Unzureichendes Interesse der SRG an Einsicht in Akten eines längst abgeschlossenen Strafverfahrens
Das Bundesgericht hat sein Urteil vom 26. Mai 2021 gegen die SRG zur Aktenherausgabe im Fall Ylenia begründet (1C_33/2020; BGE 147 I 463)
Franz Zeller, Prof. Dr. iur., Bern
I. Sachverhalt
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Die damals fünfjährige Ylenia wurde im Sommer 2007 beim Hallenbad Appenzell entführt. Ihre Leiche wurde später in einem Waldstück bei Oberbüren (Kanton St. Gallen) gefunden. Nach den Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden hatte sich der Entführer (ein Auslandschweizer) kurz nach der Tat das Leben genommen. Die zuständigen St. Galler Behörden schlossen das Strafverfahren mit Einstellungsverfügung vom 25. Juli 2008 rechtskräftig ab.
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Anfang 2019 äusserten verschiedene Medien (u.a. der regionale Fernsehsender TVO und die Tageszeitung «Blick») gestützt auf Behauptungen eines Buchautors und eines früheren Polizisten Zweifel daran, dass der 2007 verstorbene Auslandschweizer ein Einzeltäter gewesen war. Als wahrscheinlicher Komplize an diesem Gewaltverbrechen wurde u.a. ein 2017 verstorbener Toggenburger bezeichnet.
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Im Rahmen einer Medienkonferenz begründeten die Polizei und die Staatsanwaltschaft am 7. März 2019 ausführlich, weshalb eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht in Betracht komme. Sie nahmen zu den Vorwürfen gegen die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden detailliert Stellung und verneinten, dass sie Zeugenaussagen ungenügend berücksichtigt oder falsch gewürdigt hatten. Die kantonalen Behörden thematisierten die in den Medien publizierten Thesen zu möglichen Ermittlungsansätzen und würdigten sie im Lichte der damaligen Untersuchungsergebnisse.
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Bereits eine Woche vor der behördlichen Medienkonferenz (am 1. März 2019) waren die SRG und ein damals für die SRF-Fernsehsendung «Rundschau» tätiger Redaktor aktiv geworden. Sie hatten beim kantonalen Untersuchungsrichtersamt Einsicht in die Akten zum fraglichen Tötungsdelikt verlangt. Durch die Akteneinsicht versprachen sie sich Aufschluss darüber, ob die St. Galler Behörden den in den Medienberichten thematisierten Zeugenaussagen ausreichend nachgegangen waren. Das Untersuchungsamt verweigerte die Einsicht Ende Juli 2019. Es hatte zuvor u.a. die Angehörigen des Tatopfers kontaktiert, die sich der Aktenherausgabe widersetzten.
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In ihrem Entscheid vom 29. Oktober 2019 wies die Anklagekammer des Kantons St. Gallen die Beschwerde der SRG und des «Rundschau»-Redaktors ab. Danach beantragte die SRG mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht die Einsicht in die gesamten Akten des Strafverfahrens gegen den 2007 verstorbenen Auslandschweizer. Allenfalls sollte das Bundesgericht die Angelegenheit zur Gewährung einer beschränkten Akteneinsicht an die kantonalen Behörden zurückweisen.
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Im Rahmen des Verfahrens vor Bundesgericht erhielt die SRG Einsicht in die ihr bisher unbekannte Einstellungsverfügung von 2008 und auch in eine Verfügung des Untersuchungsamts, die am 11. Dezember 2018 nach einer Meldung aus der Bevölkerung eine Wiederaufnahme des rechtskräftig eingestellten Strafverfahrens ablehnte (und deren Existenz nicht einmal der Anklagekammer bekannt war).
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Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts beurteilte die Beschwerde der SRG am 26. Mai 2021 in einer öffentlichen Urteilsberatung und wies sie mit einem Mehrheitsentscheid (mit 4 gegen 1 Stimmen) ab. Wegen des verspätet gewährten Zugangs zu den beiden Verfügungen des Untersuchungsamts auferlegte das Bundesgericht der SRG lediglich eine reduzierte Gerichtsgebühr von CHF 2’000 und auferlegte dem Kanton St. Gallen die Hälfte der Parteientschädigung an Ylenias Angehörige. Der Entscheid ist zur Publikation in den BGE vorgesehen.
Auszüge des Urteils sind in die amtliche Entscheidsammlung aufgenommen worden als BGE 147 I 463.
II. Aus den Erwägungen
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Die schriftliche Urteilsbegründung des Bundesgerichts rekapituliert zunächst die rechtsstaatlich zentralen Grundsätze zur Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt ll). Sie sorgen für Transparenz gerichtlicher Verfahren und schaffen damit auch die Grundlage für das Vertrauen der Rechtsgemeinschaft in die Gerichtsbarkeit, wobei der Anspruch auf Kenntnisnahme von Urteilen durch den Schutz persönlicher und öffentlicher Interessen begrenzt wird (Erwägung 3.1.1).
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In begründeten Fällen können Interessierte auch Einsicht in Entscheide verlangen, die eine nichtgerichtliche Verfahrenserledigung zur Folge haben (bspw. in Einstellungsverfügungen). Nicht am fraglichen Verfahren beteiligte Dritte müssen für ihr Einsichtsgesuch ein schutzwürdiges Informationsinteresse dartun. Für Medienschaffende ist dies keine hohe Hürde, denn gemäss bundesgerichtlicher Praxis (BGE 137 I 16 E. 2.4 S. 21) ergibt sich dieses Interesse «ohne weiteres aus der Kontrollfunktion der Medien» (E. 3.1.2).
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Diese für Entscheide massgebenden Grundsätze gelten jedoch nicht für die Einsicht in die Akten eines Strafverfahrens. Das Akteneinsichtsrecht der nicht am Verfahren beteiligten Drittpersonen richtet sich bei hängigen Angelegenheiten nach Art. 101 Abs. 3 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), wobei ein schützenswertes Interesse nur ausnahmsweise bejaht wird (E. 3.3.1). Für abgeschlossene kantonale Strafverfahren sind die kantonalen Datenschutzbestimmungen massgebend, wie Art. 99 Abs. 1 StPO (Bearbeitung und Aufbewahrung von Personendaten nach Abschluss des Verfahrens) festhält. Im Kanton St. Gallen richtet sich die Herausgabe von Strafakten nach Art. 35 Abs. 2 lit. g des kantonalen Einführungsgesetzes zur StPO (EG-StPO) und der darauf gestützten Weisung der kantonalen Anklagekammer (E. 3.3.2).
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Die Regelung des Zugangs zu den Akten rechtskräftig abgeschlossener Verfahren entspricht im Kanton St. Gallen weitgehend der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 2 BV (rechtliches Gehör): Der Anspruch auf Akteneinsicht hängt davon ab, ob die Drittperson ein besonderes schutzwürdiges Interesse an der Einsicht glaubhaft machen kann (E. 3.3.3). Im Vergleich zur Einsicht in Einstellungsverfügungen stellt das Bundesgericht für die Einsicht in Strafakten höhere Anforderungen: Bei der Akteneinsicht fliesse das spezifische schützenswerte Interesse nicht ohne Weiteres aus der journalistischen Kontrollfunktion. Ob das Gesuch der SRG den Anforderungen an dieses spezifische schutzwürdige Interesse zu genügen vermag, ist nach Auffassung des Bundesgerichts fraglich (E. 5.4.1).
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Die SRG brachte u.a. vor, sie wolle im Hinblick auf die Mehrtätertheorie prüfen, welche Abklärungen und Untersuchungen die kantonalen Behörden vorgenommen und zu welchen Ergebnissen ihre Befragungen und Ermittlungen geführt hatten. Konkrete Widersprüche in den anlässlich der Pressekonferenz gemachten Angaben könne sie ohne Akteneinsicht nicht nachweisen. Teils gebe es Widersprüche zu Erkenntnissen aus eigenen Quellen, welche die SRG aufgrund des Redaktionsgeheimnisses nicht preisgebe. Das öffentliche Interesse am Fall Ylenia wiegt nach Ansicht der SRG schwer. Dieser habe 2007 für enormes Aufsehen gesorgt und zu politischen Handlungen geführt (E. 5.2).
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Laut Bundesgericht ist es der SRG mit Blick auf ihre Medienfreiheit (Art. 17 BV) unbenommen, weitere Recherchen anzustellen. Es sei aber zu berücksichtigen, dass das Strafverfahren seit über zehn Jahren rechtskräftig abgeschlossen ist und dass die Strafverfolgungsbehörden in ihrer kurz nach dem Einsichtsgesuch durchgeführten Pressekonferenz die Thesen zu möglichen Ermittlungsansätzen gewürdigt hatten. Nach Ansicht des Bundesgerichts legte die SRG nicht schlüssig dar, inwiefern darüber hinaus ein relevantes öffentliches Informationsinteresse an der Akteneinsicht besteht. Ihre Stellungnahme widerlege nicht, dass es den kantonalen Behörden gelungen war, die behaupteten Widersprüche und Ungereimtheiten auszuräumen. (E. 5.4.1).
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Letztlich lässt das Bundesgericht offen, ob die SRG ein schutzwürdiges Interesse an der Akteneinsicht hat (E. 5.5). Ihr Interesse an der Herausgabe der Akten wiege jedenfalls leichter als die privaten Interessen der Angehörigen und die öffentlichen Geheimhaltungsinteressen (E. 7).
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In E. 6.1-6.5 befasst sich die Urteilsbegründung mit den privaten Interessen der Angehörigen, die durch Art. 13 BV (Achtung des Privatlebens und informationelle Selbstbestimmung) verfassungsrechtlichen Schutz geniessen. Die SRG argumentierte, dass zahlreiche Details des Verbrechens in der Öffentlichkeit bereits bekannt seien. Gemäss der Urteilsbegründung würde eine erneute Berichterstattung über die grausamen Ereignisse im Jahr 2007 aber alte Wunden aufreissen und die Angehörigen erneut schwer belasten. Laut Bundesgericht haben Ylenias Angehörige volles Vertrauen in die Ermittlungsarbeit der Strafverfolgungsbehörden. Ihr Interesse an der Verweigerung der Akteneinsicht wiege schwer. Dass die Mutter im Namen der verstorbenen Ylenia eine Stiftung gegründet hat, vermöge das Interesse der Angehörigen nicht entscheidend zu relativieren. Die Stiftung solle nicht an das Verbrechen erinnern, sondern durch die Unterstützung benachteiligter Kinder den Namen des Mädchens positiv besetzen (E. 6.5).
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Neben den privaten Interessen betont das Bundesgericht auch die öffentlichen Interessen, die der Aktenherausgabe im Wege stehen. Strafuntersuchungen wurden schon vor Inkrafttreten der StPO im Jahr 2011 grundsätzlich geheim geführt. Dies diene der gezielten und reibungslosen Durchführung von Strafverfahren und bezwecke auch den Schutz der Meinungs- und Entscheidfindung innerhalb staatlicher Organe. Auch nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens dürften Einsichtsgesuche das gute Funktionieren der Strafjustiz nicht gefährden. So könnten Staatsanwaltschaft und Polizei gerade mit Blick auf künftige Verfahren daran interessiert sein, Angaben zu verfolgten Ermittlungstaktiken und Untersuchungsstrategien für sich zu behalten. Zudem sollten die in eine Strafuntersuchung involvierten Personen darauf vertrauen können, dass die Informationen aus der Voruntersuchung in aller Regel nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Dies gelte gerade für jene Personen, gegen die sich ein anfänglicher Tatverdacht nicht erhärtet. Insgesamt seien die einer Einsicht entgegenstehenden öffentlichen Interessen gewichtig (E. 6.6).
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Nicht ersichtlich ist für das Bundesgericht, wie eine Kürzung oder Anonymisierung der fraglichen Akten den entgegenstehenden privaten und öffentlichen Interessen genügend Rechnung tragen könnte. Die SRG werfe der Vorinstanz zu Unrecht vor, dass sie auf die Prüfung einer beschränkten Aktenherausgabe verzichtet hatte. Aus den Anträgen und Vorbringen der SRG gehe nicht hervor, dass sie nur einen Teil der Akten einsehen wolle oder wie sich ihr Begehren mit einer bloss teilweisen Einsicht erfüllen lasse (E. 7).
III. Anmerkungen
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Im vorliegenden Leitentscheid behandelt das Bundesgericht grundlegende Fragen zur Einsicht in die Akten abgeschlossener Strafverfahren durch Medienschaffende. Das Urteil kam nicht einstimmig zustande. Der Referent wollte die Beschwerde der SRG im Gegensatz zu seinen vier Richterkollegen gutheissen. Divergierende Auffassungen gab es primär bei der Güterabwägung: Der Referent gewichtete die Interessen der SRG an der Akteneinsicht stärker und die konträren Anliegen der Angehörigen schwächer, als es die Gerichtsmehrheit tat. Abgesehen davon war sich das Gericht aber in verschiedenen wesentlichen Punkten einig.
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Einig war sich das Gericht darüber, dass grundsätzlich auch für Verfahrensfremde wie die Medienschaffenden ein Anspruch auf Einsicht in die Akten eines Strafverfahrens bestehen kann. Mit anderen Worten können sie nicht nur den Zugang zum Text von Gerichtsurteilen (oder Surrogaten wie den Einstellungsbeschlüssen) erstreiten, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch die Einsicht ins Verfahrensdossier. Selbstverständlich ist dies nicht. Das vorliegende Urteil klärt die Rechtsgrundlagen für die Einsicht in abgeschlossene Verfahren und umreisst deren Voraussetzungen.
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Ebenfalls einig war sich das Gericht darüber, dass nicht am Verfahren beteiligte Personen für die Einsicht in die Akten eines Strafverfahrens höhere Hürden überwinden müssen als für die Einsicht in Entscheide urteilender Gerichte (bzw. in Verfügungen, die ein Verfahren ausserhalb des Gerichtssaals abschliessen). Die Einsicht richtet sich für die Kategorie der Akten nach den Grundsätzen von Art. 29 Abs. 2 BV, für die Kategorie von Urteilen und Urteilssurrogaten hingegen nach dem Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV), bei dem die Transparenz besonders ausgeprägt ist. Dort erklären Verfassung und Gesetz die Öffentlichkeit zum Grundsatz, von dem nur ausnahmsweise abzuweichen ist. Bei der prinzipiell geheimen Strafuntersuchung ist es gerade umgekehrt. Das höchstrichterliche Leiturteil verwirft die Auffassung der SRG, die journalistische Kontrollaufgabe sei Grund genug für den Zugang zu den gesamten Verfahrensakten. Dass der Massstab beim Begehren um Aktenzugang strenger sein muss als für die Einsicht in Entscheide und in verfahrensabschliessende Verfügungen, ist begreiflich. Es wäre problematisch, wenn nur schon der pauschale Hinweis auf die anerkannte Kontrollfunktion der Medien genügen würde, um das Untersuchungsgeheimnis zu durchbrechen. Dies würde den Medienschaffenden erlauben, ohne fallspezifische Begründung beliebige Akten eines nicht zuletzt nach dem Verständnis der Verfahrensbeteiligten grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführten Verfahrens einzusehen.
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Die Medien stehen somit vor einer anspruchsvollen Aufgabe: Es obliegt ihnen, die für die Aktenherausgabe zuständigen Behörden davon zu überzeugen, dass Journalistinnen und Journalisten gerade im betreffenden Fall ein spezifisches schutzwürdiges Einsichtsinteresse haben. Dieser Anforderung vermochte die SRG im Fall Ylenia nach Auffassung der Gerichtmehrheit nicht zu genügen. Das mag auch mit besonderen Umständen des Falles zu tun haben: Etwa mit dem Umstand, dass die Behörden kurz nach dem Einsichtsgesuch an die Öffentlichkeit traten und damit das Argument der SRG schwächten, es gebe Anzeichen für Ungereimtheiten. Auch mit dem Umstand, dass die zumindest theoretisch primär an einer Aufklärung Interessierten (nämlich die Angehörigen) im Gegensatz zu den Medien nach Darstellung des Bundesgerichts volles Vertrauen in die Arbeit der Ermittlungsbehörden hatten. Und vielleicht auch mit dem Umstand, dass sich bei der Mehrtäterthese der Verdacht bloss gegen bereits verstorbene Personen richtete. Dies erschwerte den Medien die Behauptung, ihre Berichterstattung widme sich nicht nur der Kriminalgeschichte, sondern sie könnte durch die Überführung weiterer Verdächtiger einen wesentlichen Beitrag zur Verbrechensbekämpfung leisten.
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Die SRG wollte sich mit den Erklärungen der Untersuchungsbehörden nicht begnügen und aus eigener Anschauung überprüfen, ob das amtliche Vorgehen wirklich überzeugte. Dieses Ansinnen erscheint zumindest im Ansatz plausibel. Eine wirksame journalistische Kontrolle ist auch bei eingestellten Strafverfahren von wesentlicher rechtsstaatlicher und demokratischer Bedeutung. Gerade bei gravierenden Delikten ist die Wächterrolle der Medien auch in Fällen relevant, die ohne (öffentliche) Hauptverhandlung im Gerichtssaal erledigt werden. An journalistischen Informationen über den korrekten Ablauf von Strafuntersuchungen besteht ein gewichtiges Interesse (BGE 137 I 16 E. 2.4 S. 21). Für das Vertrauen der Gesellschaft in eine funktionierende Strafverfolgung ist nicht zuletzt die einwandfreie Arbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei essentiell. Das Aufdecken möglicher Mängel ist daher ein legitimes und schutzwürdiges Ansinnen der Medienleute. Handfeste Anhaltspunkte für mangelhafte behördliche Abklärungen vermochte die SRG in Lausanne – nicht zuletzt mangels Aktenkenntnis – höchstens ansatzweise ins Feld zu führen. Ihre Argumentation musste fast zwangsläufig recht vage bleiben. Für den Referenten reichte sie dennoch aus, für die Gerichtsmehrheit nicht. Die Urteilsbegründung spricht der SRG das spezifische schützenswerte Einsichtsinteresse zwar nicht explizit ab, bezeichnet es aber als fraglich. Für künftige Akteneinsichtsgesuche ist davon auszugehen, dass die Medien ihre Anliegen mit reichlich Substanz und Überzeugungskraft werden präsentieren müssen. Mit Allgemeinplätzen lässt sich der Nachweis eines besonderen schutzwürdigen Interesses kaum erbringen. Und noch weniger werden vage Transparenzbegehren der Medien genügen, wenn ihre Einsichtswünsche gegen kollidierende (private und/oder öffentliche) Geheimhaltungsinteressen abzuwägen sind.
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Die Begründung des Leiturteils lässt keinen Zweifel daran, dass das Bundesgericht die einer Akteneinsicht durch die Medien entgegenstehenden Interessen sowohl im konkreten Fall als auch generell schwer gewichtet. In der mündlichen Urteilsberatung dominierten die Überlegungen zu privaten Geheimhaltungsinteressen. Hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre ist die schriftliche Urteilsbegründung (E. 6.1 – 6.5) denn auch umfangreicher und stichhaltiger als hinsichtlich der öffentlichen Interessen an der Geheimhaltung (E. 6.6).
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Die Überlegungen des Bundesgerichts zum Schutz der Privatsphäre durch eine extrem einschneidende Straftat belasteter Angehöriger leuchten ein. Sie belegen, dass bei Delikten mit grosser Medienaufmerksamkeit der Schutz der Opfer und ihres Umfelds einen hohen Stellenwert geniesst. Mit ihren Bedenken gegen das Aufreissen alter Wunden treten die Bundesrichter einer schematischen Betrachtungsweise entgegen: Die Publikation einer belastenden Information ist nicht schon deshalb unschädlich, weil sie in der Vergangenheit bereits einmal öffentlich erörtert worden ist. Grundsätzlich mag zwar zutreffen, dass Massnahmen gegen die Enthüllung bereits öffentlich bekannter Informationen ihren Zweck nicht mehr erreichen können und deshalb zum Schutz von Geheimnissen ungeeignet sind (vgl. dazu unlängst BGE 147 IV 145 E. 2.4.4.2 S. 165f. zu Informationen aus einem Mordprozess im Kanton Neuenburg, deren Publikation die Gerichtsvorsitzende zum Schutz eines der Kinder des Angeklagten förmlich untersagt hatte). Durch den Zeitablauf kann sich die Konstellation aber wesentlich verändern. Die Veröffentlichung schon beinahe vergessen geglaubter Fakten kann Salz in heilende Wunden streuen. Dies gilt erst recht, wenn zusätzlich zu den bereits bekannten Tatsachen neue Details publiziert werden.
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Weniger schlüssig sind die höchstrichterlichen Ausführungen zu angeblich gewichtigen öffentlichen Interessen an der Geheimhaltung des vor langer Zeit rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens (E. 6.6). Die vom Bundesgericht erwähnten Risiken (wie die mögliche Publikation von Ermittlungstaktiken und Untersuchungsstrategien) scheinen eher abstrakt. Dass solche Gefahren im vorliegenden Fall wirklich bestanden, tut das Bundesgericht nicht dar, und entsprechende Befürchtungen scheinen auch bei den Vorinstanzen kein Thema gewesen zu sein. Dies gilt umso mehr, als die St. Galler Strafverfolgungsorgane anlässlich der Medienkonferenz selber verschiedene Einzelheiten ihrer Ermittlungsmethoden kommuniziert haben (u.a zum Abgleich von Mobilfunkdaten). Sie wandten ihre Taktiken und Strategien vor mehr als einem Dutzend Jahren an. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Behörden mit Blick auf künftige Verfahren daran heute noch ein erhebliches Geheimhaltungsinteresse haben. Und falls es doch so sein sollte: Die heiklen Angaben dürften nur einige wenige Passagen des Verfahrensdossiers betreffen. Sie könnten gezielt geschwärzt oder anonymisiert werden. Dies gilt auch für Angaben zur Identität einzelner Personen, die in die Strafuntersuchung involviert waren.
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Obwohl das Bundesgericht letztlich gegen die SRG entschieden hat und ihr der Zugang zum Dossier des abgeschlossenen Verfahrens verwehrt bleibt, war ihre Beschwerde keineswegs nutzlos. Dank dem Gang ans Bundesgericht erhielt die SRG überhaupt erst Einsicht in die beiden Verfügungen des Untersuchungsamts St. Gallen. Vor allem aber ist es ihr Verdienst, dass das Bundesgericht grundsätzliche Fragen zur Akteneinsicht in abgeschlossene Verfahren klären konnte. Dass dies nicht schon früher geschehen ist, mag auch damit zu tun haben, dass die Medien in der Praxis oft ohne förmliches Einsichtsgesuch über den Inhalt von Verfahrensakten informiert sind – beispielsweise durch Verfahrensbeteiligte, welche anders als Ylenias Angehörige die Ermittlungsarbeit der Strafverfolgungsbehörden in ihrem Fall missbilligen.
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