwortfrist von einem Tag ist angesichts des umfassenden Fragenkatalogs knapp genügend.» (Stellungnahme 47/2020).
71
Hat eine Redaktion wiederholt zur Stellungnahme aufgefordert, der Kritisierte die Gelegenheit zur Antwort aber nicht wahrgenommen, dürfen schwere Vorwürfe auch ohne Dringlichkeit publiziert werden, wenn die kritisierte Person bereits bei früheren Gelegenheiten eine Verzögerungstaktik angewandt hat. Zudem hat im konkreten Fall die kritisierte Person am Tag darauf ihre Sicht der Dinge in einem Inserat dargelegt. Gemäss Presserat darf es nicht sein, dass ein Kritisierter einen Bericht verhindern kann, wenn er sich weigert, Stellung zu nehmen (Stellungnahme 80/2020).
C. Recht zur Autorisierung (RL 4.5 und 4.6)
72
Es ist unzulässig, einem kritisierten Unternehmen die vorgängige Sichtung von (Video-) Material nur unter der Bedingung zu erlauben, dass das Unternehmen zusichert, vor Ort eine Stellungnahme vor der Kamera abzugeben. Da die «Rundschau» in der Folge auf diese Bedingung verzichtete, war der Journalistenkodex gemäss Presserat im konkreten Fall nicht verletzt (Stellungnahme 5/2020).
73
in Schulleiter muss bei einem längeren Recherchegespräch auf sein Recht zur Autorisierung der Zitate aufmerksam gemacht werden. Er ist gemäss Presserat nicht mediengewandt (Stellungnahme 43/2020).
74
Kommentar: Von Schulleitern erwartet die Öffentlichkeit wohl zu recht, dass sie die Schule auch gegen aussen vertreten können und deshalb mediengewandt sein müssen. Deshalb ist die fehlende Mediengewandtheit in diesem Fall der falsche Ansatzpunkt. Das Recht zur Autorisierung ergibt sich im konkreten Fall aber bereits daraus, dass es sich um ein längeres Recherchegespräch handelte, bei dem Gesprächspartner grundsätzlich darauf aufmerksam gemacht werden müssen, dass sie die daraus zitierten Passagen gegenlesen dürfen (vgl. Stellungnahme 39/2015).
D. Substitut für eine Stellungnahme
75
Kontaktieren Journalist/innen wie vorgeschrieben die Medienstellen der Arbeitgeber (ETH, Empa) einer kritisierten Person, untersagen diese eine direkte Kontaktnahme, leiten aber die Fragen nicht an die Kritisierten weiter, haben die Journalist/innen die Stellungnahmen korrekt einzuholen versucht und können schreiben, dass die kritisierten Personen und die Arbeitgeber nicht Stellung nehmen wollten (Stellungnahme 3/2020).
76
Berichten Medien korrekt über Gerichtsverhandlungen müssen sie keine Stellungnahmen des Beschuldigten einholen, auch wenn schwere Vorwürfe erhoben werden. Der Presserat erinnert an Richtlinie 3.9 , wonach unter anderem auf eine Stellungnahme unter anderem dann verzichtet werden kann, wenn sie sich auf «öffentlich zugängliche amtliche Quellen (z.B. Gerichtsurteile) stützen.» (Stellungnahme 54/2020).
E. Recherchegespräch
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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
3. Lauterkeit der Recherche
(Kodex Ziff. 4, RL 4.1, 4.2, 4.3, 4.4, 4.5, 4.6, 4.7)
78
Journalist/innen müssen ihren Beruf nicht nennen, wenn es um die Einholung einer grundsätzlich für jedermann zugänglichen Information geht. Die Pflicht der Journalisten, bei Recherchen ihren Beruf bekannt zu geben, dient gemäss Presserat primär dazu, Gesprächspartner von Medienschaffenden zu schützen. Interviewte sollen wissen, dass sie sich gegenüber einer Journalistin, einem Journalisten äussern. Und sie sollen darauf vertrauen können, dass Medien ihre persönlichen Äusserungen nicht ohne ihr Wissen und ihren Willen veröffentlichen. Der Presserat erachtet es hingegen als unverhältnismässig, die Regeln über die Verschleierung des Berufs und die verdeckte Recherche (Richtlinie 4.1) auch bei der Einholung von Informationen anzuwenden, die jedermann zugänglich sind.
79
Deshalb durfte eine Journalistin des Onlineportals Watson auf Informationen aus einer Zeit zurückgreifen, als sie noch als Betroffene Mitglied der (offenen) Facebook-Gruppe «Stillen Schweiz» war. Mit dem Rückgriff auf eigene frühere Erfahrungen in dieser Gruppe habe die Autorin keine Informationen erhalten, die sie nicht auch so erhalten hätte (Stellungnahme 1/2020).
80
Deshalb durfte eine Journalistin der NZZ über ein (öffentliches) Social-Justice-Seminar im Zürcher Helmhaus berichten, obwohl sie ihren Beruf nicht offenlegte, als sie an dem Workshop teilnahm (Stellungnahme 12/2020).
81
Wer Informationen in welcher Form auch immer von einem Berufskollegen, einer Berufskollegin ohne Quellenangabe in identischer und anlehnender Weise übernimmt, begeht ein Plagiat und handelt unlauter. Deshalb heisst der Presserat eine Beschwerde gegen einen Artikel auf seniorweb.ch gut und stellt eine Verletzung des Plagiatsverbots (Richtlinie 4.7) fest. Der Seniorweb-Autor hatte zugegeben, die Theaterrezension in weiten Teilen von einer Online-Publikation übernommen zu haben (Stellungnahme 32/2020).
82
Ein Aufruf des «Blick» zum Denunziantentum ist gemäss Presserat problematisch, führt aber nicht zu einer Rüge, da der «Blick» den Aufruf innert weniger Stunden abgeändert hat. So hat «Blick» am Tage vor der Einführung der Maskenpflicht im ÖV seine Leser/innen gefragt «Tragen Sie selbst eine Maske? Oder haben Sie Masken-Verweigerer angetroffen? Schicken Sie uns Videos und Fotos von Ihrem Arbeitsweg im ÖV via …». Später wurde der Passus «Oder haben Sie Masken-Verweigerer angetroffen?» ersetzt durch «Halten Sie sich an die bundesrätliche Masken-Verordnung? Oder sind Sie ein Masken-Verweigerer?». Dies ist gemäss Presserat angesichts der Schwere der Folgen der Corona-Pandemie zulässig (Stellungnahme 82/2020).
V. Schutz von Privatsphäre und Menschen-würde (Kodex Ziff. 7 und 8, RL 7.1, 7.2, 7.3, 7.7, 8.1, 8.2, 8.3)
1. Schutz der Privatsphäre
A. Spezifische Informationen zur Privatsphäre
83
Wer in einer Angelegenheit von sich aus an die Öffentlichkeit tritt, muss sich gefallen lassen, dass sein Name in den Medien genannt und sein Hintergrund (Beruf, Qualifikation, politische Haltung) ausgeleuchtet wird. Hingegen ist es nicht statthaft, auch über private Verhältnisse zu berichten, die mit der Angelegenheit nichts zu tun haben – wie etwa: getrennt lebend, Streit um die Betreuung eines Kindes etc. Deshalb rügt der Presserat die «Aargauer Zeitung», die solche Details über einen Einsprecher gegen das Aarauer Fussballstadion öffentlich machte, der zuerst von sich aus in dieser Sache an die Öffentlichkeit getreten war (Stellungnahme 90/2020).
B. Berichterstattung mit Namensnennung
84
Stephan Mumenthaler, FDP-Fraktionspräsident im Basler Grossen Rat und Mitglied der Bildungskommission, durfte von der «Basellandschaftlichen Zeitung» mit Namen genannt werden, als sie darüber berichtete, dass Mumenthaler – ein Politiker, der die Qualität der Basler Schulen regelmässig hart kritisiere, – seine Tochter über die Grenze ins Gymnasium im deutschen Lörrach schicke. Die Frage, wo Mumenthalers Kinder zur Schule gehen, betrifft gemäss Presserat inhaltlich direkt einen seiner politischen Tätigkeits- und damit auch Verantwortungsbereiche. «Ein führender Politiker, eine führende Politikerin im Bereich Bildungspolitik muss sich der – immer wieder einmal diskutierten – Frage stellen, wo er, wo sie die eigenen Kinder zur Schule schickt und weshalb. Diese Frage ist im Sinne der Transparenz in der politischen Diskussion von öffentlichem Interesse» (Stellungnahme 21/2020).
C. Anonymisierung
85
Betroffene sind genügend anonymisiert, wenn sie zwar von Arbeitskolleg/innen erkannt werden können, aber nicht von allgemeinen Dritten. So anonymisierte der «Tages-Anzeiger» einen Professor der Empa genügend, obwohl er von allen Mitarbeitenden erkannt werden konnte. Der Text war nämlich mit einem Bild illustriert, das einen Wasserkanal zeigte, für den der Professor zuständig war (Stellungnahme 3/2020).
86
Kommentar: Bei diesem Entscheid stellt sich die Frage, ob die Empa-MitarbeiterInnen wirklich einen «engen Kreis» bilden, wie der Presserat in E. 2 schreibt. Gemäss Empa – Zahlen und Fakten arbeiten dort rund 600 Personen. Es kann somit nicht nur darauf abgestellt werden, ob Arbeitskolleg/innen die anonymisierte Person erkennen, sondern auch darauf, wie gross dieser Kreis tatsächlich ist. Kombiniert mit den schweren Vorwürfen, um die es geht (Mobbing), ist die konkrete Stellungnahme des Presserats eher fragwürdig.
87
«Blick.ch» durfte in einem Artikel über den Tod eines Schweizers in Thailand dessen Namenskürzel veröffentlichen (Renzo N.), sein Alter, seinen thailändischen Wohnort und sein Autokennzeichen (erkennbar auf dem Foto des Autos, in dem der Schweizer tot gefunden wurde) und die Tatsache, dass er zwei Hunde gehalten habe. Damit wurde der Mann gemäss Presserat zwar für sein engstes soziales Umfeld erkennbar, nicht aber für eine breitere Öffentlichkeit. Dass sein Sohn in der Schweiz erst durch diese Publikation vom Tod seines Vaters erfahren hat, ist gemäss Presserat zwar bedauerlich aber kein Verstoss gegen den Journalistenkodex (Stellungnahme 49/2020).
88
Eine Tonaufnahme ohne verfremdete Stimme machte gemäss Presserat ein achtjähriges Mädchen nur für den engsten Kreis von Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld erkennbar. Deshalb verletzte «Bazonline.ch» durch die Veröffentlichung eines Therapiegesprächs eines Kindes diese Richtlinie nicht (wohl aber die Richtlinien 7.3 – besonderen Schutz von Kindern und 7.7 – besonderen Schutz von Opfern von Sexualdelikten; vgl. Ziffer V.1.E.). (Stellungnahme 88/2020)
D. Ungerechtfertigte Anschuldigungen (Kodex Ziff. 7)
89
Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
E. Besonderer Schutz von Kindern und von Opfern (RL 7.3, 7.7, 8.3)
90
«Bazonline.ch» hat den Schutz von Kindern bei Gewaltverbrechen (Richtlinie 7.3) als auch den Opferschutz bei Sexualverbrechen (Richtlinie 7.7) durch die Publikation der unverfremdeten Tonaufnahmen eines Gespräches eines achtjährigen Kindes mit seiner Therapeutin grob verletzt. Zwar ist das Kind gemäss Presserat nicht über den engsten sozialen Kreis von Familie, Freundinnen und Kollegen erkennbar (vgl. oben Ziffer V.1.C), doch verlangt Richtlinie 7.3, dass Kinder besonders zu schützen sind und dass im Fall von Gewaltverbrechen «höchste Zurückhaltung» angezeigt ist. Diese höchste Zurückhaltung hat «Bazonline.ch» gemäss Presserat eindeutig nicht angewendet, wenn das Kind mit seiner für Freund/innen und Kolleg/innen erkennbaren, unverfremdeten Stimme präsentiert wird, wie es die (sexuellen) Grausamkeiten seines Vaters und seine Angst vor diesem für jedermann zugänglich schildert. Richtlinie 7.7 (Sexualdelikte) geht gemäss Presserat noch weiter: Im Fall von Sexualverbrechen verlangt der Journalistenkodex, dass überhaupt keine Angaben gemacht werden, welche irgendeine Identifikation des Opfers ermöglichen – auch nicht durch das engste soziale Umfeld. Die Veröffentlichung der Aufnahme des Therapiegesprächs verletzt gemäss Presserat auch diese Richtlinie, weil das Mädchen durch die unverfremdeten Gesprächsmitschnitte für Familie, soziales und berufliches Umfeld erkennbar war.
91
Die Einwilligung des Kindes in die Veröffentlichung der beiden Audiofiles ist gemäss Presserat medienethisch unerheblich, weil die Achtjährige die Tragweite einer solchen Handlung nicht abschätzen konnte. Die Einwilligung der Mutter ist gemäss Presserat nicht gültig, weil davon auszugehen sei, dass in der Strafsache gegen den Vater eine Prozessbeiständin ernannt worden war. Dies habe zur Folge, dass die Zustimmung der Mutter zu einem derart wichtigen Schritt in der Auseinandersetzung zwischen ihr und ihrem Mann um das Schicksal des Kindes nicht rechtswirksam erfolgen konnte (Stellungnahme 88/2020).
92
Kommentar: Die Stellungnahme des Presserates ist detailliert und differenziert. Er trifft die richtigen Unterscheidungen und Präzisierungen. In der Stellungnahme fehlen einzig Überlegungen zum Argument von «Bazonline.ch», es bestehe ein besonders hohes Interesse und die Veröffentlichung sei quasi ultima ratio. Das Mädchen versuche seit einem Jahr seine Erlebnisse mit seinem Vater loszuwerden, doch niemand von der Kesb höre ihr zu. Die Tonaufnahmen seien bewusst gewählt worden, um der Leserschaft die Eindringlichkeit und Glaubwürdigkeit des Anliegens des Mädchens nachvollziehbar zu gestalten. Eine schriftliche Zusammenfassung hätte nicht den gleichen Effekt bezüglich Glaubwürdigkeit gehabt. Doch auch diese Argumente führen zu keinem anderen Resultat: Die Veröffentlichung der Gesprächsmitschnitte mit unverfälschter Stimme sind unverhältnismässig. Tonaufnahmen mit verfremdeter Stimme wären ebenso eindringlich gewesen, ohne das Mädchen für das engste soziale Umfeld erkennbar zu machen.
93
Mitunter ist es zulässig, dass Kinder indirekt über den Vater erkennbar werden, wenn dem Vater Verfehlungen vorgeworfen werden, die mit den Kindern zu tun haben. Ist dies für die Schilderungen der Vorwürfe so zentral, dass der Artikel sonst nicht geschrieben werden kann, ist dies nicht zu beanstanden. Deshalb weist der Presserat eine Beschwerde des Präsidenten des Regionalen Leistungszentrums Ostschweiz ab. Er hatte dem St. Galler Tagblatt vorgeworfen, dass die Zeitung seine drei Töchter in den Recherchen zu wenig geschützt habe (Richtlinie 7.3). Das St. Galler Tagblatt schilderte im Artikel unter anderem, dass der Präsident seine drei Töchter im Leistungszentrum habe trainieren lassen, ohne dass sie dafür qualifiziert und zum Teil auch nicht motiviert gewesen seien (Stellungnahme 11/2020).
2. Schutz der Menschenwürde und vor Diskriminierung
(Kodex Ziff. 8)
A. Menschenwürde
94
Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
B. Diskriminierung (Kodex Ziff. 8, RL 8.2)
95
Gemäss Presserat sind ein Titel und eine Foto mit Bildunterschrift, die Serbien im Zusammenhang mit Reisebeschränkungen unter Corona speziell herausheben, nicht diskriminierend. Das Onlineportal «nau.ch» durfte gemäss Presserat den Titel setzen «Quarantäne heisst: Kein Lohn bei Einreise aus Serbien & Co.!»., weil «nau.ch» ein Land unter vielen als Beispiel herausnimmt. Alle 29 Länder habe «nau.ch» nicht nennen können. Welches der 29 dabei im verkürzenden Titel erwähnt wird, liegt gemäss Presserat im Ermessen der Redaktion. Im konkreten Fall habe sich die Redaktion für eines entschieden, in welchem die Ansteckungsgefahr zu jener Zeit besonders hoch erschien, in welchem die mangelnde Corona-Bekämpfung in den Medien besonders kritisiert worden war und aus dem speziell viele Rückreisende zu erwarten waren. Zudem sei mit «und Co.» klar angedeutet, dass es nicht nur um Serbien gehe (Stellungnahme 81/2020).
96
Analoges gilt gemäss Presserat für ein Bild im «Tages-Anzeiger», das eine Scooter-Bahn zeigt, auf welcher die Autos mit serbischen Fahnen herumfahren und der Bildunterschrift: «Nach den Ferien in Serbien müssten Rückkehrer sich bei den Behörden melden. Doch manch einer ‹vergisst› es.» (Stellungnahme 81/2020).
97
Der «Blick» durfte gemäss Presserat bei einem Motorradunfall titeln: «Serbe (33) kracht mit Töff in Motorradlenkerin (38)». Die Nationalität des Unfallverursachers habe zwar keinen sachlichen Zusammenhang mit dem Vorfall. Doch darf die Staatsangehörigkeit gemäss Presserat genannt werden, wenn dies «systematisch» geschieht, also etwa auch Schweizer Beschuldigte und Opfer als solche bezeichnet werden. Der Presserat billigt «Blick» zu, die Staatsangehörigkeit systematisch zu nennen, rügt aber, dass im konkreten Fall die Nationalität des Opfers nicht bezeichnet wurde. Es tut gemäss Presserat nichts zur Sache, dass dies auch in der Pressemitteilung der Polizei so gewesen sei. «Wenn die Redaktion Wert legt auf die systematische Nennung der Nationalitäten, muss sie bei der Polizei in einem solchen Fall nach der zweiten nachfragen oder die erste weglassen.» Trotzdem spricht der Presserat keine Rüge aus, weil es sich um eine untergeordnete Ungenauigkeit und nicht um eine Diskriminierung handle, da der «Blick» die verschiedensten Staatsangehörigkeit in der Regel nenne – einschliesslich der Schweizer (Stellungnahme 81/2020).
98
Kommentar: Diese Praxis überzeugt nicht. Sie verkennt, dass die konsequente Nennung der Nationalität von (mutmasslichen) Straftäter/innen zu (täglichen) Meldungen führt, die Fremdenfeindlichkeit fördern, weil sie ohne Einordnung oder Kontext unbewusst bestehende Vorurteile der Leserschaft verstärken. Zudem blendet der Presserat aus, dass Redaktionen Straftaten von Ausländer/innen überdurchschnittlich häufig auswählen. Eine Expertise vom Dezember 2019 zu Medien in Deutschland kommt zum Schluss, dass die konsequente Nennung der Nationalität bei Straftaten zu einer massiv verzerrten Wahrnehmung der Realität führt: «Während die Polizei 2018 mehr als doppelt so viele deutsche wie ausländische Tatverdächtige erfasste, kommen in Fernsehberichten mehr als 8 und in Zeitungsberichten mehr als 14 ausländische Tatverdächtige auf einen deutschen Tatverdächtigen.» (Berichterstattung über Gewaltkriminalität, Prof. Dr. Thomas Hestermann, Hamburg, Dezember 2019)
99
Auch aus grundsätzlichen Überlegung ist es medienethisch nicht haltbar, bei sämtlichen Straftaten die Nationalität des Täters zu nennen. So wird nämlich ein einzelnes Sachelement übermässig hervorgehoben, obwohl es oft wenig relevant ist im Vergleich mit andern wie soziale Schicht, Bildung, fehlende Perspektiven etc.. Damit verletzen Journalisten das Wahrhaftigkeitsgebot, das sie anhält, die für eine Information wichtigen Sachelemente darzustellen. Der Medienblogger Stefan Niggemeier sagt es so: «Wer die Nationalität von Straftätern immer nennt, will nicht die Wahrheit wissen und verbreiten. Er will die komplexe Realität auf eine ‘einfache Wahrheit’ reduzieren.» Sinnvoll sind hingegen Hintergrundberichte, welche die Problematik höherer Straffälligkeit ausländischer Staatsangehöriger grundsätzlich thematisieren und einordend reflektieren. Und wo die Nationalität ein relevantes Sachelement darstellt (wie etwa 2015/16 bei Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht von Köln), sollte es genannt werden.
100
Jemanden als «evangelikal» oder als «freikirchlich» zu bezeichnen ist per se nicht diskriminierend. Diskriminierend kann es nur sein, wenn die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verbunden wird mit «diskriminierenden Anspielungen», also mit pauschal negativen Verallgemeinerungen. Die «WOZ» hat dies gemäss Presserat in einem Artikel über die Organisation ACT212 und ihren Kampf gegen den Menschenhandel nicht getan (Stellungnahme 98/2020).
VI. Der Umgang mit Bildern
1. Wahrhaftigkeit und Transparenz (RL 3.3, 3.4, 3.5, 3.6)
101
Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
2. Schutz der Privatsphäre
102
Sind Personen auf einem Bild erkennbar, spielt es keine Rolle, ob sie sich im öffentlichen oder privaten Raum befunden haben und ob private Sachverhalte zum Thema gemacht worden sind. Der Presserat erinnert daran: Die Privatsphäre der Menschen, inklusive des Rechts am eigenen Bild, ist nicht nur in deren Privaträumen geschützt. Da in einer Online-Publikation des «Blick» mit Fotos von angeblichen Masken-Verweigerern die Personen aber nicht erkennbar waren, lag im konkreten Fall keine Verletzung des Journalistenkodex vor (Stellungnahme 82/2020).
103
Der «Tages-Anzeiger» durfte Fotos von Personengruppen an der Limmat-Promenade in Zürich Wipkingen während des Corona-Shutdowns zeigen, obwohl Einzelpersonen teilweise erkennbar waren. Gemäss Presserat wurde keine Person explizit hervorgehoben, da gleichzeitig immer mehrere Passanten unabhängig voneinander erkennbar waren und der Fotograf keinen Fokus auf nur eine Person legte (Stellungnahme 66/2020).
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Der «Blick» verletzt den Journalistenkodex, wenn er den Namen einer jungen Frau, die trotz Infektion mit Sars-Cov-2 und angeordneter Isolation eine Party besuchte, zwar anonymisiert, aber trotzdem viele Details nennt und ihr Wohnhaus abbildet. Die Leserschaft erfährt, dass die 21-jährige Camilla T. im Betreuungsbereich arbeitet und mit ihrer 48-jährigen Mutter nahe des Grenchner Stadtzentrums in einer Parterrewohnung lebt. Der Vater lebe ebenfalls in Grenchen und ist 52 Jahre alt. Ein Porträtfoto zeigt die junge Frau, jedoch verdeckt ein schwarzer Balken ihre Augen- und Nasenpartie. Ein weiteres Foto zeigt den Wohnort der Frau. Der Presserat anerkennt zwar, dass es sich bei der Aufnahme des Hauses nur um einen Ausschnitt handelt und «Blick» nicht das ganze Gebäude zeigt. Dennoch verletze dieses Foto zusammen mit den übrigen Angaben die Privatsphäre der jungen Frau. Zu viele Details des Hauses sind gemäss Presserat ersichtlich. Verbunden mit der Ortsangabe («im Stadtzentrum») sei es für Dritte – Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner oder Passanten – möglich, aufgrund des Artikels den Wohnort von Camilla T. zu erkennen und somit auch ihre Identität in Erfahrung zu bringen. Ein überwiegendes Interesse, den Namen der Frau öffentlich zu machen, gebe es im übrigen nicht. Zwar besteht gemäss Presserat sehr wohl ein öffentliches Interesse, in der Coronakrise darüber zu informieren, an welchen Orten eine infizierte Person sich aufgehalten hat. Dies, um die ebenfalls dort anwesenden Personen zu informieren und weitere Ansteckungen zu verhindern. Dazu brauche es aber keine identifizierende Berichterstattung (Stellungnahme 83/2020).
3. Schutz von Personen in Notlage (RL 7.8)
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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
4. Schutz der Menschwürde (RL 8.1 und 8.5)
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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
5. Aktualitätsbilder, Täter- und Attentatsfilme, Streaming
(RL 8.4, 8.5)
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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
VII. Besonderheiten der Polizei- und Gerichtsberichterstattung
(Kodex Ziff. 7, RL 7.4, 7.5, 7.6, 7.7)
1. Unschuldsvermutung
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Stützt sich ein Kommentator auf einen Dokumentarfilm, darf er die darin geschilderten Fakten als «wahr» und die behaupteten Rechtsverletzungen als erwiesen schildern, auch wenn sie nie von einem Gericht beurteilt worden sind. Deshalb weist der Presserat die Beschwerde gegen einen Kommentar in der «BernerZeitung» über Michael Jackson ab. Der Presserat: «Der kurz zuvor erschienene Dokumentarfilm zu Jacksons Kindsmissbrauch erlaubt es dem Kommentator, die Aussagen der Dokumentation als ‘wahr’ zu beurteilen und dies als seine Meinung kundzutun und entsprechend zu kommentieren. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Autor in seinem Kommentar darauf hingewiesen hätte, dass Jackson nie von einem Gericht wegen Kindsmissbrauchs verurteilt worden ist.» (Stellungnahme 15/2020).
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Kommentar: Diese Argumentation überzeugt nicht. Auch ein Dokumentarfilm mit noch so aussagekräftigen Zeugen ersetzt kein rechtskräftiges Urteil. Auch und gerade in einem solchen Fall, wo selbst das Gebot der Wahrhaftigkeit nur bedingt und aus zweiter Hand erfüllt wird, muss die Unschuldsvermutung zwingend vom Journalisten beachtet werden.
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Grundsätzlich müssen Medien darauf hinweisen, dass ein Entscheid noch nicht rechtskräftig ist. Geschieht dieser Hinweis nur implizit, liegt unter Umständen keine Verletzung des Journalistenkodex vor, sondern nur eine Ungenauigkeit. Die «Aargauer Zeitung» berichtete über ein Zivilverfahren zwischen dem Verein Trotamundos und einem ausgeschlossenen Mitglied und schrieb: «Mit diesem Urteil hat der Verein Trotamundos ein erstes Mal vor Gericht Recht erhalten». Mit «ein erstes Mal» weist die «Aargauer Zeitung» gemäss Presserat auf voraussichtliche weitere Instanzen hin. Der Hinweis hätte gemäss Presserat zwar deutlicher ausfallen müssen, doch sei dies noch eine journalistische Ungenauigkeit und keine Verletzung des Journalistenkodex (Stellungnahme 85/2020).
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Kommentar: Der Presserat sollte nicht von seiner langjährigen Praxis abweichen, einen ausdrücklichen Hinweis auf die fehlende Rechtskraft eines Urteils zu verlangen. Im konkreten Fall ist die zitierte Passage keineswegs ein klarer Hinweis auf fehlende Rechtskraft. Sie kann etwa auch so verstanden werden, dass noch andere als zivilrechtliche Verfahren laufen.
2. Namensnennung
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Wenn ein sehr angesehener Priester mit einer Fürsorgepflicht für junge Ministranten diese sexuell missbraucht, ist dies ein legitimes öffentliches Thema, bei welchem die Identifizierung – auch 55 Jahre nach dem Tod des Betreffenden – zulässig erscheint (Stellungnahme 55/2020).
3. Nachführpflicht (RL 7.6)
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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.
VIII. Unabhängigkeit der Medienschaffenden
(Kodex Ziff. 9 und 10)
1. Trennung von redaktionellem Teil und Werbung
(RL 10.1, 10.2 und 10.4)
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Gemäss Presserat müssen Leser/innen auf den ersten Blick erkennen, dass es sich bei einem Beitrag um Werbung handelt.
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Leser/innen von Tamedia-Kopfblättern wie Tages-Anzeiger oder Bund wurden gemäss Presserat durch eine Serie von Anzeigen der Swisscom in die «Irre geführt»: Zuoberst auf der Doppelseite stand zwar der Begriff «Sponsored», zusätzlich auch der Begriff «Anzeige» – aber sehr klein. Unten rechts war das Logo der Swisscom gut erkennbar, in ganz kleiner Schrift folgte auch der Hinweis auf die Zusammenarbeit zwischen dem Unternehmen und Tamedia-Mitarbeitenden (Commercial Publishing). Diese Hinweise auf Werbung sind gemäss Presserat aber zu schwach und werden durch das Layout mehr als aufgehoben: Die grosse Seitenzahl, was für Inserateseiten absolut untypisch sei, das Logo «Tages-Anzeiger» und das Datum gäben der Seite einen redaktionellen Charakter. Beim Abdruck im «Bund» stand sogar das Logo «Der Bund» im Kopf.
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Deshalb beurteilte der Presserat die Gestaltung dieser Swisscom-Werbung im Gesamteindruck als «sehr redaktionsnah, die Kennzeichnung als Werbung als klar ungenügend, den Begriff ‘Sponsored’ als falsch», weil von einer freien Themenwahl und -bearbeitung, wie sie für Sponsoring typisch sind, durch die Redaktion gemäss Presserat keine Rede sein kann (vgl. den Leitentscheid 67/2019). Richtig wäre der Begriff «Anzeige». Deshalb wurden die Leserinnen und Leser gemäss Presserat in die Irre geführt. Der «Tages-Anzeiger» verletzte die Richtlinie 10.1. Tamedia hatte sich damit verteidigt, dass die Inhalte vom Commercial Publishing Team bei Tamedia erstellt würden, das personell absolut unabhängig von allen Redaktionen sei, und dass davon ausgegangen werden könne, dass die Leserschaft wisse, dass Ausdrücke wie «Anzeige», «Sponsored» oder «Commercial Publishing» auf einen nicht-redaktionellen Teil hinweisen würden
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Ganz grundsätzlich hielt der Presserat fest: «Die Mitarbeitenden der Tamedia-Redaktionen betreiben oft einen aufklärerischen, qualitativ guten und der Wahrheit verpflichteten Journalismus. Umso mehr verstört die plumpe Verschleierungstaktik in Bezug auf das so genannte ‘Native Advertising’, das kommerzielle Botschaften unverfroren in journalistischem Gewand neben die Arbeiten der Tamedia-Journalistinnen und -Journalisten stellt und diese so kontaminiert.» (Stellungnahme 6/2020).
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Tamedia verletzte mit Werbeseiten von Genève Invest den Journalistenkodex, weil der durchschnittliche Leser nicht auf den ersten Blick erkannte, dass es sich um Werbung handelte: Zum einen war das Layout der Werbung gemäss Presserat dem Layout redaktioneller Seiten zum Verwechseln ähnlich, zum andern ist der Autor der Werbeseiten – Mark van Huisseling – als Journalist bekannt und zum dritten genügt es gemäss Presserat nicht, «wenn irgendwo am Rand in kleiner Schrift die Begriffe ‘Werbung’ oder ‘Anzeige’ abgedruckt werden (siehe Leitentscheid 67/2019).» Die Begriffe «Werbung» oder «Anzeige» sind so hervorzuheben, dass sie ein durchschnittlicher Leser auf den ersten Blick erkennt. «Auch dass am Fuss der Kommentarspalte ein kleines Logo des Werbenden abgedruckt ist und in noch kleinerer Schrift steht, den Inhalt habe Tamedia Commercial Publishing gemeinsam mit dem Werbenden verfasst, führt nicht dazu, dass der durchschnittliche Leser auf den ersten Blick erkennt, dass es sich um Werbung handelt.» Auch ähnlich präsentierte Anzeigen von Mazda und Pro Viande beurteilt der Presserat als irreführend und rügt deshalb eine Verletzung des Journalistenkodex durch Tamedia (Stellungnahme 7/2020).
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Das St. Galler Tagblatt verletzte mit einem fast ganzseitigen Interview mit dem Länderchef der Wirtschaftprüfungsfirma Ernst&Young den Journalistenkodex, weil der durchschnittliche Leser nicht auf den ersten Blick erkannte, dass es sich um Werbung handelte. Es genügte nicht, dass am Ende des Textes der Hinweis «Dieses Interview wurde im Auftrag von EY Schweiz geführt» publiziert wurde und dass der Titel in anderer Schrift (serifenlos) gesetzt war als redaktionelle Inhalte.
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Die geringen Layout-Unterschiede waren gemäss Presserat für Durchschnittsleser/innen nicht klar ersichtlich. Die beiden Beiträge würden im Gegenteil wie ein übliches Interview mit zugehörigem Hintergrund-Artikel erscheinen. Fehlt es an einer klaren gestalterischen Abhebung, muss Werbung gemäss Presserat unmissverständlich als solche bezeichnet werden. Doch auch daran fehlte es gemäss Presserat beim Interview mit Ernst&Young. Der Hinweis «Dieses Interview wurde im Auftrag von EY geführt» heisst gemäss Presserat für den Durchschnittsleser nicht, dass es sich um Werbung oder eben um einen bezahlten Beitrag handelt. «Die Leserinnen und Leser werden auch hier irregeführt», hielt der Presserat fest (Stellungnahme 17/2020).
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Das «Migros-Magazin» verletzte mit einer ganzseitigen Wettbewerbsausschreibung für ein Wellness-Resort den Journalistenkodex nicht. Bei der Frage, ob die Ziffer 10 der «Erklärung» verletzt sei, muss gemäss Presserat beurteilt werden, ob für die durchschnittliche Leserin, den durchschnittlichen Leser auf den ersten Blick klar ist, ob es um redaktionellen Inhalt geht oder nicht. Der Presserat ist der Meinung, dass dies bei der als «Glücksgriff-Störer» gekennzeichneten Seite zur Genüge klar wird: Die Seite mache insgesamt mit der dominierenden Bebilderung, mit einer ganzen nebenan aufgeführten Spalte von Wettbewerbs-Teilnahmebedingungen, mit dem Hinweis auf eine Verlosung in grösserer Schrift als der übrige wenige Text und mit dem kleinen, aber auffälligen «Glücksgriff-Symbol» eindeutig nicht den Eindruck eines redaktionellen Textes. Es wird gemäss Presserat völlig klar, dass es hier um eine Verlosung geht und nicht um eine redaktionelle Beurteilung des «Schneeberg Resorts» (Stellungnahme 41/2020).
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Verschiedene Onlinemedien der Tamedia verletzten den Journalistenkodex durch Bannerwerbung, die zu redaktionellen Artikeln zur Konzernverantwortungsinitiative geschaltet wurden. Rechts neben dem redaktionellen Text mit dem Titel «Konzerninitiative: Es wird eng» stand eine Banner-Werbung. Der Text der Werbung lautete: «Sie lesen einen Artikel zur KVI. Debatten brauchen Fakten. Besuchen Sie unser Dossier mit den Faktenchecks. zum Dossier ➤». Der Presserat beurteilte die Frage, ob die Werbung optisch eindeutig als Werbung erkennbar war, nicht aus der Optik eines geübten Lesers von Onlinemedien der Tamedia, sondern eines allgemeinen durchschnittlichen Lesers Deshalb genügte es nicht, dass die Bannerwerbung in der rechten Spalte erschien, wo bei Tamedia-Onlinetiteln regelmässig Werbung platziert ist, oder dass die Bannerwerbung animiert war. Animation heisse noch nicht, dass es sich zwingend um Werbung handle, meint der Presserat. Hingegen verleite die Aussage «unser Dossier» den Leser dazu, das Dossier als Dossier der Redaktion zu deuten. Ähnliches gelte für den Zusatz «Faktencheck», da Tamedia regelmässig auch redaktionelle Faktenchecks durchführe. Das Zusammenwirken all dieser Faktoren führte gemäss Presserat dazu, dass die Leserin den bezahlten Inhalt optisch nicht eindeutig als Werbung erkenne. Deshalb müsse diese Werbung nach Richtlinie 10.1 «explizit als Werbung deklariert werden». Die explizite Bezeichnung fügte Tamedia erst später hinzu. Der Presserat ermahnt zudem: «Demokratiepolitisch besonders bedenklich ist dieses Verwischen von Grenzen zwischen redaktionellen Inhalten und politischer Werbung. Denn hier schadet die mangelnde Transparenz nicht nur der Glaubwürdigkeit des Mediums, sondern auch der demokratischen Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger.» (Stellungnahme 42/2020).
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Die «Sonntagszeitung» verletzt die Pflicht zur Trennung von redaktionellem Teil und Werbung nicht mit einer einseitigen Anzeige mit dem Titel «Warum Schweizer Fleisch nachhaltiger ist». Das Zusammenspiel von vier Elementen machte die Anzeige für den Durchschnittsleser auf den ersten Blick als Werbung erkennbar: Links oben in der Kopfzeile der Anzeige stand in kleiner fetter Schrift «Anzeige von Proviande», darunter etwas grösser «Sponsored». Rechtsbündig war in derselben kleinen Schrift in Rot «Corporate Publishing» vermerkt. Am Ende des Textes fand sich unten rechts das Logo des Branchenverbands Proviande mit dem Text: «Dieser Beitrag wurde von Commercial Publishing in Zusammenarbeit mit Proviande erstellt. Commercial Publishing ist die Unit für Content Marketing, die im Auftrag von 20 Minuten und Tamedia kommerzielle Inhalte produziert» (Stellungnahme 97/2020).
2. Persönliche Unabhängigkeit
(Kodex Ziff. 9, RL 2.4, 9.1, 9.2)
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Auch Journalist/innen, die Mitglieder einer staatlichen Kommission sind, die zwar selber keine Entscheide trifft, aber Entscheidvorschläge macht, müssen diese Funktion gemäss Presserat transparent machen, wenn sie über verwandte Themen schreiben. Dafür reicht es nicht aus, dass die Funktion auf der Website der Kommission oder des Gemeinwesens genannt wird. Die zusätzliche Rolle der Journalistin/des Journalisten muss in jedem Artikel deklariert werden, in welchem eine mögliche Kollision der Interessen auftritt.
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Im konkreten Fall weist der Presserat eine Beschwerde gegen die Zeitung «Der Bund» aber ab. Zwar hatte die Journalistin nicht deklariert, dass sie Mitglied der Kunstkommission der Stadt Bern war, doch hatte sie nur den Entscheid gefällt, einen zugesandten Artikel eines Gastautors nicht zu publizieren. Da hier gar nichts veröffentlicht worden sei, kann gemäss Presserat die Richtlinie gar nicht verletzt worden sein. Gemäss Presserat schützt Richtlinie 2.4 nur das Publikum, nicht aber einen Gastautoren. Die Bestimmung wolle eine transparente Information der Öffentlichkeit sicherstellen (Stellungnahme 22/2020).
Ein grosser Dank für wertvolle Anregungen und Hinweise geht an Prof. Dr. iur. Franz Zeller
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