Justizberichterstattung und das Verständnis der Öffentlichkeit für die Institutionen und Prinzipien des Rechtsstaats*

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Gute Gerichtsreportagen erfordern fundierte juristische Kenntnisse und journalistische Fähigkeiten

Claudia Schoch Zeller, Dr. iur. Dr. h.c., Horgen

Résumé: Les chroniqueurs judiciaires ne se contentent pas toujours de rendre compte du déroulement des procès, ils ­ ou elles ­ mènent aussi, parfois, des recherches sur le cas jugé. Certains essayent même de savoir, avant le tribunal, ce qui s’est passé, car les comptes rendus judicaires, comme d’autres articles, se doivent aujourd’hui d’attirer l’attention. Mais les journalistes devraient aussi reconnaître leurs limites, quand ils s’aventurent sur un terrain juridique qu’ils ne maîtrisent pas. S’ils n’ont pas le bagage juridique nécessaire, ils devraient s’abstenir de dire comment un tribunal devrait trancher. L’analyse détaillée tend toutefois à disparaître des médias, alors que des chroniques judiciaires de qualité sont essentielles pour la démocratie et pour l’Etat de droit. Présenter de façon agréable les réflexions juridiques d’une cour n’est possible que si la ou le journaliste a de bonnes connaissances de droit. Les médias peuvent partager, ou non, l’avis des juges. Mais ils doivent d’abord présenter les arguments, les bases juridiques et leur utilisation par la cour, avant de critiquer un verdict. 

Zusammenfassung: Gerichtsreporter verstehen ihre Aufgabe mitunter nicht allein in der Berichterstattung, sie wollen bisweilen eigene Recherchen anstellen. Manche versuchen gar, der Wahrheitsfindung des Gerichts vorzugreifen, denn Gerichtsberichte müssen heute, wie andere Texte auch, Aufmerksamkeit erwecken. Begibt sich der Gerichtsberichterstatter auf juristisches Glatteis, sollte er seine Grenzen kennen. Wenn Journalisten ohne genügendes Wissen sich anmassen, der Leserschaft zu sagen, wie das Gericht zu entscheiden hat, ist das schlechter Journalismus. Die exakte Analyse wird im heutigen Journalismus allerdings zunehmend verdrängt. Aber für Demokratie und Rechtsstaat ist eine kompetente Gerichtsberichterstattung essenziell. Die juristischen Überlegungen eines Gerichts dem breiten Publikum attraktiv darstellen kann jedoch nur ein Journalist mit guten Rechtskenntnissen. Man mag die Meinung des Gerichts teilen oder nicht. Zunächst sind in jedem Fall dessen Beweggründe, die rechtlichen Grundlagen und deren Auslegung darzutun. Danach ist es dem Berichterstatter unbenommen, Kritik am Gericht zu üben.

I. Einleitung

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Beim Thema „Justizberichterstattung “ denkt jedermann zunächst an die Gerichtsberichterstattung. Sie ist für die Justizbehörden die unmittelbarste journalistische Form. Ich will mich auch auf sie konzentrieren, werde mir aber erlauben, den Blickwinkel gegen Ende des Beitrags etwas zu öffnen, und zwar auf die Berichterstattung über den Rechtsstaat und über Fragen der Rechtsverwirklichung in der Demokratie.

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Zunächst zur Gerichtsberichterstattung. Sie erzählt zu einem grossen Teil Geschichten, die das Leben schrieb. Dies ist besonders der Fall bei der Berichterstattung über die Verfahren vor den ersten Instanzen. Im Vordergrund stehen und wohl auch am häufigsten sind dabei Berichterstattungen über Straffälle. Die Berichterstattung in den Medien über zivilrechtliche Verfahren oder Verwaltungsverfahren fristen leider ein Mauerblümchendasein, obwohl ihre Bedeutung für die Gesellschaft nicht zu unterschätzen ist. Besonders anschaulich waren natürlich Berichte über Verfahren vor Geschworenengericht mit ihrer umfassenden Gerichtsunmittelbarkeit, die es aber seit der Einführung der eidgenössischen Strafprozessordnung im eigentlichen Sinne nicht mehr gibt. Das Tessin hat als einziger Kanton das Geschworenengericht beibehalten.

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Viele Journalisten sprechen von Gerichtsreportern statt von „blossen“ Gerichtsberichterstattern. Das ist bezeichnend. Sie verstehen ihre Aufgabe nicht allein in der Berichterstattung, auch nicht allein in der kritischen Darstellung des Prozessverlaufs. Sie stellen vielmehr erweiterte Ansprüche an sich und wollen eigene Recherchen anstellen. Manchmal versuchen sie auch der Wahrheitsfindung des Gerichts vorzugreifen oder gar jener des Gerichts eine eigene Wahrheit gegenüberzustellen. Solches Bestreben ist insbesondere bei Verfahren zu beobachten, die in der Öffentlichkeit grossen Wiederhall finden und länger dauern. Zu erinnern ist etwa an den Prozess gegen den bekannten Fernseh-Wettermoderator Jörg Kachelmann vor einigen Jahren in Deutschland. Im Anschluss an das Verfahren stand auch die Gerichtsberichterstattung in der Kritik. Einzelne Verlagshäuser mussten später Entschädigungen an Kachelmann bezahlen.

II. Auf der Suche nach Lesestoff – mehr als blosse Berichterstattung

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Norbert Leppert (*1945), der früherer Gerichtsreporter der Frankfurter Rundschau, meinte 2009 in einem Aufsatz zur Gerichtsberichterstattung in der Internationalen Zeitschrift für Journalismus, dass die Gerichtsreporter den Richtern oft wie bunte Vögel erscheinen dürften, die von Gerichtssaal zu Gerichtsaal hüpfen, immer auf der Suche nach Futter, nach Lesestoff.[1] Die Berichte über Gerichtsverfahren müssen heute, wie andere Texte auch, Aufmerksamkeit wecken beziehungsweise Leser, Nutzer und Quoten generieren. Das fordern die wirtschaftlichen Gegebenheiten und der harte Konkurrenzkampf, dem die heutigen Medien ausgesetzt sind.

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Insbesondere Wochenzeitungen und überregionale Zeitungen erwarten, wie bereits Leppert feststellte, mehr von ihren Journalisten als die Wiedergabe des Prozessverlaufs, mehr als reine Berichterstattung. Sie fordern eine kritische Gerichtsreportage, Features. Das bedeutet eine lebendig gestaltete Gerichts- oder Prozess-Reportage, womit man sich von der Konkurrenz unterscheidet.

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Dazu müssen Journalisten etwa nach der Vorgeschichte des Prozesses fragen. Sie beschreiben, wie einzelne Verfahrensbeteiligte einzuschätzen sind. Hat die Staatsanwaltschaft sauber ermittelt, oder droht die Anklage ins Wanken zu geraten? Wer sind die Beschuldigten, welche Charakterzüge weisen sie auf? Werden sie von ihren Anwälten engagiert vertreten, oder haben sie einen desinteressiert wirkenden Pflichtverteidiger an ihrer Seite? Sind die Zeugen um präzise Angaben bemüht, oder nehmen sie es mit der Wahrheit nicht so genau? Wirkt der Richter unvoreingenommen, oder lässt der Gang seiner Beweisaufnahme darauf schließen, dass er sich längst sein Urteil gebildet hat? Das sind Fragen, die sich Journalisten, wie Leppert schreibt, zu stellen hätten. Dabei werden teilweise kommentierende Ausführungen mit Stimmungsbildern aus dem Gerichtssaal vermischt, Argumente und Analysen mit atmosphärischen Schilderungen angereichert.

III. Richter – Gerichtsreporter, ein delikates Verhältnis

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Die Gerichtsberichterstattung berührt das Verhältnis zwischen Richterschaft und Gerichtsreportern unmittelbar und irritiert unter Umständen auch. Dieses Verhältnis ist ein delikates. Es wird umso konfliktreicher, je mehr der Journalist von der Wiedergabe des Prozessverlaufes abrückt und ergänzende Recherchen anfügt sowie Kommentare einfliessen lässt. Durch eine in dieser Art gestalteten Berichterstattung beziehungsweise präsentierten Reportage über den Prozess sehen sich die Richter nicht selten falsch verstanden beziehungsweise ihre Arbeit falsch interpretiert. Ähnlich empfinden je nach Situation auch die Anwälte und ärgern sich etwa darüber, dass ihre Eingaben von den Journalisten nicht oder falsch gewürdigt werden.

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Gerichtsreportagen während eines Prozesses bergen die Gefahr, dass sie auf den Gang der Justiz Einfluss nehmen. Dies kann selbst der Fall sein, ohne dass es vom Journalisten beabsichtigt ist. Zeugen schildern nicht mehr unbefangen die eigenen Wahrnehmungen, sondern vermischen diese mit in der Zeitung oder in andern Medien Gelesenem oder Gehörtem. Richter sehen sich mit den in der Öffentlichkeit aufgebauten Erwartungshaltungen konfrontiert. Es braucht je nach Situation eine rechte Portion Standfestigkeit, sich davon – auch unbewusst – nicht beeinflussen zu lassen.

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Das beschriebene Selbstverständnis und Verhalten der Gerichtsberichterstatter wirft Fragen auf. Was ist ihre Aufgabe? Was ihre Rolle? Je nach Situation und Zeitgeist wurde die Arbeit der Gerichtsberichterstatter denn auch von Richtern, Anwälten und andern Juristen kritisch hinterfragt. Denn Juristen und insbesondere Richter haben, wie erwähnt, eine andere Erwartung an die Gerichtsberichterstattung als Journalisten beziehungsweise ihre Redaktionen und allenfalls auch als der Leser, Zuhörer und Zuschauer oder in jüngster Zeit der Nutzer. Journalisten verstehen ihre Arbeit anders als von Juristen oft gewünscht. Sie wollen aktuell berichten und nicht abwarten, bis ein Verfahren abgeschlossen ist. Sie sind zwar in der Regel bereit, darauf zu achten, ein Verfahren nicht zu beeinflussen. Sie wehren sich aber, sich in welcher Form auch immer als Teilhalber oder Beteiligte eines Verfahrens zu verstehen. Das sind sie auch nicht, obwohl ihre Arbeit Einfluss auf die Wahrnehmung eines Verfahrens in der Öffentlichkeit haben kann.

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Welchem Geist sollen die Gerichtsreporter also folgen? Welche Ziele haben sie zu verfolgen? Welche Aufgabe haben sie insbesondere in der freiheitlich liberalen Demokratie wahrzunehmen, namentlich in der halbdirekten Demokratie der Schweiz?

IV. Medieninformation statt Medienbelehrung

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In Diktaturen wurden nicht nur die Medien durch eine staatstreue Justiz unter Druck gesetzt. Es gibt und gab auch den umgekehrten Fall, dass versucht wird oder wurde, über eine willfährige Presse nicht ganz so gefügige Richter zur Raison zu bringen. Dies war etwa zur Zeit der Nationalsozialisten in Deutschland der Fall, als es zu Beginn der Diktatur unter rasch angepassten Richtern auch noch solche gab, die sich nicht ganz so rasch gleichschalten liessen und die versuchten, eine gewisse Unabhängigkeit zu wahren. Doch auch später kritisierte die NS-Presse die NS-Richterschaft immer wieder, worauf die inzwischen nazitreuen Gerichte die Aussprache suchten, um Verständnis bei der Presse zu finden, aber auch um die Berichterstatter aufzuklären, worum es geht.

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Mit etwas Beklemmung beschleicht einen der Verdacht, dass auch heute noch manch einer in der Justiz Tätige gerne den Journalisten einmal beibrächte, worum es geht. Dabei ist man sich aber selbstverständlich der grundlegenden Bedeutung unabhängiger Medien und auch der verfassungsmässig garantierten Medienfreiheit bewusst, weshalb man es doch lieber unterlässt, Medienschaffende auf Kurs zu bringen und sich auf Medieninformation beschränkt. An sich sollten freilich ein klar geführtes Verfahren und ein einleuchtend begründetes Urteil genügen, damit Medienschaffende korrekt berichten können. Doch leider nehmen sich oder können sich viele Berichterstatter die Zeit zu einer aufmerksamen Beobachtung eines Verfahrens heute nicht mehr nehmen. Damit wächst der Bedarf nach Medieninformation durch die Gerichte.

V. Nicht vierte Macht im Staat – sondern gesellschaftliche Kraft

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Doch sind sich die Journalisten ihrer Rolle und Funktion sowie Verantwortung auch bewusst? Oft bezeichnen sie sich als vierte Gewalt im Staat, die über allem wacht. Sie können sich damit vermeintlich auf namhafte Autoren wie Edmund Burke oder den ehemaligen amerikanischen Richter am Supreme Court Potter Stewart berufen.[2] Darin wie manche Medien sich heute freilich als vierte Gewalt im Staat sehen wollen, liegt auch eine Anmassung. Denn die Medien wären die einzige Macht in unserem Staat, der jegliche demokratische Legitimation abgeht.

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Die Medien sind vielmehr als gesellschaftliche Kraft zu verstehen, der allerdings einige nicht zu unterschätzende informale Macht zukommt. Sie sind wie Daniel Thürer schreibt, „zu Gesellschaft und Staat vielfältig und intensiv durchdringenden, prägenden Faktoren des öffentlichen Lebens geworden“.[3] Die Medien machen unter anderem die Abläufe und das Funktionieren von Politik, Verwaltung, Regierung und eben auch der Justiz öffentlich, stellen dar, analysieren, hinterfragen und bewerten. Medien setzen Bürger ins Bild und eröffnen Plattformen zur allgemeinen Diskussion. Durch die Medienfreiheit und eine Medienvielfalt – durch die Konkurrenz unter einander garantiert – soll die Meinungsbildung möglichst offen erfolgen können. Freilich unter dem Trend zur Konzernbildung schwindet die Konkurrenz. In vielen mittelgrossen Agglomerationen sind Medienunternehmen mit annähender Monopolstellung entstanden. Damit spielen das Korrektiv und die Begrenzung der Einflussnahme durch den Wettbewerb nur noch beschränkt. Als „ausgleichende“ Konkurrenten stehen sich zunehmend nur noch die öffentlich-rechtlichen Veranstalter mit ihren Regionalprogrammen und die Medienkonzerne mit ihren regionalen Produkten gegenüber.

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Das Bundesgericht hat in einem Entscheid vom Februar 2017 die zentrale rechtsstaatliche und demokratische Bedeutung der Medien hervorgehoben. Die Gerichtsberichterstatter nehmen, hält es fest, eine wichtige Brückenfunktion wahr, „weil sie der Öffentlichkeit Einblicke in die Justiztätigkeit eröffnen und diese über die geltende Rechtswirklichkeit orientieren“. Die Kontrolle staatlichen Handelns, welche durch das Öffentlichkeitsprinzip für Gerichtsverfahren etwa ermöglicht wird, dient laut Bundesgericht sowohl den Verfahrensbeteiligten als auch der Öffentlichkeit. Das Bundesgericht erblickt in der Anwesenheit des Publikums und namentlich auch der Medien eine gewisse Gewähr für korrektes und gesetzmässiges staatliches Handeln.[4]

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Eine ganz besondere Rolle kommt den Medien sodann zu, wenn übergeordnete Instanzen über den staatlichen Institutionen fehlen, an welche Beschwerde geführt werden könnte oder die zur Aufsicht berufen wären. Dies ist etwa bei den obersten Gerichten, namentlich dem Bundesgericht, der Fall. Über sein Tun wacht letztlich, abgesehen von der Beschwerdemöglichkeit an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, nur die öffentliche Meinung. Die Medien sind hier Mittler und eine Art Fermenter. Sie setzen in Kenntnis, sollen aber auch kritisch problematische Ergebnisse, Widersprüche oder Fehlleistungen aufdecken und diskutieren.

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Manche Journalisten machen allerdings den Anschein, stets allein auf der Lauer nach einem Justizskandal zu sein und unterlassen es, genau hinzuschauen, was im Gerichtssaal wirklich vor sich geht, und die geltende Rechtslage darzustellen. Es sei dahin gestellt, ob aus Desinteresse, Unkenntnis oder gar politischem Kalkül.

VI. Ärger über Journalisten hat Tradition

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Der Ärger über die Journalisten und die Klage darüber, es fehlten bei ihnen die erforderlichen Kenntnisse, hat freilich Tradition. Über die grossen Vorbilder der Gerichtsberichterstattung Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky oder Stefan Zweig ärgerten sich bereits die Richter der Weimarer Republik. Die Richter standen damals stark in der Kritik. Ihnen wurde in der jungen deutschen Republik zu Beginn der zwanziger Jahre von eher linksstehenden Journalisten und Literaten vorgehalten, Republik feindliche Entscheide zu fällen und einer Klassenjustiz Vorschub zu leisten.[5] Der promovierte Jurist Tucholsky soll ihnen 1921 unter dem Eindruck der allgemeinen Nachsicht mit den Mördern von Carl Liebknecht und Rosa Luxemburg etwa vorgeworfen haben, sie fällten den Rechtsspruch nach Stand und Rang. Die Richter sollen laut Ralph Angermund in seinem Werk zur deutsche Richterschaft zwischen 1919 und 1945 auf die damalige Kritik mit grosser Empfindlichkeit reagiert haben. Allerdings müsse man einräumen, meint Angermund, dass gewisse Gerichtsberichterstattungen geradezu reisserisch gewesen seien. Die Richter fühlten sich einer diffamierenden Berichterstattung ausgesetzt, insbesondere von der sogenannten Linkspresse und „Revolverblättern“, heute würden wir Boulevardmedien sagen.[6]

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Kritik an Gerichtsurteilen zu üben galt damals als schwere Schädigung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Justiz und damit als Gefährdung der staatlichen Autorität. Auf dem Deutschen Richtertag von 1925 verlangte man Massnahmen zur Förderung einer sachlichen Presse, einer Presse, welche die Autorität der Richter und die Interessen des Staates respektieren und stützen sollte. Richter beklagten laut Ralph Angermund eine vom „Parteigeist“ getrübte Berichterstattung. Es wurde gar ein „Richterschutzgesetz“ gefordert, das selbst jede Kritik an richterlichen Entscheiden unter Strafe stellen sollte.[7]

VII. Kritik setzt Kenntnisse voraus

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Und heute? Autoritäten und so auch die Richter haben in der rechtsstaatlichen Demokratie gelernt, mit Kritik zu leben und sie zu akzeptieren. Die Klagen sind aber geblieben. Man wünscht sich auch heute noch oft mehr Sachlichkeit und mehr juristischen Sachverstand von den Gerichtsreportern.

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Tatsächlich: Kritik setzt Kenntnis voraus. Wenn ein Berichterstatter einer namhaften Zeitung, wie im Swissair/SAirGroup-Prozess vor zehn Jahren geschehen, nach einem langen Prozesstag in seinem Bericht meinte, der Richter habe wiederum ungeachtet der Antworten seinen wohl über hundert Fragen umfassenden Katalog verlesen, wobei bisweilen der Eindruck einer Überforderung des Gerichts entstanden sei, es fehlten anknüpfende, vertiefende Fragen, dafür sei offensichtlich bereits à fond Erklärtes nochmals versucht worden zu erfragen, zeugt dies nicht von allzu grosser Kenntnis über das Beweisverfahren. Dieses wird nach Schweizer beziehungsweise damals Zürcher Prozessrecht nämlich vornehmlich von der Staatsanwaltschaft durchgeführt.

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Nicht alle berühmten Gerichtsberichterstatter hatten wie Kurt Tucholsky in Jura promoviert, aber die meisten hatten sich, wie etwa Gerhard Mauz, der legendäre Spiegel-Reporter zwischen 1964 und 1990, juristische Kenntnisse angeeignet. Auch der Neuen Zürcher Zeitung, die seit 1913 einen speziellen Korrespondenten für das Bundesgericht in Lausanne beschäftigt, war eine fachlich fundierte Berichterstattung wichtig. Zu erinnern ist etwa an die Korrespondenten Roberto Bernhard und Markus Felber, beide ausgebildete Juristen.

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Für journalistische Berichte über Verfahren vor den unteren Gerichtsinstanzen sind juristische Kenntnisse zwar nicht von ganz so grundlegender Bedeutung wie für eine gute Berichterstattung vor oberen Instanzen. Denn vor erster Instanz geht es oft auch darum, mit gesundem Menschenverstand zu beschreiben, was passiert ist, wie der Beschuldigte zum Täter wurde. Es werden Geschichten erzählt, die das Leben schrieb. Dabei werden allenfalls auch gesellschaftliche Umstände dargetan. Die rechtliche Seite des Verfahrens, etwa ob und wie Zeugen und andere Beweise die Tat untermauern und mit welchen rechtlichen Überlegungen die Richter zu ihrem Urteil gelangen, sind für die Berichterstattung oft eher nebensächlich. Der Journalist ist dabei weitgehend in der Rolle des kritisch beobachtenden Bürgers. Begibt er sich freilich auf das juristische Glatteis, sollte er seine allfälligen Grenzen bezüglich seiner juristischen Urteilskraft kennen und beachten. Leider ist dies nicht immer der Fall. Äussern sich Journalisten in ihren Berichten zu Verfahren vor erster Instanz zur Rechtslage – oder stellen sie Fragen – und verweisen sie auf eine gesellschaftliche Problematik, auf ein Auseinanderklaffen allenfalls der Prozessführung oder der Entscheidung des Gerichts mit dem Gerechtigkeitssinn der Bürger, gehört dies durchaus zu ihrer Aufgabe. Doch nicht wenige glauben, es besser als die Richter zu wissen, und wollen dem Leser oder Nutzer sagen, wie das Gericht zu entscheiden, wie es vorzugehen gehabt hätte, ohne über genaue Kenntnisse des Rechts zu verfügen. Wenn Journalisten ohne genügendes juristisches Wissen sich dies anmassen, ist das schlechter Journalismus.

VIII. Gute juristische Kenntnisse für Bundesgerichtskorrespondenten unerlässlich

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Regelmässig unerlässlich sind für den Gerichtsberichterstatter gute juristische Kenntnisse und ein gutes juristische Urteil vor den oberen Gerichten, namentlich vor Bundesgericht. Denn hier sind regelmässig und in Lausanne gar ausschliesslich Rechtsfragen Prozessthema. Wie soll ein Nicht-Jurist oder ein Journalist mit nur minimalem juristischem Wissen hierüber kritisch berichten? Und kritisch wollen und sollen heute Journalisten sein. Es besteht fast ein berufsethischer Zwang dazu.

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Dabei ist es eine kaum weniger grosse journalistische Herausforderung, die für den Laien trockenen und komplizierten juristischen Abwägungen eines Gerichts in eine allgemeinverständliche Sprache und journalistische Form umzusetzen und so deren Aktualität und allenfalls Bedeutung für die Gemeinschaft herauszuschälen. Darüber eine spannende Geschichte zu erzählen ist anspruchsvoll und verlangt fundierte juristische Kenntnisse und gute journalistische Fähigkeiten.

IX. Exakte Analyse heute wenig gefragt

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Die exakte Analyse wird im heutigen Journalismus allerdings eher verdrängt und hat im Kampf der Medien um Aufmerksamkeit bald nur noch ein Randdasein – diese Tendenz ist leider auch in Qualitätsmedien zu beobachten. Die juristischen Überlegungen eines Gerichts dem breiten Publikum attraktiv darstellen, kann, wie gesagt, nur ein Journalist mit guten Rechtskenntnissen. In den Chefredaktionen scheint man dafür aber leider immer weniger Verständnis zu haben – möglicherweise auch aus wirtschaftlichen Überlegungen.

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Oft begnügen sich die Medien damit, über das Ergebnis eines gerichtlichen Verfahrens, den Entscheid, das Urteil zu berichten. Dann gehen sie gleich dazu über, sich mit diesem kritisch auseinander zu setzen. Weshalb und gestützt auf welche rechtlichen Grundlagen und Überlegungen das Gericht indessen zu seinem Urteil gelangt war, erfährt der Leser beziehungsweise Nutzer kaum. Diese Art der Berichterstattung scheint zurzeit auch vor den obersten Gerichten einzureissen, wo es eben keine Geschichten zu erzählen gibt.

X. Klarheit und Wahrhaftigkeit

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Nur das Urteil festzuhalten und sodann daran Kritik zu üben, ist zumeist unfair gegenüber den Richtern und was viel schwerer wiegt, nachteilig für den Leser, den Nutzer, den Bürger. Denn er wird so schlecht, wenn nicht gar falsch informiert. Auf diesem Weg lässt sich aber eine politische Diskussion füttern, die in Unkenntnis der rechtlichen Grundlagen und Überlegungen unter Umständen von falschen Gegebenheiten ausgeht.

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Im Bundesgerichtsentscheid vom 26. November 2015 (2C_716/2014) zur Frage nach dem Verhältnis neueren Verfassungsrechts zu den Verträgen mit der EU zur Personenfreizügigkeit äusserste das Gericht die Ansicht, dass die neue Verfassungsbestimmung 121 a, wonach die Schweiz die Zuwanderung eigenständig steuert, nicht dazu führen kann, die Methodik zur Auslegung des Freizügigkeitsabkommens (FZA) zu ändern und das FZA etwa restriktiver auszulegen oder die Rechtsprechung des EuGH aus der Zeit nach der Unterzeichnung des FZA nicht mehr zu befolgen. Das Gericht gelangte mit differenzierten Überlegungen zu dieser Ansicht. In den Berichterstattungen über den Entscheid in den Medien wurden diese Ausführungen dem Leser nicht oder nur äusserst verkürzt vermittelt. Mit der Verkürzung auf das Entscheid-Ergebnis liess sich in der Folge Politik machen und die Empörung über das EU-hörige Bundesgericht befeuern. Wirklich informiert über die Rechtslage und die rechtlichen Überlegungen des Gerichts wurde der Bürger dabei nicht

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Doch selbst der Presserat, der anlässlich einer Beschwerde gegen die Berichterstattung über die schriftliche Urteilsbegründung Stellung nahm, sieht im Verzicht auf die Darstellung der rechtlichen Herleitung und somit in der Konzentration allein auf den Entscheid keine Verletzung der journalistischen Pflicht zur Wahrheitssuche und keine Unterschlagung wichtiger Informationen. Er rügte den Bericht lediglich, weil er am Schluss zwischen Kommentar und Berichterstattung zu wenig klar getrennt hatte.[8]

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Laut Presserat verlangen die journalistischen Sorgfaltspflichten somit nicht eine Berichterstattung, die auch die Begründung eines Gerichtsurteils umfasst und damit nachvollziehbar macht. Dies gilt offenbar selbst, wenn der Berichterstatter Kritik am Entscheid übt. Damit greift der Pressrat zu kurz: Man kann die Meinung des Gerichts teilen oder nicht. Zunächst sind aber in jedem Fall seine Beweggründe, die rechtlichen Grundlagen und deren Auslegung, für den Entscheid des Gerichts darzutun. Danach ist es jedem Berichterstatter absolut unbenommen, Kritik zu üben. Diese Klarheit und Wahrhaftigkeit erfordert eine Berichterstattung im demokratischen und vor allem im direktdemokratischen Rechtsstaat.

XI. Harmonisierung von Rechtsstaat und Demokratie – keine Über- und Unterordnung

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Rechtsstaat und Demokratie, für die Schweiz gar halbdirekte Demokratie, müssen in enger Verbundenheit und Wechselbeziehung zu einander stehen, quasi Hand in Hand in gegenseitiger Rückkopplung gehen. Zwar werden auf demokratischem Weg Gesetze erlassen, die Verwaltung und Gerichte anzuwenden haben und an die sie gebunden sind. Die Justiz ist aber nicht die Sklavin der Demokratie und auch nicht ihre Magd. Ihr Verhältnis zu einander ist weit komplexer. So ist die Justiz als Wahrerin und Hüterin des Rechtsstaates an die demokratischen Entscheide in ihrer Fülle gebunden und gleichzeitig zur Beachtung der Rechtsstaatsprinzipien aufgerufen. Die Demokratie und mit ihr das Volk sind aber auch nicht völlig ungebunden, sie sind vielmehr ihrerseits zur Beachtung der Grundprinzipien des Rechtsstaates verpflichtet. Rechtsstaat und Demokratie müssen in ihrem genseitigen Verhältnis immer wieder neu zu einer Harmonisierung finden.

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In der direkten Demokratie ist es wichtig, dass der Bürger, der mit seiner Stimme in Sachfragen entscheidend mitbestimmt, beide Prinzipien – jene der Demokratie und genauso jene des Rechtsstaates – versteht und die Entwicklungen angesichts der Globalisierung begreift. Wichtige Mittler sind die Medien. Zentral ist deshalb nicht zuletzt für den Rechtsstaat eine gute und kenntnisreiche Gerichtsberichterstattung.

XII. Traditionsreiche Demokratie – relativ junger Rechtsstaat

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Die Schweiz ist eine alte traditionsreiche Demokratie, hingegen ein eher relativ junger Rechtsstaat. Dies kommt unter anderem im Verständnis der Bürger für die rechtsstaatlichen Institutionen und Prinzipien zum Ausdruck. 120 Rechtsprofessoren erklärten Anfang 2016 in ihrem Aufruf gegen die Durchsetzungsinitiative den Bürgern die Bedeutung der rechtsstaatlichen Grundsätze der Verhältnismässigkeit, der Gewaltenteilung und der Geltung der Grundrechte. Sie unterstrichen am Schluss ihres Appells: „Die rechtsstaatliche Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und muss verteidigt werden.“ [9] Undenkbar, dass ein solcher Appell an die Stimmbürger auch im Interesse der direkten Demokratie je nötig gewesen wäre. Zu selbstverständlich und zu stark verankert ist der Wert der direkten Demokratie im Staatsverständnis der Schweizer.

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Tradition und geschichtliche Erfahrung spielen in einem Land eine wichtige Rolle. So fürchten etwa in Deutschland viele Bürger und auch mancher Staatsrechtsprofessor die direkte Demokratie. Hingegen scheint in Deutschland, der Rechtsstaat mit seinen Grundprinzipien weit grössere Wertschätzung zu geniessen. Das Verständnis für seine grundlegende Bedeutung für die Freiheit der Bürger ist in der Bevölkerung breit verankert.

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In der Schweiz dagegen ist manch einer überzeugt, durch die direktdemokratischen Institutionen seien auch die Rechte der Menschen ausreichend – für manche gar am besten – geschützt. Zum Rechtstaat fehlt es weitgehend an einer emotional patriotischen Beziehung. Er wird vielmehr von vielen als einengend für den freien und souveränen Willen des Volkes empfunden. Deshalb ist es wichtig, die Bedeutung der zentralen Prinzipien des Rechtsstaats für die Freiheit und den Schutz der Würde des Menschen auch in der direkten Demokratie aufzuzeigen und die Harmonisierung von direkter Demokratie und Rechtsstaat zu thematisieren. Dies wird mit der multikulturellen Gesellschaft, zu der die Schweiz geworden ist, zunehmend bedeutender. Denn solange der direktdemokratische Staat auf eine eher homogene Gesellschaft trifft, wird das Volk die Rechte seiner Bewohner kaum verletzen. Doch je zahlreicher die Minderheiten innerhalb der Bevölkerung sind, umso grösser wird die Gefahr, dass die Rechte einzelner durch die Mehrheit übergangen oder gar verletzt werden könnten. Medien sollten deshalb mehr Raum für die Fragen des Rechtsstaats und für kritische Berichte über die Rechtsverwirklichung in unserem Land einräumen und ihren Lesern nahebringen.

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Eine solche Möglichkeit besteht in einer Gerichtsberichterstattung, die sich die Mühe nimmt, die Entscheidungsgrundlagen sorgfältig darzutun und danach auch durchaus kritisch zu hinterfragen. Ebenso ist aber auch die Politik, insbesondere die Rechts- und Staatspolitik, gefordert, die Verwirklichung und Durchsetzung der rechtsstaatlichen Prinzipien immer wieder von Neuem zu thematisieren und nicht zuletzt auch das Verhältnis zum internationalen Recht aufzugreifen und zu analysieren. Ebenso sollte im politischen Journalismus nicht allein die Auseinandersetzung mit dem Ausmarchen von Interessen und die Darstellung und Analyse parteipolitischer Machtpolitik im Zentrum stehen. Auch hier ist den Fragen nach der Verwirklichung des Rechtsstaates in der halbdirekten Demokratie mehr Raum zu geben. Doch mit dem Ruf und dem Werben bei den Medien um Interesse an der Rechtspolitik und an der Verwirklichung des Rechtsstaates stösst man auf eher wenig Verständnis und taube Ohren. Zu abstrakt erscheint vielen das Thema, das sich für das Erzählen einer Geschichte wenig zu eignen scheint. Es stellt aber die Herausforderung guten Journalismus’ dar, anhand konkreter Vorfälle und politischer Projekte auch auf die für unser Zusammenleben entscheidenden Grundprinzipien hinzuweisen.

* Dieser  Beitrag erschien 2019 im Tagungsband «Justizberichterstattung in der direkten Demokratie» zum Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 22./23. Juni 2017 in Bellinzona, Franz Steiner Verlag [Nomos], Stuttgart 2019, S. 103 ff., herausgegeben von Daniel Kipfer und Anne Kühler. Die Veröffentlichung erfolgte im Beiheft 159 des Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie. 

Fussnoten:

  1. Norbert Leppert, Gerichtsberichterstattung – Der Sündenbock, Internationale Zeitschrift für Journalismus – Message 2-2009

  2. Daniel Thürer, Justiz und Medien, in: Kosmopolitisches Staatsrecht, 2005, 107 ff.

  3. Daniel Thürer aaO., 125

  4. Bundesgerichtsentscheid vom 22. Februar 2017, 1B_349/2016, 1B_350/2016 E 3.1.

  5. Ralph Angermund, Deutsche Richterschaft 1919 -1945, 1990, 26

  6. Ralph Angermund, aaO., 27

  7. Ralph Angermund, aaO., 26 f.

  8. Presserat, Stellungnahme Nr. 22/2016

  9. Simon Gemperli, 120 Rechtsprofessoren gegen die Durchsetzungsinitiative, Neue Zürcher Zeitung, 14.1.2016

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