Entscheidübersicht Verfassungsrecht und EMRK: Medienrelevante Rechtsprechung 2023
Franz Zeller, Titularprofessor an der Universität Bern und Lehrbeauftragter für Medien- und Kommunikationsrecht an der Universität Basel
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung Rn. 1
II. Medien-, Meinungs-, Wissenschafts-, Kunst- und Wirtschaftsfreiheit
1. Allgemeines 4
2. Staatliche Eingriffe in grundrechtlich geschützte Kommunikation
A. Geltungsbereich: Welche Freiheitsrechte sind betroffen? 5
B. Eingriff: Staatliche Schmälerung des grundrechtlichen Freiraums? 8
C. Betroffenheit: Befugnis zur Beschwerde gegen einen Eingriff 11
D. Verbot des Missbrauchs der Konventionsrechte (Art. 17 EMRK) 12
3. Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK) 16
4. Berechtigtes Beschränkungsziel (Art. 36 Abs. 2 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK) 17
5. Primärer Eingriffszweck: Schutz privater Interessen (guter Ruf u.a.)
A. Schutz des Ansehens (guter Ruf, Art. 10 Abs. 2 EMRK) 20
B. (Journalistische) Sorgfalt bei rufschädigenden Vorwürfen 28
C. Ansehensschutz bei Satire, Sarkasmus, Ironie und Humor 30
D. Schutz privater Interessen bei Vorwürfen strafbaren Verhaltens 31
E. Schutz der geschäftlichen Reputation von Marktteilnehmern 36
F. Schutz der Privatsphäre vor Blossstellung (z.B. durch Abbildung) 40
G.Art und Schwere der Sanktion bei (angeblich) rechtswidrigen Vorwürfen 44
6. Primärer Eingriffszweck: Schutz von Interessen der Allgemeinheit
A. Schutz amtlicher oder beruflicher Geheimnisse 45
B. Aufrufe zu Diskriminierung, Intoleranz, Hass und Gewalt 47
C. Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung von Völkermord 50
D. Massnahmen zum Schutz von Sittlichkeit, Gesundheit und Moral 53
E. Schutz des religiösen Friedens und religiöser Empfindungen 54
F. Schutz von Wahlen und Abstimmungen 55
G. Bekämpfung von Terrorismus und Aufrufen zur Gewalt 56
H. Weitere öffentliche Interessen 57
7. Beschränkungen der journalistischen Recherche 58
8. Redaktionsgeheimnis / Quellenschutz (Art. 17 Abs. 3 BV und Art. 10 EMRK) 60
9. Staatliche Pflicht zur Gewährleistung freier Kommunikation (Art. 10 EMRK) 61
10. Zensurverbot (Art. 17 Abs. 2 BV) 62
III. Informationszugang für Medien und Allgemeinheit
1. Informationszugang gestützt auf die EMRK 63
2. Informationszugang gestützt auf Bundesrecht (BGÖ, Archivierungsgesetz) 67
3. Informationszugang gestützt auf kantonales Recht 74
4. Anspruch auf rechtsgleiche und willkürfreie amtliche Information (Art. 8 und 9 BV) 75
5. Gerichtsöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 6 EMRK)
A. Öffentlichkeit der Verhandlung 76
B. Öffentlichkeit des Urteils ab Verkündung 77
C. Weitere Aspekte 79
6. Amtliche Pflicht zur Anonymisierung von Informationen 80
7. Aktive behördliche Kommunikation 81
IV. Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens 83
V. Radio und Fernsehen
1. Redaktioneller Inhalt von Radio- und Fernsehprogrammen
A. Bundesgerichtspraxis 85
B. Rechtsprechung des EGMR 89
2. Weitere Aspekte 91
V. Verfassungs- und konventionsrechtliche Aspekte der Online-Kommunikation
1. Recht auf Zugang zu Online-Informationen 92
2. Verantwortlichkeit für rechtswidrige Äusserungen
A. Haftung für eigene Äusserungen und Verlinkung 93
B. Haftung für Kommentare aussenstehender Dritter 94
C. Weitere Aspekte 97
3. Sperren und andere Beschränkungen des Zugangs zu Online-Inhalten 98
4. Staatliche Schutzpflichten im Online-Bereich 101
I. Einleitung
1
Die Entscheidübersicht will die wichtigsten staats- und menschenrechtlichen Entwicklungen des Rechtsprechungsjahres 2023 auf dem Gebiet freier (Massen-)Kommunikation dokumentieren und punktuell würdigen. Sie folgt dabei der gleichen Systematik wie in den Vorjahren.
2
Ausgangspunkt ist die etablierte Dogmatik für die Beschränkung von Freiheitsrechten: Zunächst ist zu klären, ob überhaupt eine staatliche Beschränkung des grundrechtlich garantierten Freiraums vorliegt (nachstehend II/2). In einem zweiten Schritt fragt sich, ob der hoheitliche Eingriff sämtliche Voraussetzungen für eine rechtmässige Grundrechtsbeschränkung (Art. 36 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK) erfüllt (nachstehend II/3-6). Spezielle Abschnitte widmen sich der freien Recherche (II/7), dem journalistischen Quellenschutz (II/8) sowie der staatlichen Pflicht zur Gewährleistung und zum aktiven Schutz freier Kommunikation (II/9). Behandelt werden sodann Rechtsfragen des Zugangs zu amtlichen Informationen (III) und des oft mit der Medienfreiheit kollidierenden Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK (IV). Den Abschluss bilden die verfassungs- und konventionsrechtlichen Aspekte von Radio und Fernsehen (V) und die Rechtsprechung zur Online-Kommunikation (VI).
3
Wie in den Vorjahren ergänzt die vorliegende Berichterstattung zur verfassungs- und menschenrechtlichen Kasuistik die bereits in medialex erschienenen Jahresübersichten zur Rechtsprechung auf Gesetzesstufe (zum Strafrecht, Programmrecht. Zivilrecht und zum BGÖ):
- Miriam Mazou/Marie Besse, Morceaux choisis de jurisprudence pénale rendue durant l’année 2023 en lien avec les médias, medialex 05/24 vom 7. Juni 2024
- Oliver Sidler, Rechtsprechungsübersicht 2023 der unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI, medialex 06/24 vom 4. Juli 2024
- Louis Wéry/Jonas Dupraz, Aperçu de la jurisprudence fédérale, cantonale et internationale rendue durant l’année 2023 en matière de droit civil en lien avec les médias, medialex 08/24 vom 7. Oktober 2024
- Daniel Ladanie-Kämpfer, Überblick über praxisrelevante Entscheide des Jahres 2023 zum Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ), medialex 03/24 vom 10. April 2024
Verschiedene der in diesen Übersichten erörterten Entscheide werden in der vorliegenden Zusammenstellung ebenfalls thematisiert, falls sie (auch) verfassungs- oder konventionsrechtliche Fragen aufwerfen.
II. Medien-, Meinungs-, Wissenschafts-, Kunst- und Wirtschaftsfreiheit
1. Allgemeines
4
Im Berichtsjahr zeigte sich erneut, dass die verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien freier Kommunikation in der Praxis eng verzahnt sind. In vielen Fällen waren staatliche Eingriffe sowohl auf ihre Vereinbarkeit mit der BV als auch mit der EMRK zu prüfen. Dies warf auch Fragen des Zusammenspiels der beiden Regelwerke auf. So thematisierte das Bundesgericht auch 2023 mehrmals, ob problematische Kommunikation als Missbrauch der Menschenrechte zu qualifizieren war. Eine entsprechende Missbrauchsvorschrift existiert im Konventionsrecht (Art. 10 EMRK), nicht aber im Text der Bundesverfassung.
2. Staatliche Eingriffe in grundrechtlich geschützte Kommunikation
A. Geltungsbereich: Welche Freiheitsrechte sind betroffen?
5
Im Zulässigkeitsentscheid „Acuris Holdings Limited c. Frankreich“ (Einstweilige Massnahme gegen „Debtwire“) N° 64594/19 vom 16.03.2023 [Importance Level (IL) 3] akzeptierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zwar, dass sich ein Informationsdienst für Wirtschaftsanalysen bei seiner Berichterstattung über die wirtschaftlichen Probleme eines Grossunternehmens auf die Pressefreiheit berufen kann. „Debtwire“ sei ein Presseorgan. Allerdings interessierten die Informationen über die Industriegruppe Consolis weniger die breite Öffentlichkeit als die Vertragspartner von Consolis und damit eine spezielle Leserschaft. Wohl standen sie unter dem Schutz der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK), doch genossen sie nicht den für Presseäusserungen geltenden erhöhten Schutz. Frankreichs Spielraum für Eingriffe in die Freiheitsrechte von „Debtwire“ war daher nicht beschränkt (§ 14 der Urteilsbegründung). Das zivilrechtliche Vorgehen der französischen Justiz bestand deshalb den Test der Verhältnismässigkeit (§ 15). Der EGMR bezeichnete die Beschwerde als offensichtlich unbegründet.
6
Kommentar: Im Gegensatz zum Text der Bundesverfassung differenziert Art. 10 EMRK nicht zwischen allgemeiner Meinungsfreiheit (Art. 16 BV) und Medienfreiheit (Art. 17 BV). Der Unzulässigkeitsentscheid im Fall «Debtwire» illustriert, dass die Unterscheidung aber auch unter konventionsrechtlichen Gesichtspunkten relevant ist. Dabei orientiert sich der Gerichtshof weniger an formalen Kriterien (Presseprodukt oder nicht?) als an der Funktion der herkömmlichen Massenmedien, Informationen von allgemeinem Interesse zu verbreiten. Betrifft eine Publikation nicht diese Funktion, so befindet sie sich zwar im Geltungsbereich von Art. 10 EMRK, kann aber keinen erhöhten Schutz beanspruchen.
7
Beim Verbot von Publikationen der Falun Gong Gruppe bejahte der EGMR im Urteil „Sinitsyn & Alekhin c. Russland“ N° 39879/12 vom 31.01.2023 [Importance Level (IL) 3] einen Verstoss gegen die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK). Die Prüfung des Gerichtshofs erfolgte im Lichte der ebenfalls in der Konvention garantierten Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK).
B. Eingriff: Staatliche Schmälerung des grundrechtlichen Freiraums?
a) Wird das Grundrecht überhaupt beschränkt?
8
Ein staatlicher Eingriff in die durch Art. 10 EMRK geschützten Rechte geschah gemäss EGMR im Anschluss an islamfeindliche Äusserungen Éric Zemmours in der französischen Fernsehsendung « Face à l’info ». Im Zulässigkeitsentscheid „Société d’Exploitation d’un Service d’Information CNews c. Frankreich» (Hassaufruf von Zemmour in TV-Diskussion) N° 60131/21 vom 7.11.2023 [IL 3] hatte die 2. Kammer eine Entscheidung des Conseil supérieur de l’audiovisuel (CSA) zu prüfen. Dieser hatte den Fernsehveranstalter nicht sanktioniert, sondern lediglich eine Mahnung (mise en demeure) ausgesprochen. Sie bezweckte, den Veranstalter von einer Wiederholung des vorgeworfenen Verhaltens abzuhalten und ermöglichte es CSA, für den Fall einer künftigen Widerhandlung eine Sanktion auszusprechen. Die Mahnung selber war zwar keine Sanktion, wohl aber eine staatliche Bedingung für die Ausübung der Meinungsfreiheit, die an den Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 2 EMRK zu messen war. Zur entsprechenden Prüfung des EGMR vgl. hinten Rn. 89.
9
Eine Beschränkung der Meinungsfreiheit bejahte auch das Grundsatzurteil der Grossen Kammer des EGMR im Fall „Macaté c. Litauen“ (Kinderbuch mit gleichgeschlechtlichen Paaren) N° 61435/19 vom 23.01.2023 [IL Key cases]. Das speziell für Kinder geschriebene Märchenbuch wurde von den litauischen Behörden zwar nicht dauerhaft aus dem Verkehr gezogen. Nachdem dessen Verbreitung zeitweise ausgesetzt worden war, durfte es nur mit dem warnenden Hinweis verbreitet werden, der Inhalt könne für Kinder unter 14 Jahren schädlich sein. Der Gerichtshof verwarf den Einwand der litauischen Regierung, die Verfasserin des Buchs sei gar nicht an der Verbreitung ihres Buchs gehindert worden und die Erziehungsberechtigten oder Lehrkräfte hätten den Warnhinweis auch einfach ignorieren können. Laut EGMR hatte die zeitweise Kennzeichnung als schädlich vermutlich eine beträchtliche Zahl von Erwachsenen davon abgehalten, ihren Kindern die Lektüre des sechs Märchen enthaltenden Kinderbuchs zu erlauben. Dies schmälerte die Möglichkeit der Verfasserin, ihre Ideen uneingeschränkt zu verbreiten. Die amtliche Kennzeichnung habe auch ihren Ruf beeinträchtigt. Überdies war sie geeignet, andere Personen von der Publikation ähnlicher Werke abzuhalten.
b) Verursacht die Grundrechtsbeschränkung einen erheblichen Nachteil (Art. 35 Abs. 3 Bst. b EMRK)?
10
Im eben geschilderten EGMR-Urteil „Macaté c. Litauen“ (Kinderbuch mit gleichgeschlechtlichen Paaren) N° 61435/19 vom 23.01.2023 [IL Key cases] wies die Grosse Kammer das Argument der litauischen Regierung zurück, der Verfasserin des Märchenbuchs sei durch den zeitweiligen Verbreitungsstopp und das Anbringen eines Warnhinweises kein erheblicher Nachteil entstanden (Art. 35 Abs. 3 Bst. b EMRK). Der Gerichtshof hielt u.a. fest, der Fall werfe schwerwiegende Fragen im Hinblick auf die Achtung der in der Konvention garantierten Menschenrechte auf. Deshalb prüfte er die Beschränkungsvoraussetzungen von Art. 10 Abs. 2 EMRK und verneinte letztlich, dass die litauischen Behörden einen berechtigten Eingriffszweck verfolgt hatten. Dazu hinten Rn. 18.
C. Betroffenheit: Befugnis zur Beschwerde gegen einen Eingriff
11
Gegen staatliche Beschränkungen der menschenrechtlichen Garantien wehren können sich nur nichtstaatliche Akteure. Mit der Beschwerdeberechtigung von öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstaltern befasste sich das EGMR-Urteil „Croatian Radio-Television c. Kroatien“ (Beschwerdebefugnis öffentlicher Veranstalter) N° 52132/19 vom 02.03.2023 [IL 2]; dazu nachstehend Rn. 91.
D. Verbot des Missbrauchs der Konventionsrechte (Art. 17 EMRK)
12
Die Beschränkungsvoraussetzungen für staatliche Eingriffe in die freie Kommunikation (Art. 10 Ab s. 2 EMRK) werden vom EGMR nur inhaltlich geprüft, wenn kein Missbrauch der Konventionsrechte (Art. 17 EMRK) vorliegt. Art. 17 richtet sich gegen Handlungen, die auf Abschaffung der in der Konvention festgelegten Rechtsansprüche und Freiheiten zielen. Gemäss eigenen Worten will der Gerichtshof diese «Missbrauchsklausel» nur in extremen Ausnahmefällen zur Anwendung bringen. Dies bestätigte die 3. Kammer des EGMR im Urteil „Zhablyanov c. Bulgarien“ (Rechtfertigung kommunistischer Repression) N° 36658/18 vom 27.06.2023 [IL 2]. Für den Gerichtshof sprang es nicht ins Auge, dass die Verbrechen des kommunistischen Regimes verharmlosende Äusserungen darauf abzielten, die Meinungsfreiheit für konventionswidrige Zwecke zu missbrauchen. Der EGMR prüfte daher, ob die Absetzung des stellvertretenden Parlamentsspeakers in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war (Art. 10 Abs. 2 EMRK). Dies bejahte er mit 6:1 Stimmen. In seiner abweichenden Meinung gab der Schweizer Richter Andreas Zünd zu bedenken, dass es sich um den einzigen Fehltritt des abgesetzten Speakers gehandelt habe.
13
Eine Prüfung nach Art. 10 Abs. 2 verweigerte der EGMR hingegen im Zulässigkeitsentscheid „Lenis c. Griechenland“ (Homophobe Äusserungen) N° 47833/20 vom 27.06.2023 [IL 2] dem Verfasser eines homophoben Blogposts, einem hohen Würdenträger der orthodoxen Kirche. Seine Publikation überschritt die hohe Hürde des Rechtsmissbrauchs. Lenis hatte Homosexuelle als Abschaum bezeichnet und u.a. dazu aufgerufen, sie anzuspucken. Solche verbalen Exzesse gehörten laut EGMR nicht nur in die Kategorie schwerster Formen der Hassrede, bei denen LGBTI-Personen die Menschlichkeit abgesprochen wurde. Sie stachelten auch zur Gewalt auf. Nach Ansicht einer Mehrheit der 3. Kammer des EGMR bedeutete dies einen unter Art. 17 EMRK fallenden Missbrauch freier Kommunikation. Die Kammer prüfte deshalb nicht, ob die bedingte Freiheitsstrafe von fünf Monaten verhältnismässig war. Die Beschwerde von Lenis sei offensichtlich unbegründet.
14
Im schweizerischen Verfassungsrecht gibt es zwar keine Art. 17 EMRK entsprechende Spezialvorschrift. Dennoch prüfte das Bundesgericht im Berichtsjahr verschiedentlich, ob problematische Äusserungen gegen Art. 17 EMRK verstossen haben könnten. Dies geschah sowohl in BGE 149 IV 170 (Dieudonné – Gaskammersketch; nachstehend Rn. 52) E.1 als auch in BGer 6B_857/2022 (Parti Nationaliste suisse) vom 13. April 2023, E. 1.4.2. Letztlich liess es die Frage eines Rechtsmissbrauchs offen und prüfte die Voraussetzungen für einen Grundrechtseingriff (namentlich die Verhältnismässigkeit nach Art. 36 Abs. 3 BV). Sie waren in beiden Fällen gegeben und die Schuldsprüche damit verfassungskonform.
15
Kommentar: Die neuere Lausanner Rechtsprechung macht nicht klar, ob das Bundesgericht beabsichtigt, künftig die Schuldsprüche für bestimmte drastische verbale Exzesse nicht mehr an der Meinungsfreiheit zu messen und solche Strafurteile ohne Test der Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV) zu akzeptieren. Aus verfassungsrechtlicher Sicht wäre dies abzulehnen, zumal hierzulande eine Art. 17 EMRK entsprechende Sonderregelung fehlt und die EMRK einen Schutzstandard garantiert, über den das nationale Verfassungsrecht punktuell hinausgehen darf bzw. soll.
3. Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)
16
Grundsätzlich bedarf jede Beschränkung grundrechtlich geschützter Kommunikation einer Gesetzesvorschrift, die den Betroffenen eine nach den Umständen vernünftige Vorhersehbarkeit des staatlichen Einschreitens ermöglicht. Auch im Berichtsjahr hatte der Gerichtshof Fälle zu beurteilen, in denen die verlangte Grundlage fehlte. Dies galt für das EGMR-Urteil „OOO Mediafokus c. Russland“ (Pauschale Zugangssperre zu neuer Website) N° 55496/19 vom 17.01.2023 [IL=3; vgl. auch hinten Rn. 99].
4. Berechtigtes Beschränkungsziel (Art. 36 Abs. 2 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)
17
Staatliche Beschränkungen grundrechtlich geschützter Kommunikation setzen voraus, dass der gesetzlich vorgesehene Eingriff einem legitimen Zweck dient (Art. 10 Abs. 2 EMRK). In der letzten Zeit zweifelte die Justiz ab und zu daran, ob eine bestimmte amtliche Massnahme überhaupt einem berechtigten Ziel diente. Dies zeigte sich auch im Berichtsjahr.
18
Im Grundsatzurteil „Macaté c. Litauen“ (Kinderbuch mit gleichgeschlechtlichen Paaren) N° 61435/19 vom 23.01.2023 [IL Key cases; Sachverhalt vorne Rn. 9] hielt die Grosse Kammer fest, dass der behördliche Warnhinweis auf einem Kinderbuch keinem legitimen Eingriffszweck diente. Zwei von sechs im Buch enthaltenen Märchen hatten sich der Heirat zwischen gleichgeschlechtlichen Personen gewidmet. Der Gerichtshof verneinte, dass das Buch explizit sexuelle Passagen enthielt. Er fand im Text auch keine Anhaltspunkte für die Behauptung der litauischen Regierung, die Verfasserin setze heterosexuelle Beziehungen herab. Die gegen das Buch ergriffenen Massnahmen dienten nicht der Förderung der legitimen Ziele des Schutzes der Moral, Gesundheit oder der Rechte anderer (Art. 10 Abs. 2 EMRK). Vielmehr zielten sie nach Überzeugung des EGMR darauf ab, Kindern Informationen zu verwehren, nach denen gleichgeschlechtliche Beziehungen den heterosexuellen im Wesentlichen gleichwertig sind. Die Geschichten waren laut EGMR nicht schädlich, sondern förderten Respekt und Akzeptanz für alle Mitglieder der Gesellschaft hinsichtlich des Aufbaus fester Beziehungen als grundlegendem Aspekt des menschlichen Lebens.
19
Kommentar: Das richtungsweisende EGMR-Urteil zum litauischen Märchenbuch ist der erste Strassburger Entscheid zur Literatur über gleichgeschlechtliche Beziehungen. Der Gerichtshof vertritt seinen klaren Standpunkt in einem sorgfältig begründeten Urteil. Es erwähnt u.a. die Stellungnahmen der Háttér Gesellschaft, der European Region of the International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA-Europe) und der Menschenrechtsorganisation ARTICLE 19. Auf nicht weniger als 30 Seiten enthält die Urteilsbegründung Informationen über innerstaatliche Rechtsvorschriften und Verfahren sowie einschlägiges Material von Europarat, EU und UNO, aber auch vergleichende Darstellungen von Recht und Praxis. Im Ergebnis ist es überzeugend, dass der EGMR die Massnahmen der litauischen Behörden nicht erst wegen Unverhältnismässigkeit beanstandete, sondern dass er sie bereits an der vorherigen Hürde des berechtigten Eingriffsziels scheitern liess.
5. Primärer Eingriffszweck: Schutz privater Interessen (guter Ruf u.a.)
A. Schutz des Ansehens (guter Ruf, Art. 10 Abs. 2 EMRK)
20
Wie üblich beschäftigte die Kollision zwischen Meinungsfreiheit und dem in Art. 10 Abs. 2 EMRK ausdrücklich erwähnten Schutz des guten Rufs sowohl das Bundesgericht als auch den EGMR.
a) Vorwürfe im politischen Zusammenhang (public figures)
21
In BGer 6B_1040/2022 (Verleumdete Staatsrätin) vom 23.08.2023 bestätigte die I. strafrechtliche Abteilung einen Schuldspruch wegen Verleumdung (Art. 174 StGB) der Waadtländer Staatsrätin Jacqueline de Quattro durch den früheren Journalisten Fabien Dunand, der sich als Whistleblower betrachtete. Gemäss Bundesgericht erhob der Rentner im Zusammenhang mit einem Konflikt um die Baugruppe Orllati wissentlich falsche Vorwürfe gegen die Staatsrätin, der er gesetzeswidriges Verhalten, Skrupellosigkeit und Lügenhaftigkeit vorwarf. Überdies wurde Dunand wegen Schreckung der Bevölkerung (Art. 258 StGB) verurteilt.
22
Im Urteil „Index.hu Zrt c. Ungarn“ (Gerücht über den Staatspräsidenten) N° 77940/17 vom 07.09.2023 [IL 3] beanstandete der EGMR die zivilrechtliche Haftung eines Nachrichtenportals wegen der Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Staatspräsidenten. In einem Bericht hatte das Portal einen bekannten Publizisten zitiert, wonach er während der Militärzeit gleichzeitig mit Ungarns späterem Staatspräsidenten im Militärgefängnis gesessen sei. Gemäss damals zirkulierenden Gerüchten habe der Staatspräsident in betrunkenem Zustand wahllos um sich geschossen. In einem Kommentar zweifelte die Redaktion am Wahrheitsgehalt der Geschichte und hielt fest, das Büro des Präsidenten sei für eine Stellungnahme angefragt worden. Einige Stunden nach der Publikation des ersten Beitrags dementierte das Büro das Gerücht und hielt fest, der Präsident sei während der Wache eingeschlafen. Dies hielt Index.hu in einem zweiten Beitrag fest. Wegen der Veröffentlichung der unwahren Geschichte wurde Index.hu zur Zahlung einer zivilrechtlichen Entschädigung verpflichtet. Nach dem einstimmigen Urteil der 1. Kammer ist die Index.hu auferlegte objektive Haftung für die Wiedergabe ehrverletzender Äusserungen Dritter nur schwer mit der bestehenden Strassburger Rechtsprechung zu vereinbaren. Die ungarische Ziviljustiz habe es unterlassen, den Anspruch auf Schutz des guten Rufs gegen das Interesse an der offenen Diskussion politischer Fragen abzuwägen. Sie hatte auch nicht berücksichtigt, ob Index.hu die Drittäusserungen gebilligt oder unterstützt hatte. Die journalistische Berichterstattung über von anderen Personen verbreitete Geschichten oder Gerüchte verdient laut EGMR Schutz, sofern diese nicht jeglicher Grundlage entbehrten (§ 39).
b) Vorwürfe gegen andere öffentlich exponierte Akteure
23
Im BGer 4A_339/2023 (Superprovisorisches Publikationsverbot) vom 27.07.2023 entschied die Präsidentin der I. zivilrechtlichen Abteilung gegen einen freischaffenden Investigativ-Journalisten, der vergeblich die zeitnahe Überprüfung eines gegen ihn verhängten Publikationsverbots verlangte hatte. Das Zuger Obergericht hatte dem Journalisten am 1. März 2023 superprovisorisch untersagt, bestimmte Vorwürfe gegen einen Rechtsanwalt zu veröffentlichen, der im Zusammenhang mit den Sanktionen gegen russische Geschäftsleute auf die US-amerikanische SDN-Liste («Specially Designated Nationals and Blocked Persons») gesetzt worden war. Der Journalist argumentierte vergeblich, er könne mit der Publikation seiner Recherche nicht bis zum Ende des ordentlichen Klageverfahrens (Art. 268 Abs. 2 Zivilprozessordnung, ZPO) zuwarten. Nach den Worten der Abteilungspräsidentin verlangt das Bundesgericht für die Anfechtung blosser Zwischenentscheide «nunmehr in konstanter Praxis», dass der Beschwerdeführer einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur dartue. Dies treffe für die Verzögerung der geplanten Buchpublikation nicht zu und auch nicht für die behauptete Gefahr einer Abschreckungswirkung («chilling effect») des Verbots auf den betroffenen Journalisten und auf andere Medienschaffende.
24
Kommentar: Schon fast schnippisch hält die Urteilsbegründung fest, die Befürchtung eines Abschreckungseffekts entspringe bloss dem persönlichen Empfinden des Journalisten. Der Nichteintretensentscheid in dieser Angelegenheit verträgt sich schlecht mit der Strassburger Rechtsprechung. Er illustriert, dass im schweizerischen Recht eine rasche gerichtliche Korrektur von Präventiveingriffen in die Medienfreiheit schwierig bleibt. Es kommt vor, dass die Ziviljustiz letztlich unberechtigte Veröffentlichungsverbote erst nach Jahren aufhebt. Der EGMR hat immer wieder betont, dass Nachrichten ein verderbliches Gut sind und dass selbst die nur kurzzeitige Verzögerung ihrer Veröffentlichung sie all ihren Werts und ihres Interesses berauben kann. Wegen dieser Gefahr akzeptiert der Gerichtshof vorsorgliche Publikationsbeschränkungen lediglich in Ausnahmefällen («exceptional circumstances») und verlangt eine wirkungsvolle richterliche Überprüfung. Von solchen Überlegungen ist in der Praxis des Bundesgerichts wenig zu spüren.
25
In BGer 6B_777/2022 (Dieudonné – Gaskammersketch) vom 16.03.2023 bestätigte die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts den Schuldspruch gegen den Komiker Dieudonné wegen Ehrverletzung (in BGE 149 IV 170 nicht publizierte Erwägungen 2 und 3). Nach kontroversen Auftritten in Genf und Nyon (für die er später wegen Verstoss gegen Art. 261bis StGB verurteilt werden sollte; vgl. nachstehend Rn. 52) war Dieudonné 2019 heftig kritisiert worden. Der Generalsekretär der CICAD (Coordination intercommunautaire contre l’antisémitisme et la diffamation) griff ihn öffentlich hart an. Dieudonné reagierte darauf in einem Interview auf Youtube. Sein heftiger verbaler Gegenschlag überschritt die Grenze der Ehrverletzung: Das Bundesgericht bestätigte, dass Dieudonné die CICAD vulgär beschimpft hatte (Art. 177 StGB). Überdies beging der schwarze Komiker eine üble Nachrede (Art. 173 StGB) gegen den CICAD-Generalsekretär. Er bezeichnete ihn als Nachkommen jüdischer Sklavenhändler und diffamierenden Rassisten, der Dieudonné wegen seiner Hautfarbe hasse und ihn nicht als menschliches Wesen betrachte. Das Bundesgericht verwarf Dieudonnés Einwand, der Generalsekretär habe ihn zu seinen erzürnten Äusserungen provoziert (was unter dem Blickwinkel von Art. 173 ohnehin nicht massgebend wäre). Die Kritik an Dieudonné habe es nicht gerechtfertigt, den Generalsekretär gutgläubig des Rassismus zu bezichtigen (E. 3.4).
26
Das EGMR-Urteil „Bild GmbH & Co KG c. Deutschland” (Unverpixelte Bilder von Polizeieinsatz) N° 9602/18 vom 31.10.2023 [IL 2] hielt erneut fest, dass Polizisten zwar keine Personen des öffentlichen Lebens sind. Falls sie in amtlicher Stellung handeln, müssen sie aber schärfere Kritik akzeptieren als Privatpersonen. Für Einzelheiten zu diesem Urteil siehe nachstehend Rn. 41.
c) Rufschädigende Vorwürfe gegen besonders geschützte Personen
27
Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
B. (Journalistische) Sorgfalt bei rufschädigenden Vorwürfen
28
Das EGMR-Urteil „Radio Broadcasting Company B92 AD c. Serbien” (Korruptionsverdacht bei Impfstofferwerb) N° 67369/16 vom 05.09.2023 [IL 2] betraf Fernsehbeiträge und Online-Artikel, die 2011 im Zusammenhang mit Impfstoffbeschaffungen Korruptionsvorwürfe gegen die stellvertretende Gesundheitsministerin und andere Amtsträger geäussert hatten. Die zivilrechtliche Sanktionierung des Rundfunkveranstalters B92 AD war nach einhelliger Ansicht der 4. Kammer unverhältnismässig. Die serbische Ziviljustiz war der Auffassung, B92 AD habe sich bei der Publikation der gravierenden Vorwürfe nicht allein auf die amtliche Mitteilung des Innenministeriums verlassen dürfen. Der EGMR hielt hingegen fest, die Grenzen des verantwortungsvollen Journalismus seien respektiert worden. Interne offizielle Berichte seien eine wichtige Quelle für Medienschaffende, müssten aber ausreichend verifiziert werden. Dies sei hier geschehen. B92 AD habe versucht, die Version der angegriffenen Amtsträger einzuholen. Überdies wurde eine Stellungnahme der Sonderstaatsanwaltschaft veröffentlicht. Nach Ansicht des EGMR berichteten die Medienschaffenden in gutem Glauben und mit der erforderlichen Sorgfalt über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse.
29
Im EGMR-Urteil „Udovychenko c. Ukraine” (Zeugin eines Verkehrsunfalls) N° 46396/14 vom 23.03.2023 [IL 2] hielt die 5. Kammer einstimmig fest, dass ehrenrührige Aussagen einer Augenzeugin nicht am gleichen Sorgfaltsmassstab zu messen sind wie von den Medien erhobene Vorwürfe. Von der Zeugin eines Verkehrsunfalls dürfe nicht der Beweis verlangt werden, dass das von ihr Wahrgenommene sich tatsächlich so ereignet hat wie von ihr geschildert (§ 45). Nach Auffassung des Gerichtshofs diente die Debatte über den lokale Aufmerksamkeit erregenden Unfall mit einer Schwerverletzten einem legitimen Informationsinteresse der Allgemeinheit.
C. Ansehensschutz bei Satire, Sarkasmus, Ironie und Humor
30
Unter dem Deckmantel des Humors bestritt der französische Komiker Dieudonné in öffentlichen Auftritten die Existenz von Gaskammern. Das Bundesgericht bestätigte den Schuldspruch wegen Verletzung von Art. 261bis StGB in BGE 149 IV 170 (Dieudonné – Gaskammersketch). Ausführlich zu diesem Urteil hinten Rn. 52.
D. Schutz privater Interessen bei Vorwürfen strafbaren Verhaltens
a) Unschuldsvermutung, Recht auf fairen Prozess, Resozialisierung
31
Das EGMR-Urteil „Mesić c. Kroatien” (No. 2) (Bestechlichkeitsvorwurf gegen den Staatspräsidenten) N° 45066/17 vom 30.05.2023 [IL 2] erinnert daran, dass journalistische Vorwürfe strafbaren Verhaltens auch bei Publikationen über public figures die Unschuldsvermutung respektieren müssen. Die verlangte Präzision der Wortwahl ist bei journalistischen Berichten zu Vorwürfen von grossem öffentlichem Interesse allerdings weniger ausgeprägt als bei den Ausführungen einer Gerichtsbehörde (§ 80). Eine Mehrheit der 2. EGMR-Kammer stützte daher das Vorgehen der kroatischen Ziviljustiz, welche eine persönlichkeitsrechtliche Klage des von einem Internet-Newsportal massiv angegriffenen kroatischen Staatspräsidenten abgewiesen hatte. Der Staat habe seine menschenrechtliche Pflicht zum Schutz des Ansehens (Art. 8 EMRK) nicht missachtet. In einer ausführlichen dissenting opinion kritisierten die beiden Richter Küris und Ilievski, das Urteil setze einen ausgesprochen niedrigen Standard für den Schutz der Persönlichkeitsrechte beim Vorwurf kriminellen Verhaltens.
b) Behördliche Äusserungen über identifizierte Tatverdächtige
32
In mehreren Fällen beanstandete der Gerichtshof eine allzu offensive behördliche Kommunikation über hängige Straffälle. Eine Verletzung des Anspruchs auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) bejahte etwa das EGMR-Urteil „Narbutas c. Litauen” (Korruption beim Kauf von Covid-19-Tests) N° 14139/21 vom 19.12.2023 [IL 2]. Narbutas hatte 2020 die Kontakte zwischen einem spanischen Pharmaunternehmen und dem litauischen Nationallabor hergestellt und wurde später wegen Korruptionsverdachts verhaftet (Verdacht der Annahme eines als Provision getarnten Bestechungsgelds). In ihrer gleichentags veröffentlichten Medienmitteilung nannte die Behörde den verhafteten Narbutas mit vollem Namen und erwähnte auch seine frühere Funktion als Vorsitzender der Koalition der Krebspatienten (POLA). Die Namensnennung missachtete die Menschenrechte, zumal Narbutas zum Publikationszeitpunkt kein öffentliches Amt bekleidete. Dass er vor vier Jahren Berater des damaligen Staatspräsidenten gewesen war, vermochte die identifizierende Behördenkommunikation nicht zu rechtfertigen. Der Gerichtshof betonte die besondere Schwere der Rufschädigung durch die Online-Publikation, die gerade wegen der Auffindbarkeit durch Suchmaschinen gravierender sei als bei Äusserungen der gedruckten Presse (§ 266).
33
Die amtliche Bekanntgabe der Identität schürte auch das Interesse der Medien, die Narbutas an einem Gerichtstermin in besonders nachteiliger Weise filmten und fotografierten (die Bilder erweckten den Eindruck, er sei in Handschellen vorgeführt worden). Narbutas war gezwungenermassen am Gerichtstermin anwesend und hatte keine Chance, dort sein Privatleben zu schützen. Nachdem er die Strafverfolgungsbehörden in verschiedenen Interviews und auf Facebook scharf kritisiert hatte, erhielt er eine offizielle Verwarnung der Staatsanwaltschaft. Sie verbot ihm, weitere Informationen über die vorgerichtlichen Untersuchungen ohne Erlaubnis der Staatsanwaltschaft zu veröffentlichen. Dieses Publikationsverbot diente zwar berechtigten Eingriffszwecken nach Art. 10 Abs. 2 EMRK (§ 290 der Urteilsbegründung: Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen, Wahrung der Autorität und Unparteilichkeit der Justiz sowie Schutz der Rechte anderer). Das Verbot beschränkte nach einstimmiger Auffassung der 2. EGMR-Kammer die Meinungsfreiheit aber in unverhältnismässiger Weise. Viele Einzelheiten des Verfahrens waren bereits öffentlich bekannt. Es fehlten auch Hinweise darauf, dass Narbutas Informationen über geheime Überwachungsmassnahmen oder andere vertrauliche Angaben aus der Untersuchung weitergegeben haben könnte.
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Kommentar: Das Urteil in diesem litauischen Fall leistet einen wesentlichen Beitrag zur immer wieder auftauchenden Frage der Publizität in der eigentlich geheimen Verfahrensphase vor einer allfälligen öffentlichen Strafverhandlung im Gerichtssaal (Narbutas wurde 2023 erstinstanzlich freigesprochen). Besonders lesenswert sind die Ausführungen zur Kommunikationssperre der Staatsanwaltschaft in § 294ff. der Urteilsbegründung. Die Intervention der Staatsanwaltschaft diente weniger dem Abschirmen von Geheimnissen als dem Schutz der Behörden vor heftiger Kritik an ihrer Untersuchungstätigkeit. In diesem öffentlichkeitswirksamen Fall hinderten die Behörden den Tatverdächtigten daran, seinen Ruf zu verteidigen, was letztlich die kommunikative Waffengleichheit missachtete. Der EGMR stärkt damit das Recht von Verdächtigen, ihre Sichtweise bei einem gegen ihren Willen geführten «trial by media» wirkungsvoll in die öffentliche Debatte einzubringen. Eine umfangreiche Analyse dieser Urteilsbegründung findet sich bei Donatas Murauskas, Trial by media and the right to respond in Narbutas v. Lithuania, in Strasbourg Observers vom 01.03.2024 (https://strasbourgobservers.com/2024/03/01/trial-by-media-and-the-right-to-respond-in-narbutas-v-lithuania/).
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Das EGMR-Urteil „Tadic c. Kroatien” (Veröffentlichte Telefonabhörung) N° 25551/18 vom 28.11.2023 [IL 2] verneinte eine Verletzung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) und der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) wegen Veröffentlichung der Aufnahmen von Telefongesprächen, welche die Geheimdienste abgehört hatten. Die Publikation erfolgte zwei Monate vor dem Urteil des obersten kroatischen Gerichts in einem Strafprozess wegen Kriegsverbrechen. Der EGMR hielt fest, die Mitglieder des Gerichts seien erfahrene Justizprofis. Es gebe keinerlei Hinweis darauf, dass sie sich bei ihrem Appellationsentscheid durch Publikationen beeinflussen liessen.
E. Schutz der geschäftlichen Reputation von Marktteilnehmern
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Auch im Berichtsjahr wurde das Bundesgesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG) auf journalistische Berichterstattung angewendet. Im Bundesgerichtsurteil 4A_340/2022 (Wirtschaftskammer Baselland) vom 18.04.2023 befasste sich die I. zivilrechtliche Abteilung mit einer Klage gegen die kritische Berichterstattung der «Basler Zeitung». Die Wirtschaftskammer wehrte sich gegen eine ihres Erachtens unlautere Medienkampagne und beantragte die Löschung zahlreicher publizierter Inhalte. Das Baselbieter Kantonsgericht verneinte zwar eine unlautere Medienkampagne, verpflichtete die Beklagten aber zur kompletten Löschung von insgesamt zwölf Berichten bzw. Formulierungen sowie zur Bezahlung von Gerichtskosten (CHF 50’000) und einer reduzierten Parteientschädigung an die Klägerin (ca. CHF 115’500). Das Bundesgericht korrigierte den Entscheid der Vorinstanz in zahlreichen Punkten, bejahte aber auch verschiedene Gesetzesverstösse. So sei der Vorwurf heikler Zahlungsanweisungen nicht belegt worden (E. 11). Als unlautere Herabsetzung bezeichnete das Bundesgericht auch die Aussage, das Abschöpfen von Steuergeldern sei das Geschäftsmodell der Klägerin, was Gesetzeswidrigkeit suggeriere (E. 12). Keinen UWG-Verstoss erkannte das Bundesgericht hingegen durch einen problematischen Untertitel («Unsaubere Kontrollen von X und Y bei KMU […] «). Nicht überzeugend sei das Argument der Vorinstanz, wonach der Durchschnittsleser einer Regionalzeitung bloss die Titel und Untertitel lese. Das angeführte Präjudiz (BGE 147 III 185 E. 4.2.3) habe die Berichterstattung auf der Online-Plattform einer Boulevard-Zeitung betroffen. Es lasse sich nicht auf die Durchschnittsleserschaft einer Regionalzeitung anwenden, von der wohl auch gewisse Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten vorausgesetzt werden könnten (E. 13.1.2).
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Kommentar: In bloss dreiköpfiger Besetzung relativiert das Bundesgericht die fragwürdigen Ausführungen von BGE 147 III 185 («Blick»-Schlagzeile «Dieser Schweizer hilft Kinderquäl-Sekte») über die Durchschnittsleserschaft von Onlineportalen, die sich mit Textinhalten nur flüchtig oder summarisch beschäftige. Dies ist aus Sicht der Medienfreiheit zu begrüssen (zur diskutablen Rechtsprechung des Bundesgerichts über isoliert rechtswidrige Titelsetzungen siehe Nora Camenisch, Journalistische Sorgfalt: Rechtliche und medienethische Anforderungen, Zürich 2022, S. 311ff.) Gleichzeitig illustriert das umfangreiche Gerichtsverfahren die verfassungsrechtliche Problematik des wirtschaftlichen Ehrenschutzes. Die Vielzahl eingeklagter Textpassagen, die ans Spitzfindige grenzende richterliche Analyse einzelner Aussagen und die hohen Anwalts- und Gerichtskosten scheinen geeignet, eine abschreckende Wirkung auf manche Medienschaffende zu entfalten.
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BGer 6B_762/2022 («Surtout ne commandez pas!!!») vom 11.01.2023 betraf einen im Juni 2021 publizierten Online-Kommentar über ein Unternehmen: « Surtout ne commandez pas!!! il va probablement faire faillite prochainement car il ne paye pas ses SOUS-TRAITANTS et ses clients sont très mécontents (voir les autres commentaires autres que ceux de ses proches) ». Nach einem Strafantrag des Unternehmens wegen übler Nachrede (Art. 173 StGB) stellte die Waadtländer Staatsanwaltschaft das Verfahren im März 2022 zwar ein. Wegen zivilrechtlich vorwerfbaren Verhaltens auferlegte sie dem beschuldigten Kommentarverfasser aber die Verfahrenskosten von CHF 375 und verweigerte ihm eine Entschädigung seiner Aufwendungen. Das Kantonsgericht stützte dies mit dem Argument, als Geschäftsführer eines Generalunternehmens hätte sich der Kommentarverfasser bewusst sein müssen, dass seine öffentlich erhobenen Vorwürfe einen Strafantrag und danach die Eröffnung eines Strafverfahrens provozieren konnten. Das Bundesgericht hielt fest, die Waadtländer Justiz habe keinerlei Rechtsnorm genannt, die der Kommentarverfasser verletzt haben könnte. Für eine Kostenauferlegung wegen rechtswidrig und schuldhaft bewirkter Verfahrenseinleitung (Art. 426 Abs. 2 Schweizerische Strafprozessordnung; StPO) könne ein unmoralisches oder treuwidriges Verhalten nicht genügen. Vorliegend fehle es an einem klaren Verstoss gegen eine geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensvorschrift des Schweizer Rechts.
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Kommentar: Die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts erinnert in ihrer Urteilsbegründung an den Grundsatz der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Abs. 2 EMRK). Sie betont, dass die Auferlegung der Kosten bei Verfahrenseinstellung oder Freispruch die Ausnahme bleiben muss. Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist ganz im Sinne freier Kommunikation, die auch Raum lässt für furchtlose Zuspitzungen und Übertreibungen.
F. Schutz der Privatsphäre vor Blossstellung (z.B. durch Abbildung)
a) Recht am eigenen Bild
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Im Urteil „Tüzünataç c. Türkei” (versteckte Aufnahmen einer küssenden Schauspielerin) N° 14852/18 vom 07.03.2023 [IL 3] beanstandete der EGMR die unzureichende Reaktion der türkischen Ziviljustiz auf heimlich erstellte Videoaufnahmen einer Schauspielerin. Die Fernsehequipe hatte Berrak Tüzünataç 2010 im Morgengrauen auf der Terrasse ihrer Wohnung beim Küssen eines anderen Schauspielers gefilmt. Die türkische Justiz wies die Zivilklage der Schauspielerin gegen die Publikation der Aufnahmen ab, denn die Fernsehcrew habe von einer öffentlichen Strasse aus gefilmt. Der EGMR bejahte einstimmig einen Verstoss gegen die staatliche Pflicht zum Schutz des Privatlebens (Art. 8 EMRK). Das Liebesleben einer Schauspielerin habe grundsätzlich rein privaten Charakter. Ohne ihre Einwilligung komme eine Bildpublikation nur in aussergewöhnlichen Umständen in Frage. Im konkreten Fall musste die Schauspielerin nicht damit rechnen, morgens um 5 Uhr aus der Distanz heimlich gefilmt zu werden.
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Das EGMR-Urteil „Bild GmbH & Co KG c. Deutschland” (Unverpixelte Bilder von Polizeieinsatz) N° 9602/18 vom 31.10.2023 [IL 2] betraf im Juli 2013 publizierte Berichte der Internet-Nachrichtenseite «bild.de» über einen Polizeieinsatz in einer Bremer Diskothek, der durch einen aggressiven Gast ausgelöst worden war. Der erste Bericht prangerte Polizeibrutalität an. Auf einem unverpixelten Video waren Polizisten zu sehen, die teils mit Schlagstock und Fusstritt zu Werk gingen. Zwei Tage später veröffentlichte «bild.de» eine längere Version des Videomaterials, welches auch das aggressive Verhalten des Gasts vor dem Eintreffen der Polizei dokumentierte. Auf Unterlassungsklage eines der Polizisten untersagte die deutsche Ziviljustiz dem Medienunternehmen die weitere Publikation von Videoaufnahmen ohne Unkenntlichmachung seines Gesichts. Eine Verpixelung sei selbst dann verlangt, wenn die künftige Berichterstattung aus Sicht des Klägers positiv wäre. Die 4. Kammer des EGMR widersprach in ihrem einstimmigen Urteil dem pauschalen Argument, jede Veröffentlichung unverpixelter Bilder von Polizeibeamten im Einsatz sei ohne deren Einwilligung rechtswidrig. Eine solche Verallgemeinerung trage dem legitimen Interesse der Öffentlichkeit an Berichten über Polizeigewalt nicht genügend Rechnung. Nötig sei eine Abwägung der widerstreitenden Interessen, die hinsichtlich der künftigen Veröffentlichung unterblieben sei. Hinsichtlich des ersten Beitrags hingegen war der deutsche Entscheid konventionskonform. Dem fraglichen Polizisten war kein individuelles Fehlverhalten vorgeworfen worden. In dieser Konstellation hatte das Interesse am Schutz seines Privatlebens (Art. 8 EMRK) Vorrang vor der Medienfreiheit. Die Publikation der unverpixelten Aufnahmen konnte nachteilige Folgen für ihn oder seine Angehörigen haben.
42
Kommentar: Die differenzierte Urteilsbegründung der 4. Kammer leuchtet ein. Sowohl das Privatleben der oft unter schwierigen Umständen arbeitenden Polizeibeamten als auch die offene Berichterstattung über polizeiliche Fehltritte verdienen in einer demokratischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Dies spricht dafür, die Umstände des jeweiligen Einzelfalls gewissenhaft unter die verfassungsrechtliche Lupe zu nehmen. Pauschale Verbote sind hier ebenso wenig hilfreich wie unreflektierte Veröffentlichungen, welche gefährliche Emotionen gegen unbescholtene Staatsangestellte schüren können.
b) Weitere Beeinträchtigungen der Privatsphäre
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Im Zulässigkeitsentscheid „José António Paula Saraiva c. Portugal” (Buch über intime Beziehung) N° 37466/21 vom 19.09.2023 [IL 3] akzeptierte der Gerichtshof die zivilrechtlichen Massnahmen gegen das Buch «Ich und die Politiker» des Journalisten Saraiva. Sie betrafen Buchpassagen über den früheren Freund einer Journalistin, der angeblich Fotos von intimen Beziehungen mit seinen Freundinnen gemacht und sie unachtsam herumliegen gelassen habe. An der Publikation dieser Informationen gab es laut EGMR keinerlei legitimes öffentliches Interesse. Dass an der Journalistin wegen ihrer angeblichen Beziehung mit dem früheren Premierminister ein gewisses öffentliches Interesse bestehe, vermöge die Enthüllung von Einzelheiten über ihr Verhältnis mit einer nicht in der Öffentlichkeit stehenden Drittperson nicht zu rechtfertigen.
G. Art und Schwere der Sanktion bei (angeblich) rechtswidrigen Vorwürfen
44
Immer wieder kommt es vor, dass der Staat unzulässige Kommunikation übertrieben streng ahndet und dadurch die Grundrechte verletzt. In der Berichtsperiode galt dies etwa für die Entlassung einer vorschnell kommunizierenden Richterin (EGMR-Urteil „Manole c. Moldawien“ N° 26360/19 vom 18.07.2023 [IL 2]; vgl. nachstehend Rn. 57).
6. Primärer Eingriffszweck: Schutz von Interessen der Allgemeinheit
A. Schutz amtlicher oder beruflicher Geheimnisse
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Das Grundsatzurteil der Grossen Kammer im Fall „Halet c. Luxemburg“ (Whistleblower – Luxleaks) N° 21884/18 vom 14.02.2023 [IL Key cases] betraf einen früheren Mitarbeiter von PricewaterhouseCoopers (PwC), den Luxemburgs Justiz wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses zur Zahlung einer Geldstrafe von 1’000 Euro sowie zur Zahlung eines symbolischen Euro als Ersatz für den vom Arbeitgeber erlittenen immateriellen Schaden verurteilt hatte. Raphaël Halet hatte 14 Steuererklärungen multinationaler Unternehmen und zwei Begleitschreiben an einen Journalisten übermittelt. Die Informationen wurden 2013 in einer Fernsehsendung über die «Luxleaks» veröffentlicht. Die 3. Kammer des EGMR hatte Halets Beschwerde am 11.05.2021 mehrheitlich abgewiesen. Die Grosse Kammer kam nun aber mit 12 gegen 5 Stimmen zum Schluss, die Sanktionierung des Whistleblowers missachte die Meinungsfreiheit. In ihrer Begründung prüfte sie die bisherigen Kriterien für zulässiges Whistleblowing und verfeinerte sie. Halets Gang an die (Medien-) Öffentlichkeit war für die Mehrheit der Grossen Kammer akzeptabel. Sie billigte ihm gutgläubige Motive zu, da Halet die gestohlenen Datenträger weder aus Eigennutz noch in der Absicht weitergegeben hatte, seinem Arbeitgeber zu schaden. Sein Verhalten tangierte allerdings die finanziellen Interessen und die Reputation von PwC. Die Verletzung der arbeitsrechtlichen Loyalitätspflicht und des gesetzlichen Schutzes des Berufsgeheimnisses hatte fraglos schädliche Auswirkungen. Nach Ansicht der Gerichtsmehrheit wog das legitime Interesse der Allgemeinheit an der Offenlegung solcher Informationen aber schwerer. Sie verwies auf die im In- und Ausland geführte Debatte über die Steuerpraktiken multinationaler Unternehmen. Die fraglichen Informationen lieferten nicht zu unterschätzende neue Erkenntnisse über Steuervermeidung, Steuerbefreiung und Steuerhinterziehung. Selbst wenn die gestohlenen Daten weder ein illegales noch ein verwerfliches Verhalten des Arbeitgebers enthüllten, war die Verletzung von Halets Meinungsfreiheit unverhältnismässig.
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Kommentar: Die Gerichtsmehrheit hielt es nach eigenen Worten für angebracht, die in der bisherigen Strassburger Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze zum Whistleblowing zu festigen und im Lichte des aktuellen europäischen und internationalen Kontexts zu verfeinern. Die Weiterentwicklung bezieht sich primär auf das schutzwürdige Interesse für einen Gang an die Öffentlichkeit. Dieses besteht nicht nur bei einem illegalen oder verwerflichen Verhalten des Arbeitgebers (§ 137 der Urteilsbegründung). Es könne auch für Informationen gelten, die eine öffentliche Debatte auslösen und vermutlich ein berechtigtes Interesse an der Kenntnis solcher (Steuer-) Praktiken wecken, damit sich die Allgemeinheit eine fundierte Meinung über deren Schädlichkeit bilden kann (§ 138). Die Gerichtsminderheit hat sich gegen diese neu geschaffene dritte Kategorie ausgesprochen. Sie sei so vage, dass sie gar die Gesundheit von Führungskräften oder die Bankguthaben von Politikern umfassen könnte. Die dadurch geschaffene Rechtsunsicherheit sei geeignet, das Vertrauensverhältnis in Arbeitsbeziehungen zu untergraben. Die neue Kategorie habe es vorliegend auch gar nicht gebraucht, denn die von Halet aufgedeckten Praktiken fielen bereits in die Kategorie verwerflicher Tätigkeiten. Die Gerichtsminderheit verwies auch auf die Differenzierung in der bisherigen EGMR-Praxis zwischen dem illegalen Verhalten der ans Berufsgeheimnis gebundenen Informanten und der straflosen Tätigkeit von Medienschaffenden, welche solche Informationen von legitimem öffentlichem Interesse an die Öffentlichkeit bringen. Es scheint offen, wie sich die künftige EGMR-Praxis entwickeln wird. Ein erster interessanter Anwendungsfall ist das EGMR-Urteil „Boronyak c. Ungarn“ N° 4110/20 vom 20.06.2024 [IL 2]. Der Gerichtshof akzeptierte darin die Verurteilung eines Fernsehschauspielers, der einem Investigativjournalisten trotz vertraglicher Vertraulichkeitsvereinbarung die Höhe seines Honorars verraten hatte und deshalb eine Konventionalstrafe bezahlen musste.
B. Aufrufe zu Diskriminierung, Intoleranz, Hass und Gewalt
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In der Strassburger Rechtsprechung nahm die Thematik von Hass und Gewaltaufrufen 2023 breiten Raum ein. Der krasseste Fall betraf hasserfüllte Äusserungen gegen Homosexuelle im Internet. Im Zulässigkeitsentscheid „Lenis c. Griechenland“ (Homophobe Äusserungen) N° 47833/20 vom 27.06.2023 [IL 2] bestätigte der Gerichtshof einen Schuldspruch wegen öffentlicher Anstiftung zu Gewalt oder Hass gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Lenins wutentbrannter Beitrag gegen einen Gesetzesvorschlag zur Einführung eingetragener Partnerschaften für Gleichgeschlechtliche enthielt u.a. die Aufforderung, Homosexuelle anzuspucken. Der Gerichtshof betrachtete diese Äusserungen als so extrem, dass er es ablehnte, die Verurteilung auf seine Vereinbarkeit mit Art. 10 EMRK zu prüfen. Es handle sich um einen Missbrauch der Konventionsrechte (Art. 17 EMRK); vgl. dazu vorne Rn. 13.
48
Im EGMR-Urteil „C8 (Canal 8) c. Frankreich“ (Schlüpfrige TV-Sendung) N° 58951/18 und 1308/19 vom 09.02.2023 [IL 2] akzeptierte die 5. Kammer einstimmig harte verwaltungsrechtliche Sanktionen für einen Fernsehveranstalter, dessen schlüpfrige Sendung «Touche pas à mon poste» eine Teilnehmerin in entwürdigender Weise auf den Status eines Sexualobjekts reduziert und Homosexuelle stigmatisiert hatte. (Vgl. dazu die Ausführungen von Alberto Godioli, Humour and Symbolic Violence: Canal 8 v. France, Strasbourg Observers vom 07.04.2023).
49
Der Zulässigkeitsentscheid «Gapoņenko c. Lettland» (Prorussischer Hass) N° 30237/18 vom 23.05.2023 [IL 3] betraf einen Schuldspruch wegen prorussischer Statements auf Facebook in der Zeitspanne vom August 2017 bis 2018, die in einem Aufruf zu zivilem Ungehorsam gipfelten. Gaponenkos Äusserungen beeinträchtigten die nationale Unabhängigkeit und stachelten zu nationalem Hass auf. Die gegen den lettischen Staat gerichteten Äusserungen wurden zu einer Zeit russischer Militäroperationen gegen Georgien und Ukraine veröffentlicht.
C. Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung von Völkermord
50
Das Bundesgericht bestätigte in seinem Urteil 6B_857/2022 BGer 6B_857/2022 (Parti Nationaliste suisse) vom 13.04.2023, E. 1.4.2 den Schuldspruch gegen den Präsidenten der „PNS – Parti Nationaliste suisse“ wegen Verletzung von Art. 261bis StGB. Dieser hatte auf Facebook eine Unterdrückung der Meinungsfreiheit behauptet und Kritik an den Absurditäten geäussert, die seit 1945 immer wieder über den Holocaust aufgetischt würden. In seiner Urteilsbegründung nahm das Bundesgericht ausführlich auf die Strassburger Rechtsprechung Bezug (Urteil „Alain Bonnet c. Frankreich“).
51
Gestützt auf Art. 261bis StGB verurteilt wurde auch der Verfasser eines Online-Artikels auf der Website «La Sentinelle du Continent». Er suggerierte, dass die Existenz von Gaskammern nicht bewiesen sei. BGer 6B_1438/2021 (Unbewiesene Gaskammern) vom 16.02.2023 bestätigte den Schuldspruch. Die Publikation habe nicht einem informativen Zweck gedient. In Dreierbesetzung verneinte die strafrechtliche Abteilung eine Missachtung von Art. 10 EMRK. Gemäss EGMR sei das Bestreiten des Holocaust unter dem Deckmantel historischer Forschung eine der krassesten Formen rassistischer Verleumdung von Juden und der Aufstachelung zum Hass.
52
BGE 149 IV 170 (Dieudonné – Gaskammersketch) betraf einen Sketch, in dem ein fiktiver Passagier eines abstürzenden Flugzeugs respektlose Ausrufe tätigte und am Schluss schrie: «Ich scheisse auf alle, die Gaskammern haben nie existiert». Aufgrund der Umstände des konkreten Falls verneinte das Bundesgericht, dass der französische Komiker in humoristischer, parodistischer oder satirischer Absicht gehandelt hatte. Verschiedene seiner Anspielungen belegten seine Neigung, sich über die Opfer des Holocaust lustig zu machen. Es gehe ihm primär darum, das Leiden des jüdischen Volkes herunterzuspielen und auch eine Polemik zum Nachteil von Jüdinnen und Juden auszulösen. Diese Haltung werde durch zahlreiche Schuldsprüche in ausländischen Gerichtsverfahren dokumentiert. Das Bundesgericht bestätigte eine Handlung aus diskriminierenden Beweggründen und damit einen Verstoss gegen Art. 261bis StGB. In Erwägung 1.2 verwarf es Dieudonnés Einwand, der Schuldspruch missachte die Meinungsfreiheit. Dabei konnte sich die Strafrechtliche Abteilung auf die ebenfalls Dieudonné betreffende Strassburger Rechtsprechung stützen (E. 1.2.3): Im Zulässigkeitsentscheid N° 25239/13 vom 20.10.2015 [IL Key cases] hatte der EGMR festgehalten, antisemitischer Hass unter dem Vorwand künstlerischen Schaffens sei genau so gefährlich wie frontale und plumpe Aggression. Der Schuldspruch bedeutete deshalb eine verhältnismässige Beschränkung von Art. 10 EMRK.
D. Massnahmen zum Schutz von Sittlichkeit, Gesundheit und Moral
53
Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
E. Schutz des religiösen Friedens und religiöser Empfindungen
54
Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
F. Schutz von Wahlen und Abstimmungen
55
Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
G. Bekämpfung von Terrorismus und Aufrufen zur Gewalt
56
Im Zulässigkeitsentscheid „Pablo Rivadulla Duró“ (Rapper) N° 27925/21 vom 12.10.2023 [IL 3] bezeichnete die 5. Kammer eine Beschwerde gegen eine unbedingte neunmonatige Freiheitsstrafe als offensichtlich unbegründet. Ein einschlägig vorbestrafter Rapper hatte in verschiedenen Tweets und einem Song seine Unterstützung für verurteilte Mitglieder der verbotenen Terrororganisation GRAPO (Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre) bekundet und den früheren König beleidigt.
H. Weitere öffentliche Interessen
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Im Urteil „Manole c. Moldawien“ N° 26360/19 vom 18.07.2023 [IL 2] äusserte sich der Gerichtshof zur Entlassung einer Richterin wegen voreiliger Äusserungen gegenüber der Presse. Sie hatte noch vor Publikation des Urteils den Inhalt ihrer abweichenden Meinung kommuniziert. Dies war ein Verstoss gegen die richterliche Diskretionspflicht, den der Staat ahnden durfte. Die Sanktion schoss aber in ihrer Schwere über das Ziel hinaus und war deshalb unverhältnismässig.
7. Beschränkungen der journalistischen Recherche
58
Im Berichtsjahr gab es keine erwähnenswerten Entscheide über strafrechtliche Schuldsprüche wegen rechtswidriger Recherche. Die journalistische Tätigkeit im Vorfeld einer Publikation kann auch durch private Übergriffe behindert werden. Dies war Thema des hinten in Rn. 61 dargestellten Zulässigkeitsentscheids „Vitaliy Oleksandrovych Lazebnyk c. Ukraine“ (Angriff auf Fotografen) N° 63882/14 vom 16.03.2023 [IL 3].
59
Faktische Beschränkungen der freien Recherche kann es auch durch behördliche Zutrittsverbote geben. Im Urteil „Erdélyi c. Ungarn“ (Zutritt zu Asylzentren) N° 9720/17 vom 09.03.2023 [IL 3] beanstandete der EGMR den einer Journalistin ohne jegliche Güterabwägung verweigerten Zugang zu verschiedenen Empfangszentren für Asylbewerber. Damit bestätigte der Gerichtshof das Urteil „Szurovecz c. Ungarn“ N° 15428/16 vom 08.10.2019.
8. Redaktionsgeheimnis / Quellenschutz (Art. 17 Abs. 3 BV und Art. 10 EMRK)
60
Im Urteil „Svetova u.a. c. Russland“ (Mangelhafter Durchsuchungsbefehl) N° 54714/17 vom 24.01.2023 [IL Key cases] beanstandete der EGMR eine unberechtigte Hausdurchsuchung im Jahr 2017 bei Medienschaffenden. Sie war im Kontext einer Strafuntersuchung gegen den bekannten Unternehmer Michail Chodorkowski erfolgt. Laut Gerichtshof war es denkbar, dass die behördlichen Zwangsmassnahmen dazu führen konnten, die Informationsquellen der selber nicht tatverdächtigen Medienschaffenden aufzudecken. Selbst wenn dies nicht der Zweck der Hausdurchsuchung und der Beschlagnahmen gewesen sein sollte, liess sich dieser Effekt angesichts der vagen Formulierungen und des unbegrenzten behördlichen Ermessensspielraums nicht ausschliessen (§ 44). Der Gerichtshof bemängelte ebenfalls, dass den Medienleuten keine Kopie des erst 40 Tage nach dessen Ausstellung vollzogenen Durchsuchungsbefehls ausgehändigt worden war (§ 38).
9. Staatliche Pflicht zur Gewährleistung freier Kommunikation (Art. 10 EMRK)
61
Der Zulässigkeitsentscheid „Vitaliy Oleksandrovych Lazebnyk c. Ukraine “ (Angriff auf Fotografen) N° 63882/14 vom 16.03.2023 [IL 3] betraf einen Medienschaffenden, der mit einer Eisenstange niedergeschlagen worden war. Zwar gibt es im ukrainischen Recht einen eigenständigen Tatbestand gegen die Behinderung der beruflichen journalistischen Tätigkeit. Ein entsprechendes Ermittlungsverfahren wurde aber nicht eingeleitet, da der für eine Website als Fotograf arbeitende Lazebnyk die formalen Kriterien für die Anerkennung als Journalist nicht erfüllte. Die Ermittlungsbehörden hatten immerhin geprüft, ob der Angriff mit seiner beruflichen Tätigkeit zusammenhing. Der EGMR kam daher einstimmig zum Schluss, dass keine Verletzung der staatlichen Pflicht zum Schutz der Medienfreiheit vorlag und erklärte die Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet.
10. Zensurverbot (Art. 17 Abs. 2 BV)
62
Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
III. Informationszugang für Medien und Allgemeinheit
1. Informationszugang gestützt auf die EMRK
63
Damit der menschenrechtliche Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen (Art. 10 EMRK) überhaupt ins Spiel kommt, verlangt die Strassburger Rechtsprechung den Nachweis, dass die angefragten Informationen für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäusserung tatsächlich nötig waren. Auch 2023 scheiterten Gesuchsteller an dieser ersten Hürde. Dies galt etwa beim Konflikt um die verweigerte Offenlegung der Dauer und des Orts von Auslandaufenthalten des ukrainischen Landwirtschaftsministers. Im Zulässigkeitsentscheid „Centre for the Social and Political Technologies ‘Public Relations’, TOV c. Ukraine“ (Auslandreisen Minister) N° 59690/15 vom 07.12.2023 [IL 3] hielt die 5. Kammer fest, die Zeitschrift habe nicht dargetan, zu welchem Zweck sie diese Informationen benötigte. Da kein Bezug zu einer konkreten Publikationstätigkeit zu erkennen war, zweifelte der EGMR auch daran, ob die auf Rechtsinformationen spezialisierte Zeitschrift vorliegend als «public watchdog» einzustufen war. Einstimmig hielt der Gerichtshof fest, das Begehren falle nicht in den Geltungsbereich von Art. 10 EMRK.
64
Im Urteil „Avramchuk c. Ukraine“ (Amtswohnungen) N° 65906/13 vom 05.10.2023 [IL 3] entschied der EGMR einstimmig zugunsten einer Journalistin, die Informationen über die Abgeordneten vom Parlament zur Verfügung gestellten Wohnungen begehrt hatte. Der EGMR bemängelte die äusserst knappe Begründung für die Weigerung, die Namen der 15 Abgeordneten zu kommunizieren. Die Behörden hatten auch keinen Versuch unternommen, die auf dem Spiel stehenden Interessen gegeneinander abzuwägen.
65
Gleichentags bejahte der EGMR im Urteil „Eastern Ukrainian Centre for Public Initiatives c. Ukraine“ (Raumplanung) N° 18036/13 vom 5.10.2023 [IL 3] einen weiteren Verstoss gegen Art. 10 EMRK. Die Behörden hatten einer Nichtregierungsorganisation die Herausgabe der Masterpläne für die Raumordnung in ukrainischen Gemeinden verweigert. Auch hier hatten die ukrainischen Behörden die Informationsverweigerung nicht ausreichend begründet.
66
Differenziert beurteilte der Gerichtshof die Informationsbegehren eines «Bild»-Journalisten. Im EGMR-Urteil „Saure c. Deutschland (Nr. 2)“ (Recherche über DDR-Richter) N° 6091/16 vom 28.03.2023 [IL 2] behandelte die 4. Kammer die verweigerte Herausgabe von Informationen des Brandenburger Justizministeriums über 13 Richter und Richterinnen sowie einen Staatsanwalt, die zuvor im Dienst des Staatssicherheitsdiensts der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gestanden oder mit dem Stasi kollaboriert hatten. Dass die Namen der fraglichen Personen und deren Einsatzort aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geheim gehalten wurden, akzeptierte der EGMR in seinem einstimmigen Urteil. Unverhältnismässig war es hingegen, auch die Auskunft darüber zu verweigern, ob belastende Erkenntnisse vorliegen. Die deutsche Justiz habe nicht erläutert, weshalb diese Information nicht zumindest in anonymisierter Form offengelegt werden konnte (§ 70). Laut EGMR gibt es ein beträchtliches Interesse der Allgemeinheit an Informationen über das Mass der Kooperation der betroffenen Personen.
2. Informationszugang gestützt auf Bundesrecht (BGÖ, Archivierungsgesetz)
67
Den Zugang zu amtlichen Informationen regeln auf eidgenössischer Ebene das Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (Öffentlichkeitsgesetz; BGÖ) sowie eine Reihe spezialgesetzlicher Vorschriften. Für die massgebende Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts sei auch dieses Jahr auf die Zusammenstellung von Daniel Ladanie-Kämpfer, Überblick über praxisrelevante Entscheide des Jahres 2023 zum Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ), medialex 03/24 verwiesen. An dieser Stelle werden einzelne Urteile vertieft, die auch verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen haben.
68
Im Urteil 1C_257/2022 (Rundschau: Cryptoaffäre – Archivgesetz) vom 07.06.2023 beurteilte das Bundesgericht das im Zusammenhang mit der Crypto-Affäre gestellte Gesuch der SRF-Journalistin Fiona Endres auf Zugang zu bestimmten Dokumenten des Nachrichtendienstes (NDB) im Bundesarchiv. Bei Konflikten um die Einsicht während verlängerter Schutzfrist (Art. 14 Abs. 3 der Verordnung zum Bundesgesetz über die Archivierung, VBGA) ist laut Bundesgericht eine umfassende Interessenabwägung geboten. Die Informationsinteressen der Medien (und ihres Publikums) müssen also in die Beurteilung einfliessen. Letztlich gewichtete das Bundesgericht die Geheimhaltungsinteressen im fraglichen Fall höher als die Informationsbedürfnisse der Öffentlichkeit. Das Bundesgericht verneinte auch, dass die Behörden der Journalistin im Sinn des Verhältnismässigkeitsprinzips wenigstens teilweise Einsicht hätten gewähren müssen. Die Geheimhaltungsbedürfnisse hätten eine fast umfassende Schwärzung erfordert. Das Bundesgericht teilte die Ansicht des NDB, die Akten wären nicht mehr in sinnvoller Weise nachvollziehbar. Dies unterlaufe das von der Journalistin anvisierte Ziel der Transparenz. Die Herausgabe teilgeschwärzter Dokumente berge unter anderem die Gefahr, dass die Zusammenhänge der eng miteinander verknüpften Akten verfälscht würden.
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Kommentar: Das Urteil fiel zwar im Ergebnis zu Ungunsten der Medienschaffenden aus. Immerhin räumte das Bundesgericht ein, das Interesse der Öffentlichkeit an der journalistischen Aufarbeitung der Rolle der Bundespolizei in der Cryptoaffäre sei in keiner Weise zu unterschätzen (E. 7.4). Künftige Güterabwägungen bei Streitigkeiten um Einsicht in archivierte Dokumente könnten also durchaus zugunsten der Medien ausfallen.
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Der Zugang zu aktuelleren Unterlagen beurteilt sich nicht nach Archivgesetz, sondern kann gestützt auf das BGÖ erstritten werden. Im gleichentags gefällten BGer 1C_321/2021 (Rundschau: Cryptoaffäre – BGÖ) vom 07.06.2023 verweigerte das Bundesgericht der Journalistin die Offenlegung von Akten der Schweizerischen Exportrisikoversicherung (SERV) über fünf Empfängerländer von Verschlüsselungstechnik. Laut Bundesgericht drohte bei einer Dokumenteneinsicht eine Beeinträchtigung aussenpolitischer Interessen oder internationaler Beziehungen der Schweiz gemäss BGÖ (Art. 7 Abs. 1 lit. d). Das Interesse der Medienschaffenden und damit der Allgemeinheit an der Kenntnis dieser Information war nicht relevant für die richterliche Einschätzung, ob hier eine gesetzliche Ausnahme vom Öffentlichkeitsgrundsatz vorliegen könnte.
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Kommentar: Es mag dem Konzept des Öffentlichkeitsgesetzes entsprechen, dass die Medienfreiheit in solchen Konstellationen anders als nach VBGA keine Rolle spielt. Massgebend ist einzig eine Schadensrisikoprüfung: Die betroffene Behörde muss eine mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung glaubhaft dartun und das Gericht hat diese Argumente sorgfältig zu prüfen. Das ist zwar ein erhebliches Hindernis für eine Informationsverweigerung. Eine umfassende Berücksichtigung sämtlicher Interessen ist es aber eben doch nicht. Aus verfassungsrechtlicher Sicht vermag dieser bewusste Verzicht des Gesetzgebers auf eine Güterabwägung nicht restlos zu befriedigen. Die schweizerische Konzeption könnte im Fall einer Beschwerde an den EGMR auch einmal zu konventionsrechtlichen Problemen führen.
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BGer 1C_412/2022 (SEM-Dokument Asyl Praxis) vom 09.08.2023 bestätigte die Offenlegung des Dokuments «APPA» (Asyl Praxis/Pratique en matière d’asile), welches Asylentscheide zu Eritrea betrifft. Die vom Staatssekretariat für Migration (SEM) ins Feld geführte Ausnahmebestimmung von Art. 7 Abs. 1 Bst. b BGÖ (Beeinträchtigung der zielkonformen Durchführung konkreter behördlicher Massnahmen) griff für dieses Dokument lediglich teilweise. Ein Grossteil der darin enthaltenen Informationen sei bereits öffentlich bekannt oder lasse sich aus öffentlich zugänglichen Quellen ableiten. Das Gericht verwarf den Einwand des SEM, die Herausgabe würde die Zusammenarbeit mit Eritrea erschweren (Art. 7 Abs. 1 Bst. d BGÖ). Die kritische Haltung des SEM zur Situation in Eritrea sei ebenfalls öffentlich bekannt. Überdies entkräftete das Bundesgericht die Befürchtung des SEM, die Offenlegung des Dokuments zur Asylpraxis mit Eritrea habe eine Präjudizwirkung für ähnliche Dokumente anderer Staaten wie China oder Russland. Das Bundesgerichtsurteil gelte einzig für das Eritrea betreffende Dokument und habe keine automatische Wirkung für andere Akten (E. 6.4).
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In BGE 150 II 191 (Goldimporte) befasste sich das Bundesgericht mit statistischen Angaben zu Goldimporten beim Bundesamt für Zoll und Grenzübersicht (BAZG). Laut Bundesgericht fielen die verlangten Informationen allesamt unter das Steuergeheimnis (Art. 74 des Bundesgesetzes über die Mehrwertsteuer [MWSTG; SR 641.20). Die Herausgabe der Informationen sei daher zu Recht verweigert worden.
3. Informationszugang gestützt auf kantonales Recht
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In BGer 1C_584/2022 (Einstellungsverfügungen im Kanton Genf) vom 20.06.2023 entschied die I. öffentlich-rechtliche Abteilung gegen einen disziplinierten Gynäkologen, der von der Genfer Aufsichtsbehörde u.a. Einsicht in anonymisierte Einstellungsverfügungen der vergangenen fünf Jahre verlangt hatte. Durch den Beizug dieser Akten versprach er sich Informationen über eine amtliche Ungleichbehandlung. Die Kommission lehnte die Herausgabe der Verfügungen mit der Begründung ab, dass ihr die Anonymisierung einen übermässigen Aufwand verursachen würde. Das Bundesgericht verneinte, dass das kantonale Gesetzesrecht (Loi genevoise du 5 octobre 2001 sur l’information du public, l’accès aux documents et la protection des données personnelles; LIPAD/GE) willkürlich angewendet worden war. Das Herausgabeersuchen betraf 243 Verfügungen und hätte einen Aufwand von rund 148 Stunden verursacht. Dies durfte die Behörde als exzessive Arbeitslast im Sinne von Art. 26 Abs. 5 LIPAD/GE bezeichnen. Sie durfte dem Gynäkologen auch verwehren, die Verfügungen am Sitz der Behörde einzusehen. Selbst bei Unterzeichnen einer Vertraulichkeitsverpflichtung verneinte das Bundesgericht einen rechtlichen Anspruch auf Einsichtnahme in die Dokumente seiner Berufskollegen und -kolleginnen. Die Behörde habe den Zugang zu solch sensiblen, teils durch das Arztgeheimnis geschützten Daten nur unter den Voraussetzungen für Grundrechtseinschränkungen (Art. 13 und Art. 36 BV) zu gewähren. Bei der nötigen Güterabwägung dürfe die Behörde auch das Interesse des Gesuchstellers an der Einsicht berücksichtigen.
4. Anspruch auf rechtsgleiche und willkürfreie amtliche Information (Art. 8 und 9 BV)
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Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
5. Gerichtsöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 6 EMRK)
A. Öffentlichkeit der Verhandlung
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Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
B. Öffentlichkeit des Urteils ab Verkündung
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Im Zulässigkeitsentscheid „Boris Antonov Mitov u.a. c. Bulgarien“ (Online-Urteilspublikation) N° 80857/17 vom 28.02.2023 [IL 2] entschied der EGMR gegen eine Gruppe bulgarischer Medienschaffender, die den Onlinezugang zu allen nicht anonymisierten Urteilen des Obersten Verwaltungsgerichts verlangt hatte. Eine Mehrheit der 3. Kammer erklärte die Beschwerde als offensichtlich unbegründet. Es stehe dem EGMR nicht zu, sich abstrakt zur Frage zu äussern, wie und wie schnell ein nationales Gericht Zugang zu seinen Entscheiden gewähren und wie es sie zwecks Veröffentlichung im Internet anonymisieren sollte.
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Im Zulässigkeitsentscheid „FIATLUX SÀRL und Bonifassi c. Frankreich“ (Verordnung über Urteilszugang) N° 1131/23 und 1135/23 vom 05.10.2023 [IL 3] war der Anwendungsbereich des Art. 10 EMRK nicht eröffnet. Die Beschwerde eines juristischen Fachverlags und eines Anwalts richtete sich gegen eine Verordnung über die Zurverfügungstellung von Gerichtsentscheidungen, die Ausnahmen aus Gründen der nationalen Sicherheit vorsah und umstrittene Anonymisierungsregeln enthielt. Die Beschwerde verlangte nicht die Herausgabe eines bestimmten Urteils, sondern betraf den abstrakten Zugang zu allen Entscheidungen. Laut EGMR ist es nicht seine Aufgabe, ganz allgemein anzugeben, in welcher Weise nationale Behörden Kopien von Gerichtsentscheidungen veröffentlichen und Einzelpersonen aushändigen müssen. Die Beschwerdeführer hatten auch nicht dargelegt, zu welchem Zweck sie die Informationen benötigt hätten. Das Informationsinteresse eines Anwalts sei nicht mit den Anliegen von Medienschaffenden vergleichbar und der Verlag habe nicht dargetan, inwiefern er als «public watchdog» einzustufen sei.
C. Weitere Aspekte
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In BGer 1C_520/2022 (Löschschaum) vom 22.08.2023 akzeptierte das Bundesgericht im Grundsatz die Herausgabe der Akten eines abgeschlossenen Strafverfahrens wegen des Einleitens von Löschschaum in den Bodensee. Die Anklagekammer des Kantons St. Gallen habe zu Recht ein relevantes öffentliches Informationsinteresse an der Einsicht in die Strafakten angenommen. Spekulationen einer möglichen Bevorzugung des gebüssten Unternehmens liessen sich nicht allein durch die Einsicht in den Strafbefehl beseitigen (E. 4.3). Allerdings müsse die Strafkammer noch darüber entscheiden, ob die persönlichen Angaben in den Strafakten zu anonymisieren sind (E. 5 und 6).
6. Amtliche Pflicht zur Anonymisierung von Informationen
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Im Urteil 1C_584/2022 (Einstellungsverfügungen im Kanton Genf) vom 20.06.2023 stützte das Bundesgericht das Argument der kantonalen Behörde, die Anonymisierung einer grossen Anzahl von Dokumenten würde ihr einen übermässigen Aufwand verursachen (vgl. zu diesem Urteil vorne Rn. 74).
7. Aktive behördliche Kommunikation
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In ihrem Leiturteil „L.B. c. Ungarn“ (Amtliche Publikation von Steuerschuldnern) N° 36345 vom 09.03.2023 [IL Key cases] stellte die Grosse Kammer des EGMR einen Verstoss gegen den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) fest. Mit 15:2 Stimmen bejahte die Gerichtsmehrheit einen unverhältnismässigen Eingriff in die Konventionsrechte eines säumigen Steuerschuldners (mit Zahlungsrückständen von etwa 28’000 €), dessen Name und Wohnadresse auf der Website der ungarischen Steuerbehörde veröffentlicht worden waren. Der EGMR verwarf zwar den Einwand des Steuersünders, die Publikation habe bloss dem «public shaming» gedient und kein legitimes Ziel verfolgt. Der Gerichtshof hielt fest, die Veröffentlichung diene durchaus berechtigten Eingriffszwecken nach Art. 8 Abs. 2 EMRK («wirtschaftliches Wohl des Landes» durch verbesserte Steuerdisziplin und «Schutz der Rechte anderer» durch Transparenz über die Finanzsituation von Steuerschuldnern). Die Publikation griff aber übermässig in die Menschenrechte ein, zumal die nationale Gesetzgebung keine angemessenen Massnahmen zum Schutz von Personendaten (wie das Prinzip der Datensparsamkeit) vorsah. Überdies wurde nicht genügend berücksichtigt, dass die weltweite Abrufbarkeit der Angaben im Internet mit der Gefahr des Missbrauchs der Wohnadresse ein besonders grosses Risiko für die Rechte des Steuerschuldners bedeutete.
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Kommentar: Das Grundsatzurteil der Grossen Kammer betrifft vordergründig nur die Tätigkeit der Behörden, die unmittelbar an die Menschenrechte (und damit an das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) gebunden sind. Eine mittelbare Grundrechtsbindung ergibt sich aber auch für private Publikationen: Bei der Interpretation gesetzlicher Vorschriften (z.B. im Datenschutzgesetz oder im Zivilgesetzbuch) wird auch den übergeordneten Grund- und Menschenrechten Rechnung getragen. Allfällige Medienberichte über die Steuermoral müssen deshalb die berechtigten Anliegen der an den öffentlichen Pranger gestellten Personen ebenfalls im Auge behalten. Gerade die Publikation der Wohnadresse wird in den meisten Fällen auch den Medien nicht erlaubt sein.
IV. Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens
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Einen teilweise unzureichenden Schutz des Privatlebens stellte die 2. Kammer im EGMR-Urteil „D.H. u.a. c. Nordmazedonien“ (Fotos inhaftierter Sexarbeiterinnen) N° 44033/17 vom 18.07.2023 [IL 2] fest. Auf seiner Website hatte das Innenministerium die Fotos wegen Verdachts der Verbreitung ansteckender Krankheiten inhaftierter Prostituierter publiziert. Ob die Bilder durch Verpixelung anonymisiert worden waren, liess sich im Verfahren vor dem EGMR nicht klären. Der Gerichtshof hielt fest, die nationale Justiz habe die Zivilklagen der Sexarbeiterinnen ohne ausreichende Begründung abgelehnt. Die Klägerinnen hatten auch eine Mitverantwortung der Polizeibehörden für die unverpixelte Publikation von Fotos und Videos durch vier Medienunternehmen behauptet. Die Medienschaffenden hatten die Prostituierten vor dem Eingang einer Klinik gefilmt und fotografiert. Es liess sich nicht belegen, dass die Polizei den Medien tatsächlich Angaben über Ort und Zeit der bevorstehenden Zwangsuntersuchungen hatte zukommen lassen. Eine direkte Verantwortung der Behörden für die Erstellung und Veröffentlichung der Aufnahmen war für den EGMR nicht erhärtet. In diesem Punkt verneinte der Gerichtshof einen Verstoss gegen Art. 8 EMRK.
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Kommentar: In § 61 der Urteilsbegründung zeigt der EGMR auf, inwiefern sich der vorliegende Fall von früheren Angelegenheiten unterscheidet, in denen der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch die Behörden bejaht hatte. Sie betrafen etwa in den Polizeiräumlichkeiten erstellte Fotografien eines Tatverdächtigen durch Medienschaffende, die von den Behörden über die Festnahme orientiert worden waren (Urteil „Toma c. Rumänien“ N° 42716/02 vom 24.02.2009). Anders als im Leiturteil „Sciacca c. Italien“ N° 50774/99 vom 11.01.2005 fehlte es vorliegend auch an Anhaltspunkten dafür, dass die Fotos durch die Behörden aufgenommen und dann den Medien zugespielt worden waren. Dennoch illustriert das aktuelle Urteil, dass einer Kooperation von Polizei und Medien aus guten Gründen menschenrechtliche Grenzen gesetzt sind.
V. Radio und Fernsehen
1. Redaktioneller Inhalt von Radio- und Fernsehprogrammen
A. Bundesgerichtspraxis
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In BGE 149 II 209 (Todesfälle in Tessiner Altersheimen) befasste sich die II. öffentlich-rechtliche Abteilung aus programmrechtlicher Optik mit der Tragweite und den Grenzen des investigativen Journalismus. Sie wies die Beschwerde gegen Beiträge des Fernsehens und des Radios der italienischsprachigen Schweiz (RSI) ab, die Covid-bedingte Todesfälle in einem Tessiner Altersheim thematisiert hatten. Der interviewte Direktor und eine leitende Ärztin bemängelten, RSI habe im Vorfeld nicht korrekt über den Ausstrahlungskontext orientiert und sie mit inquisitorischen Fragen überrumpelt. All dies hatte nach Auffassung der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) und des Bundesgerichts keinen massgebenden Einfluss auf das journalistische Endergebnis und führte nicht zu einem Verstoss gegen das Sachgerechtigkeitsgebot (Art. 4 Abs. 2 des Radio- und Fernsehgesetzes; RTVG). Vorkommnisse im Vorfeld einer Publikation hat die UBI nur zu beurteilen, soweit sich problematische Vorbereitungshandlungen auf das Endprodukt auswirken und so die ungehinderte Willensbildung des Publikums beeinträchtigen könnten. Dies war hier nicht der Fall.
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Kommentar: Das Bundesgerichtsurteil untermauert, dass sich die rundfunkrechtliche Programmaufsicht auf die nachträgliche Überprüfung ausgestrahlter Sendungen beschränkt. Unter zutreffendem Hinweis auf die bundesrätliche Botschaft zur Änderung des Radio- und Fernsehgesetzes (BBl 2013 5017) hält das Bundesgericht fest, das Verfahren betreffe nur bereits veröffentlichte redaktionelle Inhalte. Was vor einer allfälligen Publikation von Radio- und Fernsehsendungen geschieht, ist nicht im Rahmen programmrechtlicher Beschwerden zu behandeln. Angeblichen journalistischen Fehltritten im Stadium der Recherche ist auf anderen Wegen zu begegnen, primär wohl mit zivilrechtlichen Instrumenten (etwa mit Begehren um vorsorgliche Massnahmen wegen drohender Persönlichkeitsverletzung durch Missachtung des Rechts am eigenen Wort).
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BGer 2C_859/2022 («Mise au point») vom 20.09.2023 betraf eine am 14. November 2021 im Sendegefäss «Mise au Point» des Westschweizer Fernsehens ausgestrahlte Reportage mit dem Titel «La haine avant la votation sur la loi Covid». Der knapp 14 Minuten dauernde Beitrag thematisierte das vergiftete politische Klima im Vorfeld der Volksabstimmung vom 28. November 2021 über das Covid-Gesetz. Eine Popularbeschwerde gegen die Reportage hiess die UBI mit Entscheid b. 915 mehrheitlich gut. Die II. öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts bejahte in öffentlicher Beratung ebenfalls einen Verstoss gegen das Vielfaltsgebot (Art. 4 Abs. 4 RTVG): Im Vorfeld von Abstimmungen soll dieses Gebot verhindern, dass eine einseitige Berichterstattung das Ergebnis des Urnengangs verfälscht. Dass Radio Télévision Suisse (RTS) angesichts zahlreicher Beleidigungen und Bedrohungen von Amtsträgern und anderen Pandemiebekämpfungs-Verantwortlichen gute Gründe für das Aufgreifen des Themas hatte, bestritt das Gericht nicht. Es bemängelte aber die journalistische Umsetzung des Themas: Der zwei Wochen vor dem Abstimmungstermin ausgestrahlte Beitrag habe ein einseitiges Bild jener Kreise gezeichnet, die für die Verhärtung des politischen Klimas verantwortlich sind. Es genüge nicht, dass im Beitrag drei Personen zu Wort kamen, welche die staatlichen Massnahmen gegen Covid-19 ablehnen. Die Redaktion habe deren Ausführungen nur während 72 Sekunden und damit viel kürzer präsentiert. RTS habe auch nicht thematisiert, ob die Befürworter des Covid-Gesetzes ebenfalls Online-Hass verbreiten. Dadurch entstehe der Eindruck einer primär rabiaten und gewalttätigen Gegnerschaft. Dass sich die Opposition keinesfalls auf Verschwörungstheoretiker und Gewaltbereite reduzieren lässt, habe der Beitrag dem TV-Publikum nicht genügend klar gemacht (E. 5.6.3).
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Kommentar: Die massgebenden Anforderungen an das Vielfaltsgebot hat das Bundesgericht vor 16 Jahren in BGE 134 I 2 umrissen („Schweiz aktuell – Freiburger Original in der Regierung“). Damals beanstandete es die Ausstrahlung eines wohlwollenden Politikerporträts im unmittelbaren Vorfeld der Wahl, ohne dass es dafür einen objektiven Anlass oder spezifischen sachlichen Grund gegeben und ohne dass die SRG anderweitig für eine minimale Ausgewogenheit gesorgt hätte. Nun geht das Gericht einen Schritt weiter und beanstandet es eine viel differenziertere Ausstrahlung. Dass das Bundesgericht zum Schutz einer funktionierenden direkten Demokratie grossen Wert auf vorsichtige und ausgewogene SRG-Berichte kurz vor Wahlen und Abstimmungen legt, ist verständlich. Trotzdem bleibt die Frage, ob es vorliegend nicht über das Ziel hinausgeschossen hat. Die sekundengenaue Auflistung der verschiedenen Statements in der akribischen Erwägung 5.6.2 weckt die Befürchtung, neuerdings sei die Stoppuhr für das Bundesgericht ein massgebendes Instrument im Kampf gegen einseitige Berichterstattung. Mit der UBI-Minderheit kann man argumentieren, dass die rechtlichen Ansprüche an die journalistische Ausgewogenheit vorliegend überspannt wurden.
B. Rechtsprechung des EGMR
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Im Zulässigkeitsentscheid „Société d’Exploitation d’un Service d’Information CNews c. Frankreich» (Hassaufruf von Zemmour in TV-Diskussion) N° 60131/21 vom 07.11.2023 [IL 3] prüfte der Gerichtshof eine Mahnung der französischen Aufsichtsbehörde CSA (zum dadurch verursachten Grundrechtseingriff vgl. vorne Rn. 8). Anlass für die Mahnung war ein Aufruf des französischen Journalisten (und späteren Präsidentschaftskandidaten) Éric Zemmour zu radikalen Massnahmen gegen den Islam in der Diskussionssendung « Face à l’info » vom 23. Oktober 2019. Zemmour hatte namentlich die Eroberung Algeriens im Jahre 1840 durch General Bugeaud unterstützt. Die Diskussionsleiterin war gegen diese Polemik nicht eingeschritten. CSA erhielt rund 2’300 Beschwerden und sprach am 27. November 2019 eine Mahnung aus. Die 5. Kammer bezeichnete die Beschwerde des Fernsehveranstalters einstimmig als offensichtlich unbegründet.
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Als konventionskonform bezeichnete das EGMR-Urteil „C8 (Canal 8) c. Frankreich“ (Schlüpfrige TV-Sendung) N° 58951/18 und 1308/19 vom 09.02.2023 [IL 2] eine hohe Sanktion (u.a. in der Höhe von 3 Mio. Euro) gegen einen französischen Privatfernsehveranstalter. CSA war gegen Sendungen eingeschritten, die herabwürdigende und stigmatisierende Stereotypen von Frauen und Homosexuellen verstärkt hatten. Für die Notwendigkeit der harten Sanktionen sprach nach dem einstimmigen Urteil des EGMR, dass die fraglichen Sendungen gerade von jungen Personen gesehen wurden und dass sie rein kommerziellen Motiven dienten.
2. Weitere Aspekte
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Im Urteil „Croatian Radio-Television c. Kroatien“ (Beschwerdebefugnis öffentlicher Veranstalter) N° 52132/19 und 19 andere Beschwerden vom 02.03.2023 [IL 2] hatte sich der Gerichtshof einmal mehr mit der Frage zu befassen, ob sich öffentlich-rechtliche Rundfunkveranstalter auf die EMRK berufen können. War es in früheren Fällen um Beschwerden zu journalistisch-redaktionellen Beiträgen und damit um Verstösse gegen die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) gegangen, betraf der vorliegende Fall eine primär finanzielle Angelegenheit: Hrvatska radiotelevizija (HRT) hatte 2010 und 2011 gegen verschiedene Personen Zivilprozesse wegen ungerechtfertigter Bereicherung durch nie ausgeführte Arbeiten angestrengt. Während der Veranstalter in einigen Verfahren obsiegte, urteilten andere Gerichte in 20 Verfahren gegen ihn. In Strassburg behauptete der Veranstalter einen Verstoss gegen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Eine Mehrheit der 1. Kammer des EGMR verwarf das Argument der kroatischen Regierung, der Veranstalter sei in diesem Zusammenhang als eine staatliche Organisation einzustufen und könne sich daher gar nicht auf die Konventionsrechte berufen. Massgebend war für die Kammermehrheit, dass das kroatische Gesetzesrecht die redaktionelle Unabhängigkeit und institutionelle Autonomie des Veranstalters garantiert. HRT übe keine staatlichen Befugnisse und keine Verwaltungsaufgaben aus. Das Service Public-Mandat und die Abhängigkeit von öffentlichen Geldmitteln führe nicht dazu, dass der Veranstalter unter staatlicher Kontrolle stehe (§ 120). Die dreiköpfige Gerichtsminderheit kritisierte in ihrer abweichenden Meinung, der von der Mehrheit gewählte Ansatz vermische die Unterscheidung zwischen institutioneller Autonomie und Konventionsrechten zu einem unverdaulichen Cocktail.
VI. Verfassungs- und konventionsrechtliche Aspekte der Online-Kommunikation
1. Recht auf Zugang zu Online-Informationen
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Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
2. Verantwortlichkeit für rechtswidrige Äusserungen
A. Haftung für eigene Äusserungen und Verlinkung
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Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
B. Haftung für Kommentare aussenstehender Dritter
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Im Leiturteil „Sanchez c. Frankreich” N° 45581/15 vom 15.05.2023 [IL Key cases] bezeichnete die Grosse Kammer des EGMR die Geldstrafe für einen Politiker des Front National als konventionskonform, der wegen verspäteter Löschung islamfeindlicher Hasskommentare auf seiner öffentlichen Facebook-Seite bestraft worden war. Die französische Strafjustiz hatte Julien Sanchez gestützt auf die gesetzliche Regelung in seiner Funktion als «Publikator» verurteilt. Wie zuvor schon die 5. Kammer am 02.09.2021 verneinte auch die Grosse Kammer eine Missachtung von Art. 10 EMRK. Das Urteil fiel mit 13 gegen 4 Stimmen. In seiner 84 Seiten umfassenden Urteilsbegründung hielt der EGMR fest, die französische Gesetzesregelung über die geteilte Haftung aller Involvierten sei ausreichend klar formuliert. Die fraglichen Kommentare fielen zweifellos in die Kategorie der Hassrede. Zwar geniesse die Meinungsfreiheit im Bereich politischer Debatte gerade vor Wahlen höchsten Stellenwert. Bei Diskussionen über die Einwanderung müssten aber diskriminierende und demütigende Bemerkungen unterbleiben, denn sie seien dem friedlichen Zusammenleben abträglich und könnten das Vertrauen in die demokratischen Institutionen untergraben. Auch ohne vorherige Hinweise sei ein Minimum an Moderation oder vorheriger Filterung durch den Kontoinhaber wünschenswert. Angesichts der damals angespannten Verhältnisse hätte sich der Kommunikationsprofi Sanchez der Gefahr seines Tuns bewusst und für eine unverzügliche Löschung der eindeutig rechtswidrigen Kommentare besorgt sein müssen. Für den Gerichtshof ist eine gemeinsame Verantwortlichkeit aller beteiligten Akteure nötig, wobei der Grad der Haftung je nach der objektiven Situation der einzelnen Beteiligten abzustufen sei. Allgemein möge sich zwar die Schwierigkeit genügender Ressourcen für eine wirkungsvolle Überwachung von Drittbeiträgen stellen. Im Fall Sanchez (15 Kommentare zum fraglichen Posting) gehe es aber gewiss nicht um potentiell übermässigen Datenverkehr (§ 200).
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Kommentar: Den Fall «Sanchez c. Frankreich» thematisierte das Bundesgericht in seinem Grundsatzurteil BGE 148 IV 188 E. 3.3, das eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Kontoinhabern für ihnen nicht bekannte rechtswidrige Kommentare auf ihrer «Pinnwand» verneinte. Für das Bundesgericht war zentral, dass Frankreich eine andere gesetzliche Regelung kennt als die Schweiz. Ausführlicher mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der bundesgerichtlichen und der konventionsrechtlichen Gerichtspraxis befasst sich der Aufsatz von Maya Hertig Randall, La responsabilité pénale des personnalités politiques pour les commentaires haineux publiés sur le mur de leur compte Facebook – un regard vers Lausanne et Strasbourg, sui generis # unbequem 2024, S. 113ff.
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Im Urteil „Zöchling c. Österreich“ (Hasskommentare gegen Journalistin) N° 4222/18 vom 05.09.2023 [IL 3] entschied die 4. Kammer einstimmig gegen ein Nachrichtenportal. Es hatte 2016 in einem kritischen Bericht über eine kontroverse Journalistin bewusst Antipathien geschürt. In teils zu Gewalt aufrufenden Kommentaren bedauerten User u.a., dass es keine Gaskammern mehr gebe. Die Hassrede war während 12 Tage sichtbar und wurde erst nach einer Intervention der massiv verunglimpften Journalistin gelöscht. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist selbst ohne Mitteilung der geschädigten Person ein Minimum an nachfolgender Kontrolle oder automatisierter Filterung wünschenswert, damit eindeutig unrechtmässige Kommentare innerhalb eines angemessenen Zeitraums entfernt werden können. Zwar seien Internetplattformen nicht generell zur Überwachung von Drittbeiträgen verpflichtet. Vorliegend habe das Onlineportal aber mit solchen Rechtsverstössen rechnen müssen. Beleidigende Hasskommentare gegen die Journalistin Christa Zöchling waren keine einmalige Angelegenheit, sondern auf dem fraglichen Onlineportal bereits mehrfach vorgekommen. Die österreichische Justiz habe sich zwar mit dem EGMR-Leiturteil im Fall „Delfi c. Estland“ N° 64569/09 vom 10.10.2013 befasst, die dort enthaltenen Kriterien für einen menschenrechtskonformen Ausgleich zwischen den Interessen der Betroffenen und den Anliegen des Medieninhabers aber nicht angewendet. Dadurch verletzte Österreich seine Pflicht zum Schutz des Privatlebens (Art. 8 EMRK).
C. Weitere Aspekte
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Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.
3. Sperren und andere Beschränkungen des Zugangs zu Online-Inhalten
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Im Leiturteil „Hurbain c. Belgien” (Recht auf Vergessenwerden) N° 57292/16 vom 04.07.2023 [IL Key cases] akzeptierte die Grosse Kammer des EGMR die Verurteilung des Herausgebers der Tageszeitung «Le Soir» zur Anonymisierung der Identität eines verurteilten Straftäters in den digitalen Zeitungsarchiven. Dies hatte der Verursacher eines tödlichen Verkehrsunfalls verlangt, der sich 1994 ereignet hatte. Der EGMR hielt u.a. fest, dass der unverändert abrufbare Zeitungartikel über den nicht allgemein bekannten Automobilisten keinem aktuellen, historischen oder wissenschaftlichen Interesse diente. Die ohne Zugangsbeschränkung vorgenommene Onlinepublikation sei dazu geeignet, eine Art virtuelles Strafregister zu schaffen, welches die Resozialisierung der betroffenen Person erschwere. Die vorgeschriebene Anonymisierung belaste «Le Soir» nicht übermässig. Das Urteil fiel mit 12 gegen 5 Stimmen. Die Gerichtsminderheit gab zu bedenken, die von der Mehrheit angewendeten Kriterien beruhten auf einer extrem engen Perspektive. Sie missachteten die Herausforderungen für digitale Pressearchive im modernen Kommunikationszeitalter und drohten die Pressefreiheit erheblich zu schwächen. Die belgischen Behörden hätten nicht ausreichend geprüft, ob die Privatsphäre des Automobilisten durch weniger rigide Massnahmen als die zwangsweise Anpassung des Medienarchivs hätte geschützt werden können (namentlich durch das Auslisten des Inhalts bei Suchmaschinen).
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Das Urteil „OOO Mediafokus c. Russland“ (Zugangssperre zu neuer Website) N° 55496/19 vom 17.01.2023 [IL 3] betraf die pauschale Sperre des Zugangs zur Website des behördenkritischen Online-Magazins „Jeschednewnij Journal“. Sie erfolgte mit der Begründung, der neue Online-Auftritt widerspiegle die verbotenen Inhalte der früheren Website. Die Telekommunikations-Regulierungsbehörde Roskomnadsor unterliess eine eindeutige Spezifizierung der URL-Adressen von Seiten mit rechtswidrigem Material. Stattdessen sperrte sie pauschal den Zugriff auf die Website www.ej2015.ru. Ein solches Vorgehen hätte laut EGMR zumindest eine eindeutige und vorhersehbare Grundlage im russischen Recht verlangt. Dass die neue Website einen ähnlichen Namen und denselben Betreiber habe wie das zuvor gesperrte Angebot, vermöge nicht zu genügen. Mangels gesetzlicher Grundlage verstiess das Vorgehen gegen Art. 10 EMRK. Überdies enthielt das russische Recht keine genügenden Verfahrensgarantien zum Schutz vor willkürlichen Eingriffen.
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Kommentar: Für das aus dem EMRK-System ausgeschiedene Russland mag das vorliegende Urteil kaum noch eine Bedeutung haben. Es ist aber auch für die verbliebenen 46 Vertragsstaaten relevant. Die Urteilsbegründung verdeutlicht, dass auf den gesamten Domain-Namen einer Website statt bloss auf spezifische problematische Webseiten zielende Sperrverfügungen zu weit gehen. Staatliche Sperrmassnahmen müssen sich genau auf die rechtswidrigen Inhalte richten und unverhältnismässige Wirkungen vermeiden. Überdies haben die zuständigen Behörden den Website-Betreibern die Entfernung der problematischen Inhalte zu ermöglichen, bevor sie den Sperrbeschluss vollziehen.
4. Staatliche Schutzpflichten im Online-Bereich
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Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.