Die Unrichtigkeitsvermutung als Gebot der Zeit
Für einen Paradigmenwechsel in der Medienrezeption
Mischa Senn, Prof. Dr. iur., Kunst – Innovation – Recht (KIR), Wirtschaftsmediation, Handelsrichter am Handelsgericht Zürich, Fachexperte und Vizepräsident Schweizerische Lauterkeitskommission (SK)
Übersicht
I. Einleitung und Ausgangslage Rz. 1
II. Zum Begriff Falschinformation 3
III. Kommunikationsrechtliche Regelungen 8
IV. Massnahmen und ihre Wirkungen 18
V. Anforderungen an eine Medienkompetenz 22
VI. Postulat einer Unrichtigkeitsvermutung 29
VII. Fazit 37
I. Einleitung und Ausgangslage
1
Bekanntlich ist vor allem in sozialen Medien die (Un-)Sitte von Falschinformationen verbreitet. Und «das Falschwissen scheint sich immer weiter zu verfestigen.»[1] Sei es beispielsweise durch unrichtige bzw. irreführende Behauptungen oder Verschwörungserklärungen. Auch (generative) KI-Systeme bzw. Sprachsysteme liefern zuweilen Desinformation. Dabei bringt selbst ein Faktencheck keine Garantie für eine Gewissheit der Richtigkeit, da diese Methode den Äusserungskontext u.U. ausser Acht lässt.[2] Das Problem von Falschinformation liegt im Erreichen eines breiten Publikumskreises und der Entfaltung schädlicher Wirkungen in der Gesellschaft. Diese können sich äussern in einem Vertrauensverlust gegenüber (staatlicher) Institutionen oder dem Verfälschen von Abstimmungsergebnissen.[3] Abgesehen davon wird gemäss aktuellen Untersuchungen ein Grossteil des Internet-Traffics von Bots erstellt. Das Bewusstsein der Problematik hat zwischenzeitlich auch in der Schweiz zugenommen, doch bestünde gemäss einer Ansicht angeblich noch kein «akuter Handlungsbedarf»[4].
2
Damit stellt sich die Frage, ob und wie die nicht neue Forderung nach Medienkompetenz gefördert bzw. überhaupt gewährleistet werden kann. Wie am Schluss aufgezeigt wird, könnte ein Aspekt der Medienkompetenz darin liegen, das Paradigma der Glaubwürdigkeit medialer Inhalte zugunsten einer Vermutung der Unrichtigkeit zu ersetzen.
II. Zum Begriff Falschinformation
3
Für die weiteren Ausführungen werden hier zuerst einige Begriffe beschrieben, nicht zuletzt auch aus Gründen ihrer Abgrenzungen.
4
Die Bezeichnungen Falsch-, Des- und Fehlinformation[5] werden unterschiedlich umschrieben und verwendet. Mittlerweile tritt häufiger die Bezeichnung Desinformation auf, die aber wiederum unterschiedlich verstanden werden will. Eine hilfreiche Übersicht im Begriffs-Wirrwarr gibt der Bericht des BAKOM vom 2021, indem dort festgestellt wird, dass «Falschinformation oft als Oberbegriff für unwahre Information verwendet» werde. Wobei ausgehend von diesem Oberbegriff unterschiedliche Tatbestände («Phänomene») erfasst würden, weshalb manche Publikationen die Desinformation als Oberbegriff für die verschiedenen Phänomene verwendeten. Zutreffend hält der Bericht fest, dass dieser «Begriff dadurch die nötige analytische Trennschärfe verliere. Insbesondere wird unklar, ob es sich um eine absichtliche oder unabsichtliche Verbreitung von faktisch falscher Information handelt. Vielfach wird daher Desinformation als beabsichtigte, manipulative Falschinformation verstanden und von der unbeabsichtigten Falschinformation als sogenannter «Missinformation» unterschieden.»[6]
5
Dieser Ansicht ist hier zu folgen, indem Desinformation eine beabsichtigte Falschinformation darstellt[7]; während die Falschinformation selbst als Oberbegriff steht. Wird eine in diesem Sinne verstandene Falschinformation (Desinformation) medial verbreitet, ist auch die Rede von Fake News. Damit stellt eine beabsichtigte Falschinformation nichts Anderes als eine Lüge dar, also willentliche Äusserung einer Unwahrheit. Beim Strafrechtstatbestand der Verleumdung (StGB 174) wird das mit «wider besseres Wissen» umschrieben.
6
Für den vorliegenden Beitrag sind weder die beschriebene Absicht noch die Wirkung von Belang, da es hier vorwiegend um die Frage der Erkennung einer Falschinformation an sich geht. Dass Falschinformationen auch – sozusagen – versehentlich entstehen und dann ebenso versehentlich verbreitet werden, ist selbstredend ein weiterer Umstand. Die Ursachen dafür sind unterschiedlich, beispielsweise Unaufmerksamkeit oder Unsorgfalt. Ob und wieweit hierbei ein (redaktionelles) Verschulden vorliegt, wäre im Einzelfall zu prüfen.
7
Ergänzend sei hier jedoch kurz auf die gegenteilige Entsprechung von Falschheit hingewiesen, zumal darauf weiter unten noch eingegangen wird. Das Gegenteil von Falschheit ist Wahrheit, die mit Übereinstimmung (Adäquanz) der Äusserung mit dem Sachverhalt umschrieben ist. Demgegenüber bedeutet Wahrhaftigkeit eine Übereinstimmung der Äusserung mit dem (eigenen) Gedanken.[8]
III. Kommunikationsrechtliche Regelungen
8
Zum vorliegenden Kontext scheint eine Eingrenzung des normativen Umfelds von Falschinformation angezeigt, weshalb die rechtlichen und gesellschaftlichen Normen kurz beschrieben werden.
1. Rechtliche Normen
9
Wenn hier von kommunikationsrechtlichen Regelungen gesprochen wird, betrifft dies insb. lauterkeits- und medienrechtliche Bestimmungen. Die jeweiligen Rechtsgrundlagen finden sich primär in staatlichen Normen (Gesetzen), aber auch bei der privaten Selbstregulierung oder innerhalb der (vertraglichen) Nutzungsbedingungen einzelner Plattformen[9]. Nur teilweise bzw. explizit von solchen rechtlichen Normen erfasst sind die allgemeine Grundsätze der Wahrheitspflicht und des Transparenzgebotes. Wie nachfolgend aufgezeigt wird, finden sich ihre konkreten Ausgestaltungen oder Umsetzungen in gesetzlichen Normen.
2. Grundsätze
10
Mit Grundsätzen werden die übergeordneten Prinzipien der medial unterstützten Kommunikation beschrieben.
A. Wahrheitspflicht
11
Wie eben erwähnt, besteht in der Schweiz keine gesetzlich vorgeschriebene Wahrheitspflicht (auch) für die traditionellen Medien (hier gemeint mit privaten oder öffentlich-rechtlichen Print- oder elektronischen Medien). Diese lässt sich auch nicht durch das Sachgerechtigkeitsgebot ableiten, wie es für redaktionelle Sendungen bei Radio und Fernsehen gilt (vgl. Art. 4 Abs. 2 RTVG). Vielmehr besteht (lediglich) eine Pflicht zur Wahrhaftigkeit.[10] Die Wahrhaftigkeit bezieht sich auf die subjektive Wahrnehmung[11], also das, was nach bestem Wissen und Gewissen persönlich für wahr gehalten wird. Ein «Wahrheitsgehalt» erschöpft sich bei einer Berichterstattung auf die Übereinstimmung der Äusserung (im Bericht) mit dem eigenen Gedanken. Dieser Umstand zeigt sich beispielsweise im standesethischen Kodex des Schweizerischen Presserates, der eine Pflicht zur «Wahrheitssuche» postuliert (vgl. Richtlinie 1.1 des Presserates). Ähnlich wie dem in Deutschland bestehenden Gebot des Strebens nach Wahrheit wird damit keine Wahrheitspflicht gefordert, sondern lediglich – aber immerhin – ein Gebot zur Wahrhaftigkeit. Man kann daher zumindest ein Gebot zur Wahrheitssuche als Standard für mediale Informationsvermittlung erkennen.
B. Transparenzgebot
12
In der Schweiz besteht ebenso wenig ein übergeordnet verankertes Transparenzgebot. Jedoch finden sich entsprechende und relativ konkrete Regelungen in lauterkeits- und medienrechtlichen Tatbeständen, aber auch in weiteren Bestimmungen.[12] Auch wenn diese Grundsätze nur im erwähnten Anwendungsbereich ihrer Tatbestände rechtliche Geltung erlangen können, lohnt sich ein prinzipieller Blick auf diese Regelungen, da sie auch allgemeine, gesellschaftliche Erkenntnisse und Prinzipien reflektieren. Das Verhältnis des Transparenzgebotes zu weiteren Geboten und Verboten wird daher kurz aufgezeigt.
13
Vorauszuschicken ist allgemein und insb. im Zusammenhang mit Falschinformationen, dass jeweils im Einzelfall zu prüfen ist, ob und unter welchen Voraussetzungen ein lauterkeits- oder medienrechtlicher Tatbestand erfüllt wird. Liegt eine solche Information ausserhalb des Anwendungsbereichs des UWG oder medienrechtlicher Regelungen, kommen diese Bestimmungen nicht zum Tragen. Zutreffend wird dementsprechend festgestellt, dass bisher «weitgehend ungeklärt ist, auf welche Kanäle und Inhalte das Trennungsgebot im Online-Bereich Anwendung findet», weshalb die Einführung eines allgemeinen Trennungsgebotes empfohlen wird.[13]
14
Das Gebot der Wahrheit bzw. Richtigkeit verlangt, dass eine Angabe (Information) richtig sein muss (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. b UWG). Aus dem (weiteren) Gebot der Klarheit ergibt sich, dass eine solche Information vollständig sein muss, da unvollständige Angaben irreführend oder täuschend sein können und insofern falsch sind.[14] Diese beiden Gebote dienen der Transparenz. Die jeweiligen Gebote haben ein Pendent in den Verbots-Grundsätzen. Beispielsweise ist die Täuschung eine Verletzung des Wahrheitsgebots.[15] Tatbestandsmässig findet sich das Täuschungsverbot beispielsweise in Art. 2 UWG (sog. Generalklausel).
C. Trennungsgrundsatz: Kennzeichnungspflicht und Erkennbarkeit
15
Aus den eben beschriebenen übergeordneten Grundsätzen ergibt sich hinsichtlich des Transparenzgebotes der lauterkeits- bzw. medienrechtliche Trennungsgrundsatz (Trennungsgebot), wonach eine Abgrenzung zwischen kommerzieller und redaktioneller Kommunikation (Information) vorzunehmen ist.[16] Dieser Grundsatz lässt sich (ebenfalls) aus Art. 2 UWG ableiten.[17] Der Trennungsgrundsatz enthält zwei Elemente: Einerseits wird eine Kennzeichnung, andererseits die Erkennbarkeit verlangt.
16
Die Kennzeichnung stellt ein rein formales Kriterium dar, indem die Art und Weise des Inhalts bzw. die Quelle und der Charakter der Information zu deklarieren ist. Je nach Medium ist das in geeigneter Form vorzunehmen, beispielsweise mit «Anzeige», «Influencing» (o.ä.) oder «von KI erstellt». Selbstredend ist bei der Kennzeichnungspflicht, dass die Deklaration ihrerseits erkennbar (genügend sichtbar) sein muss (vgl. dazu die Ausführungen in Ziff. IV, Rz. 18 ff.).
17
Demgegenüber bildet die Erkennbarkeit das inhaltliche, materielle Kriterium. Sie kann sich beispielsweise aufgrund graphischer Trennung (u.a. Gestaltung, Layout), Textart, medialem Umfeld (z.B. Plattform) und vor allem hinsichtlich ihres Inhalts ergeben. Verlangt wird dabei eine klare bzw. eindeutige Erkennbarkeit.[18] Die Erkennbarkeit ist aus der Sicht des angesprochenen Zielpublikums zu beurteilen. Zur Frage der für die notwendige Erkennbarkeit erforderlichen Erkennungsfähigkeit wird auf das Anforderungsprofil der Nutzer verwiesen (Ziff. V Medienkompetenz, Rz. 22 ff.).
IV. Massnahmen und ihre Wirkungen
18
Forderungen nach mehr Transparenz und damit Erkennbarkeit von falschen Informationen jeder Art sind nicht neu. Seit Jahrzehnten wird vorgeschlagen, einerseits Massnahmen zu erlassen, damit solche Falschinformationen schon gar nicht entstehen, oder andererseits Massnahmen für den erforderlichen Umgang damit aufzustellen.
19
Die einzelnen Massnahmen werden in diesem Beitrag nicht aufgelistet, zumal sie anderswo bereits hinlänglich umschrieben sind.[19] Stattdessen liegt hier der Fokus auf der Medienkompetenz (s. Ziff. V).
20
Vorweg ist aber auf die Frage der Wirkung der Massnahmen hinzuweisen. Denn so gut diese gemeint und so wichtig sie tatsächlich sind, vermindern einige, oft auch faktische Umstände eine erfolgreiche Wirkung solcher Massnahmen. Beispielsweise aufgrund des Umstandes, dass Kennzeichnungen im Allgemeinen keine grosse Wirkung auf die Wahrnehmung von Inhalten erlangen[20] – sofern die Kennzeichnung selbst überhaupt wahrgenommen, oder – noch bedenklicher – verstanden wird.[21] Gemäss diesen Untersuchungen ist somit davon auszugehen, dass die Deklaration der Art des Inhalts wie auch Warnhinweise zu Falschinformationen vielfach wenig Wirkung zeigen (vgl. dazu auch die Ausführungen zur Kennzeichnungspflicht, Ziff. III. 2, Rz. 10 ff.). Weiter kann beispielsweise eine fehlende Zuschreibungssicherheit, z.B. bei Deep Fakes[22], ebenfalls den Erfolg einer Massnahme in Frage stellen.
21
Des weiteren hat die unterschiedliche Verbreitung auf den medialen Kanälen ebenfalls eine unterschiedliche Wirkung. Während die Kommunikation in journalistischen Medien aufgrund ihrer Reichweite eine öffentliche Debatte ermöglichen, findet die Verbreitung von Inhalten beispielsweise über Messengerdienste (wie WhatsApp etc.) nicht über eine breitere Öffentlichkeit statt, sondern weitgehend im jeweils selbst definierten «privaten» Rahmen. Eine soziale Kontrolle und Überprüfung der tatsächlichen Sachlage wird damit deutlich reduziert.[23]
V. Anforderung an eine Medienkompetenz
22
Für einen adäquaten Umgang mit Medieninhalten werden verschiedentlich eine ganze Reihe von Kompetenzen vorgeschlagen. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert der Aspekt der Medienkompetenz, die als «Voraussetzung für das Erkennen und den kritischen Umgang mit Desinformation»[24] umschrieben wird.
23
Die Medienkompetenz dient dem Schutz der Medienkonsumenten. Damit das Publikum (Medienkonsumenten) Desinformationen überhaupt erkennen und kritisch damit umgehen kann, bedingt es dazu bestimmte Anforderungen. Dargestellt nach ihren Einzelkriterien umfasst Medienkompetenz in allgemeiner Hinsicht die Fähigkeit und Kenntnisse, die Medien (adäquat) zu nutzen, die verschiedenen Aspekte der Medien und Medieninhalte zu verstehen und kritisch zu bewerten sowie in vielfältigen Kontexten zu kommunizieren.[25]
24
Die Medienkompetenz geht von einem Nutzer-Leitbild mit bestimmten, definierten Eigenschaften aus, wobei diesem eine normative Setzung zugrunde liegt. Vergleicht man dabei die strukturellen Grundvoraussetzungen näher, so ist eine Analogie zum sog. Konsumentenleitbild erkennbar. Für das Konsumentenleitbild hat sich ein Anforderungsprofil mit drei Kriterien durchgesetzt; nach diesem geht man vom durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittskonsumenten aus.
25
Für das Leitbild des Mediennutzers hat sich so weit bekannt (noch) keine entsprechende Formel wie beim Konsumentenleitbild etabliert. Doch sind auch einige Kriterien des Konsumentenleitbilds erkennbar. So spricht das Bundesgericht zwar auch vom «unvoreingenommenen Zuschauer», dann wiederum aber vom «(mündigen) Zuschauer» oder auch vom «politisch sensibilisierten, medienkritischen Zuschauer». Dementsprechend ist vom Leitbild des durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Medienkonsumenten auszugehen.[26]
26
Ausgehend von diesen Grundbedingungen für eine Medienkompetenz und dem dargelegten Leitbild ist beim (durchschnittlichen) Medienkonsumenten von folgenden konkreten Fähigkeiten auszugehen: Das Kriterium[27] der Informiertheit verlangt bestimmte Kenntnisse, um Medieninhalte überhaupt adäquat nutzen zu können.[28] Bedingung ist somit ein entsprechendes Vorwissen, was auch in der Rechtsprechung des Bundesgericht zum Ausdruck kommt. Die Fähigkeit zum Verstehen und kritischen Bewerten von Medieninhalten bedingt seinerseits ein gewisses Mass an Aufmerksamkeit. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Fähigkeit zur formalen Erkennung des (deklarierten) Inhalts. Diese Eigenschaften verweisen ebenfalls auf das Kriterium des verständig handelnden Medienkonsumenten.
27
Wenn zutreffend festgehalten wird, dass Regelungen zur Transparenz zwar die Verbreitung von Desinformation nicht einschränken können, eine Transparenz jedoch dafür sorgen könne, dass die Nutzer die Informationen «besser bewerten und kontextualisieren können»[29], wird damit letztlich auf das eben beschriebene Anforderungsprofil für eine entsprechende Medienkompetenz angesprochen. Dieses Anforderungsprofil ist zugegebenermassen anspruchsvoll. Eine Forderung, wonach andere oder gar geringere Anforderungen bei den Nutzern sozialer Medien zu entwickeln wären, wäre weder zweckmässig noch wird es – soweit bekannt – ernsthaft postuliert. Dass diese Anforderungen (noch) nicht hinreichend erfüllt werden, wird andererseits nicht bestritten; vielmehr ist festzustellen, dass die «Medienkompetenz ernüchternd» sei.[30] Das zeigt sich beispielsweise im folgenden Umstand: Um Falschinformation zu erkennen, muss – gemäss Erhebung des BfS – erst mal das Bewusstsein von deren Existenz vorhanden sein. Dieses Bewusstsein ist nicht bereits gegeben und hängt zudem eben gerade von der Medienkompetenz ab. Bedenklich ist dabei der Umstand, dass, wenn kompetente Medienkonsumenten formal von einer Desinformation ausgehen, deren inhaltlicher Wahrheitsgehalt aber nur von rund 22% überprüft werde.[31]
28
Somit stellt sich die Frage, was eine Alternative oder jedenfalls Ergänzung für den adäquaten Umgang mit Falschinformationen wäre, soweit ein entsprechendes Anforderungsprofil (noch) nicht erreicht wird.
VI. Unrichtigkeitsvermutung
29
Es wäre also zu überlegen, ob die Medienkonsumenten daher mit Vorteil davon ausgehen sollten, dass die vermittelten Inhalte unrichtig sind, zumindest solange sie keine gesicherte Kenntnis über die Richtigkeit der Angaben haben bzw. die Kriterien des Leitbildes nicht erfüllt sind. Gemäss diesem Ansatz wäre somit eine Unrichtigkeit zu vermuten. Die Unrichtigkeitsvermutung stände damit der hermeneutischen Billigkeit[32] gegenüber, wonach keine redliche Absicht hinter der Aussage erwartet werden darf. Das führte zu einem Wechsel vom Vertrauensvorschuss[33] in Misstrauensvorschuss.
30
Die Unrichtigkeitsvermutung wäre bei Beiträgen in sozialen Medien und insb. bei durch generische Sprachsysteme (wie ChatGPT) gelieferte Angaben angebracht. Aber auch und insb. bei den sich ausbreitenden News-Portalen wie beispielsweise «Epoch Times Deutschland», die vorgeben, journalistisch zu arbeiten, jedoch tatsächlich (bewusste) Falschinformationen verbreiten.[34] Und selbst bei traditionellen Medien wäre zumindest eine der bisherigen Rezeption gegenüber erhöhte Aufmerksamkeit nicht abträglich.
31
Was die Bewertungs- resp. Beurteilungsleistung gegenüber Medieninhalten anbelangt, kann auf das Anforderungsprofil im Leitbild des Medienkonsumenten verwiesen werden. Hinsichtlich der oben erwähnten Kriterien (vgl. Ziff. V, Rz. 22 ff.) hat insb. – aber nicht ausschliesslich – das der Aufmerksamkeit besondere Bedeutung. Dieses Kriterium verlangt nebst der Fähigkeit für einen Plausibilitätscheck auch eine Skepsis gegenüber Mitteilungen aller Art. Eine in diesem Sinne häufig erwähnte «gesunde» Skepsis, welcher letztlich der gesunde Menschenverstand zugrunde liegt, würde für eine gebotene Vorsicht schon mal hilfreich sein.
32
Ist zudem allgemein bekannt, dass vor allem auf sozialen Medien breit gestreut Falschinformationen von ganz unterschiedlichen Quellen kursieren, kann nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass die Angaben zutreffend (richtig) sind, sondern dass sie eben auch und zunehmend häufig falsch sein können. Daher vermutet man vorsichtshalber erst einmal, dass der Inhalt der Meldung unrichtig ist. Diesem Verhalten läge somit ein Paradigmenwechsel hin zur Unrichtigkeitsvermutung zugrunde.
33
Damit verbunden wäre auch eine Abkehr von der Rechtsfigur des «unbefangenen Durchschnittslesers».[35] Das gälte gleichermassen im Bereich der sozialen Medien als auch den traditionellen Print- und elektronischen Medien. Immerhin wird für die Letztgenannten gemäss Bundesgericht je nach Genre bzw. Sendungsgefäss zwischen dem eben erwähnten, d.h. dem «unbefangenen» und dem «kritischen» Publikum oszilliert.[36] Da im Bereich der sozialen Medien eine Differenzierung des Nutzerprofils nur beschränkt möglich ist, ist grundsätzlich auf den auch sonst massgebenden mündigen und damit vernunftgemäss handelnden Bürger abzustellen. Das entspräche im Übrigen den Anforderungen an die Urteilsfähigkeit von Personen, wie es im allgemeinen Personenrecht des ZGB (vgl. Art. 16) statuiert ist. Abgesehen davon hilft eine Qualifikation von Unbefangenheit im Bereich der Medien wenig, vielmehr entwertet sie die sonst verlangten Anforderungen des Rezipientenverständnisses. Weshalb ausgerechnet an die Medienkonsumenten andere, sprich tiefere Anforderungen wie Unbefangenheit (anstelle der drei erwähnten Kriterien des Leitbildes) zu stellen wären, ist i.Ü. nicht ersichtlich.
34
Insbesondere auf den «sozialen» Kanälen, wo und soweit die Kommunikation weitgehend im privaten (Benutzer-)Kreis stattfindet und eine Verifizierungsmöglichkeit des (behaupteten) Inhalts deutlich eingeschränkt ist, wäre die Vermutung sicherlich am wirkungsvollsten. Eine andere Frage bleibt, ob in diesen Kreisen denn überhaupt ein Bedürfnis an Klärung des Wahrheitsgehalts besteht.
35
Umgekehrt reduzieren allgemeine Faktoren die Gefahr von Täuschung aufgrund von Falschinformation, beispielsweise durch eine höhere soziale Kontrolle innerhalb einer Bevölkerung oder durch einen qualitativ hochwertigen Informationsjournalismus.[37] Zumindest Letzteres deutet – nebenbei bemerkt – auf das Anforderungskriterium der Informiertheit des Durchschnittslesers hin.
36
Sollte man sich indessen mit dieser Vermutung schwer tun, wären solche Informationen einfach als Erzählungen zu rezipieren. Wie bei Märchen wäre die Geschichte in sich wohl schlüssig – aber sie spielt nicht in der Realität. Und die Leser wissen das.
VII. Fazit
37
Solange und soweit die erforderliche Medienkompetenz im Umgang mit Falschinformationen nicht hinreichend besteht, kann eine Unrichtigkeitsvermutung die Gefahr von Täuschungen aller Art zumindest reduzieren. Da die gebotene Medienkompetenz seit geraumer Zeit nicht wirklich, jedenfalls nicht wirksam etabliert werden konnte, ist ein solcher Paradigmenwechsel umso dringlicher. Wie dieser umzusetzen wäre, ist von zuständigen Stellen anzugehen.
38
Die Unrichtigkeitsvermutung postuliert im Übrigen und selbstredend keinen Freipass für die Anbieter der (fraglichen) Inhalte. Die Sanktionsmöglichkeiten gegen ein entsprechendes Fehlverhalten bestehen ja an sich, indem man insb. mit lauterkeits-, medien- und persönlichkeitsrechtlichen Schutzrechten dagegen vorgehen kann. Die Vermutung bietet vielmehr einen Selbstschutz bei der eigenen Wahrnehmung und bietet eine präventive Wirkung gegen Täuschungen.
Fussnoten:
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So Ruth Fulterer, KI-Blödsinn vermüllt das Internet, NZZ v. 3.8.2024, 49 ↑
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vgl. dazu Johannes Odendahl, Fakten gecheckt – Diskussion vertagt, NZZ v. 17.10.2020, 21 ↑
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vgl. dazu Florent Thouvenin, Mark Eisenegger (et al.), Governance von Desinformation in digitalisierten Öffentlichkeiten, Jusletter v. 5.2.2024, 13, unter Hinweis auf andere Studien; vgl. auch FÖG, Jahrbuch Qualität Medien 2023, 11 ↑
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So jedenfalls Thouvenin/Eisenegger (Fn. 3), 10 ↑
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vgl. z.B. Stefan Gürtler/Rodolfo Ciucci, UBI-Beschwerden aus Kommunikationstheoretischer Sicht, Medialex 5/2016, N.11 ↑
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BAKOM, Intermediäre und Kommunikationsplattformen, Bericht vom 17.11.2021, 26
Wobei die (Un-)Absichtlichkeit wohl nicht in der Verbreitung, sondern in der Falschheit liegt (was wahrscheinlich auch so gemeint war). ↑
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In diesem Sinne auch die Definition im EU Verhaltenskodex für Desinformation, 2022,
(https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/library/2022-strengthened-code-practice-disinformation [abgerufen am 19.7.24)];
demgegenüber erweitern Thouvenin/Eisenegger den Begriff auch hinsichtlich seiner möglichen Wirkung (Thouvenin/Eisenegger [Fn. 2], 3.
Immerhin wird vereinzelt festgehalten, dass beispielsweise rhetorische Stilmittel wie Parodie keine Desinformationen seien (vgl. EU Verhaltenskodex für Desinformation, 2022, Fn.5 (https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/library/2022-strengthened-code-practice-disinformation [angesehen 19.7.24]) ↑
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Wahrhaftigkeit kann entsprechend auch mit Glaubensgewissheit umschrieben werden (vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.12, Basel 2004, 47
Zum Ganzen Mischa Senn, Publikumsschutz und Leitbild des Medienkonsumenten, Medialex 2011, 80–88, 83. ↑
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Thouvenin/Eisenegger (Fn. 3), 3, 13, erwähnen unternehmensinterne Nutzungsbedingungen unter dem Titel Selbstorganisation. ↑
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vgl. Ziff.II.
dazu Urs Saxer, Von den Medien zu den Plattformen, Tübingen 2023, 84 ↑
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vgl. Saxer, (Saxer 10), 84, Fn.83; Rolf H. Weber, Rundfunkrecht, Bern 2008, 4 N.20.
Vgl. auch die Bezeichnung Glaubensgewissheit in Fn.8. ↑
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Transparenz bzw. ein Transparenzgebot wird beispielsweise und vor allem angesichts des aktuellen Handlungsbedarfes im Bereich von KI-Entwicklungen gefordert, wenn insb. die Funktionsweise und deren Zweck «in verantwortungsvoller (…) Weise offengelegt» werden sollen (Leitlinien «Künstliche Intelligenz» für den Bund, hrsg. vom Bundesrat, undatiert, 4).
Auch datenschutzrechtliche Bestimmungen postulieren ein Transparenzgebot bei der Datenbearbeitung (vgl. beispielsweise Art. 25 Abs. 2 DSG). ↑
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vgl. Thouvenin/Eisenegger (Fn. 3), 15 ↑
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Zum Ganzen Mischa Senn, Influencer-Marketing und die Rechtswirklichkeit, Jusletter vom 16.12.2019, 11 (m.w.H.) ↑
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vgl. Günter Bentele, Leitwerte der Medien- und Informationsethik, Wahrheit, in: Jessica Heesen (Hg.), Handbuch Medien- und Informationsethik, Stuttgart 2016, S. 65; sowie Mischa Senn, Werberecht, in: U. Grüter/M. Scheider/M. Senn, Kommunikationsrech.ch, 2. A., Zürich 2012, 112 (m.w.H.) ↑
-
Vgl. anstelle vieler Senn, Influencer-Marketing (Fn. 14), 12 (m.w.H.); Thouvenin/Eisenegger (Fn. 3), 15 ↑
-
Vgl. zum Ganzen ausführlich Carl Baudenbacher, Lauterkeitsrecht, Basel 2001, Art. 2 N. 71; ferner SHK [Stämpflis Handkommentar], 2. A., Bern 2016, Art. 2 N. 41.
Medienrechtliche Bestimmungen finden sich in Art. 9 Abs.1 RTVG und Art. 12 Abs. 1 RTVV.
Grundsätze der Schweizerischen Lauterkeitskommission [SLK-GS] dazu: SLK-GS B.15 (Erkennbarkeit) und B.15a (Trennungsgrundsatz). ↑
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Vgl. SLK-GS B.15.1; dazu Entscheid der SLK [SLKE] v. 9. Januar 2002 [«Bester Empfang»], sic! 2002, S. 393;
dazu: Senn, Influencer-Marketing (Fn. 14), 12 (m.w.H.) ↑
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vgl. die im Beitrag erwähnten Quellen ↑
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vgl. Christoph Nehring/Benjamin Lange, Gegen KI-generierte Deepfakes hilft KI-Erkennung nur begrenzt, NZZ v. 22.1.2024, mit Hinweis auf entsprechende Studien ↑
-
vgl. Jan Fivaz/Daniel Schwarz, Die Medienkompetenz der Schweizer Bevölkerung, Bern 2022, 61 ↑
-
vgl. Tobias Hinderks, Die Kennzeichnungspflicht von Deepfakes, ZUM 2022, 110
Eine Zuschreibungsfähigkeit ist letztlich auch abhängig vom Wissenstand des Nutzers und korreliert mit dem Kriterium der Informiertheit (siehe Ausführungen bei Medienkompetenz). ↑
-
siehe Thouvenin/Eisenegger (Fn. 3), 5 ↑
-
vgl. Thouvenin/Eisenegger (Fn. 3), 20; dieser Beitrag nennt daneben auch noch eine «Digitalkompetenz» ↑
-
Zum Ganzen Senn, Leitbild Medienkonsument, (Fn. 8), 85 (m.w.H.); vgl. dazu die Empfehlung der EU vom 20.8.2009 zur Medienkompetenz in der digitalen Welt (2009/625/EG). ↑
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Ausführlich und m.w.H. vgl. Senn, Leitbild Medienkonsument (Fn. 8), 85 ff. ↑
-
In anderen Publikationen wird die Bezeichnung Dimension (statt Kriterium) verwendet (s. beispielsweise Fivaz/Schwarz, Medienkompetenz [Fn. 21], i . ↑
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Die «tiefe Informiertheit und entsprechend geringen Kenntnisse und Kompetenzen» könnten durch eine «persönliche Überforderung» bedingt sein (so Fivaz/Schwarz, Medienkompetenz [Fn. 21], iii]. ↑
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vgl. dazu Thouvenin/Eisenegger (Fn. 3), 14 ↑
-
Fivaz/Schwarz, Medienkompetenz (Fn. 21), i ↑
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So jedenfalls die Angaben des BfS in der Erhebung zur Internetnutzung von 2021, Desinformation im Internet – Wahrnehmung und Massnahmen, Mai 2022, 4 ↑
-
vgl. Odendahl (Fn. 2) ↑
-
vgl. dazu Niklas Luhmann, Vertrauen, 4. A., Stuttgart 2000 ↑
-
vgl. Gioia Da Silva, «Pink Slime» ist die wahre Lügenpresse, NZZ v. 17.8.2024, 52 ↑
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vgl. Peter Nobel/Rolf H. Weber, Medienrecht, 4.A., Bern 2021, 3 N.144, mit Hinweis auf BGE 117 IV 193 «Bernina» ↑
-
Zum Ganzen Mischa Senn, Die Rechtsfigur des Durchschnittsrezipienten, KUR 2013, 17–22, 20 (m.w.H.) ↑
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vg. Thouvenin, Eisenegger (Fn. 3), 7, (m.w.H.). Statt «Gefahr von Täuschung» wird im zitierten Beitrag von «Resilienz» gegenüber Desinformation gesprochen, wobei nicht ausgeführt wird, welche Folge oder Effekt diese Widerstandskraft haben sollte. ↑
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