Strafloser «Kamerablick» in die Privatsphäre eines anderen

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Ein Beitrag zur Tragweite von Art. 179quater StGB

Dr. Franz Riklin, em. Prof. Uni Freiburg, Marly

Résumé: Le débat présenté ici porte sur l’art. 179quater du Code pénal suisse («violation du domaine secret ou du domaine privé au moyen d’un appareil de prise de vues»). L’auteur démontre qu’une interprétation de cet article, conforme au principe de légalité et tenant compte de la formulation de la loi et de la volonté du législateur, oblige à conclure qu’une personne photographiant ou filmant une autre personne se trouvant dans un domaine privé visible sans autre par d’autres personnes n’enfreint pas la loi pénale, même sans le consentement de la personne photographiée ou filmée (le même constat vaut si les images sont utilisées). Cette dernière peut toutefois tenter de se défendre par le biais de la protection de la personnalité, qui relève du droit privé.

Zusammenfassung: Eine mit dem Legalitätsprinzip konforme, mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbare und dem Willen des historischen Gesetzgebers Rechnung tragende Interpretation von Art. 179quater StGB lässt nur den Schluss zu, dass eine Person, die eine jedermann ohne weiteres zugängliche Tatsache aus dem Privatbereich eines andern ohne dessen Einwilligung auf einen Bildträger aufnimmt oder eine solche Aufnahme auswertet, nicht unter diesen Straftatbestand fällt. Der Abgebildete ist dennoch nicht schutzlos. Er kann sich, statt Strafantrag zu stellen, über die Regeln des privatrechtlichen Persönlichkeitsschutzes zu wehren versuchen.

1. Ausgangspunkt

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Anlässlich der Referendumsabstimmung vom 25. November 2018 über die Änderung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) betreffend eine gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten machten die Kritiker geltend, bei Verwerfung des Referendums dürften Detektive auch Foto-, Ton- und Filmaufnahmen von frei einsehbaren privaten Orten wie Balkonen und Wohnungen tätigen. Der Bundesrat konterte im Abstimmungsbüchlein, das Innere einer Wohnung oder eines Wohnhauses wie z.B. Waschküche, Treppenhaus oder Schlafzimmer dürfe nicht überwacht werden. Das Referendum wurde mit fast 65% Ja-Stimmen klar verworfen. Der Bundesrat trug aber anschliessend den geäusserten Bedenken Rechnung, indem er in der Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts Regeln für die Observationen von Sozialversicherungsbezügern festlegte, die am 1. September 2019 in Kraft getreten sind und u.a. vorschreiben, dass Sozialdetektive Versicherte nicht durch das Fenster im Innern der Wohnung beobachten dürfen.

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Alle diese Diskussionen, soweit sie den „Kamerablick“ in die Privatsphäre (oder die Geheimsphäre) eines anderen betrafen, standen mit Art. 179quater StGB im Zusammenhang. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung ist strafbar, wer eine Tatsache aus dem Geheimbereich eines anderen oder eine nicht jedermann ohne weiteres zugängliche Tatsache aus dem Privatbereich eines anderen ohne dessen Einwilligung mit einem Aufnahmegerät beobachtet oder auf einen Bildträger aufnimmt. Nach Abs. 2 ist ferner strafbar, wer eine Tatsache, von der er weiss oder annehmen muss, dass sie auf Grund einer nach Absatz 1 strafbaren Handlung zu seiner Kenntnis gelangte, auswertet oder einem Dritten bekannt gibt.

II. Analyse von Art. 179quater Abs. 1 und 2 StGB soweit der Privatbereich eines andern betroffen ist

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Ausgeklammert bleiben im Folgenden Fälle, in denen der Geheimbereich eines anderen betroffen ist. Dieser umfasst diejenigen Lebensvorgänge, die eine Person der Wahrnehmung und dem Wissen aller Menschen entziehen oder nur mit ganz bestimmten teilen will wie z.B. innerfamiliäre Konflikte, sexuelle Verhaltensweisen, körperliche Leiden etc.[1].Es geht somit nur um den Privatbereich. Das ist einerseits ein Bereich, wo sich Lebensvorgänge abspielen, die nicht allgemein wahrnehmbar sind, aber durch nahe verbundene Personen wahrgenommen werden können. Dies betrifft insbesondere den häuslichen Bereich. Zur Privatsphäre gehören andererseits aber auch „private“ Lebensäusserungen in der Öffentlichkeit, wie z.B. der Abschiedskuss am Bahnhof, das Auftreten in einem öffentlichen Bad oder das Weinen am Grab eines nahen Angehörigen, wo jemand die Kenntnisnahme dieser Lebensäusserungen durch die jeweiligen Passanten in Kauf nimmt[2]. Man spricht auch vom privat-öffentlichen Bereich oder vom Gemeinbereich.

III. Problematische Gerichtsentscheide

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Es fällt generell auf, dass die Passage im Text von Art. 179quater StGB, wonach nur Tatsachen aus dem Privatbereich eines anderen erfasst werden, die nicht jedermann ohne weiteres zugänglich sind, zu Unrecht oft ignoriert zu werden pflegt. Hier drei Paradebeispiele.

1. «Haustürfall»

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Das wichtigste ist BGE 118 IV 41 ff. aus dem Jahr 1992. Darin steht, wer einen Hausbewohner gegen dessen Willen fotografiere, wie er vor seiner Haustür steht, verletze Art. 179quater StGB (nachstehend als „Haustürfall“ bezeichnet). Der Betroffene stand in einem Strafverfahren u.a. wegen Zigarettenschmuggels und war abends zuvor aus der U-Haft entlassen worden. Ein Reporter des Sonntagsblicks wollte unbedingt mit ihm ein Interview machen und dieses mit Fotos ergänzen. Er läutete deshalb an der Türe des Wohnhauses, wobei sein Begehren um ein Interview mit Foto zuerst von der Frau des Entlassenen und nachher von diesem selbst zurückgewiesen wurde. Da sich der Reporter weiterhin in der Umgebung aufhielt und das Haus fotografierte, zog die Familie des Entlassenen die Vorhänge zu. Der Reporter klingelte daraufhin erneut an der Haustür, erhielt aber keine Antwort. In der Zwischenzeit hatte der Entlassene die Polizei avisiert. Als zwei Polizisten erschienen, zeigte er sich vor der Haustür, um mit ihnen zu sprechen. Dies benützte der Reporter, um eine Foto von ihm zu machen, wobei der Betroffene erneut erklärte, er wolle nicht fotografiert werden. Man kann das Verhalten des Reporters zwar missbilligen, aber strafbar war es entgegen der Meinung des Bundesgerichts nicht. Schon die Vorinstanz hatte festgestellt, dass prinzipiell eine unbestimmte Anzahl von Personen das Erscheinungsbild des Betroffenen vor der Haustür ohne weiteres hätte wahrnehmen können. Der erste Satz der Regeste bringt die Widersprüchlichkeit dieses Entscheids auf den Punkt: „Wer einen Hausbewohner gegen dessen Willen fotografiert, wie er vor seiner Haustüre steht, nimmt eine nicht jedermann ohne weiteres zugängliche Tatsache aus dem Privatbereich eines andern im Sinne von Art. 179quater StGB auf.“ Das stimmt einfach nicht! Das Gegenteil ist richtig. Aufgenommen wurde eine an sich jedermann ohne weiteres zugängliche Tatsache[3]. Der Entscheid setzt sich ferner mit zusätzlichen, den Anwendungsbereich dieser Norm erweiternden, aber im Gesetzestext so nicht enthaltenen Kriterien auseinander: dass die Aufnahme gegen den Willen des Betroffenen erfolgte, sowie, dass auch einsehbare Vorfälle erfasst würden, die sich nicht nur in dem vom Tatbestand des Hausfriedensbruchs geschützten Bereich, sondern ganz allgemein in der unmittelbaren Umgebung eines Hauses auf der von den Hausbewohnern bzw. von Drittpersonen ohne weiteres als faktisch noch zum Haus gehörenden Fläche abspielen (sic!). Und damit würde selbstredend auch der Bereich unmittelbar vor der Haustür erfasst.

2. «Balkonfall»

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In einem anderen Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahre 2011 (BGE 137 I 327 ff., nachstehend als „Balkonfall“ bezeichnet), wurden von öffentlichen Strassen aus gemachte Bildaufnahmen einer Person auf Balkonen unter gewissen Voraussetzungen für zulässig erklärt. Der Balkonfall wurde zwar von einer sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts behandelt, er befasst sich aber ausführlich auch mit der strafrechtlichen Frage, ob Art. 179quater StGB verletzt sei. Eine objektiv gebotene privatdetektivliche Observation in einem von jedermann ohne weiteres frei einsehbaren Privatbereich (in casu: Balkon) einer versicherten Person, die sie auf Videoaufnahmen bei alltäglichen Verrichtungen (Haushaltsarbeiten) auf dem frei einsehbaren Balkon zeigen, verletze den durch Art. 179quater StGB vorgegebenen Rahmen nicht. Dazu noch die folgenden Details: Die Aufnahmen des Privatdetektivs betrafen eine Frau, die Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung erhob und sich ab und zu auf Balkonen der von ihr gemieteten Wohnungen aufhielt. Diese Balkone waren wie bereits angetönt nicht gegen Einblicke besonders geschützt und konnten von einer Strasse aus ungehindert frei beobachtet werden. Es bestanden konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der behaupteten Arbeitsunfähigkeit weckten. Entsprechend bestand ein Verdacht auf Missbrauch. Die Frau bewegte sich ohne offenkundige Beeinträchtigung physischer oder psychischer Natur und pflegte ein flüssiges zügiges Gangbild; und die Observation fand nur während einer kurzen, begrenzten Zeit statt (während drei Tagen). Ferner waren die Aktivitäten, die sie verrichtete, nicht besonders persönlichkeitsträchtig, sondern wie erwähnt alltäglich. Die Privatsphäre war nur geringfügig tangiert. Es ging u.a. um Reinigungsarbeiten auf dem Balkon wie Staubsaugen und Bodenwischen in der Hocke sowie Teppichausschütteln und das Tragen von Einkaufstaschen. Das Bundesgericht meinte u.a.: „Bei einer Person, die bei freiwillig ausgeübten, von blossem Auge beobachtbaren Alltagsverrichtungen in einem von jedermann öffentlich einsehbaren Bereich gefilmt wird, darf angenommen werden, sie habe insoweit auf einen Schutz der Privatheit verzichtet und in diesem Umfang ihre Privatsphäre der Öffentlichkeit ausgesetzt“ (Erw. 6.1). Umgekehrt habe die Versicherung und die dahinter stehende Versichertengemeinschaft ein erhebliches schutzwürdiges Interesse daran, dass nicht zu Unrecht Leistungen erbracht werden (Erw. 5.6). Die Aufnahmen hätten deshalb bei der Observation nicht gegen Art. 179quater StGB verstossen (Erw. 6.2).

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Der Balkonfall steht im Widerspruch zum Haustürfall, ohne dass das Bundesgericht dies problematisierte. Es ist schwer verständlich, dass nach dem einen Entscheid jemand gefilmt werden darf, der sich auf einem Balkon seiner Wohnung aufhält, und nach einem andern Urteil jemand strafbar sein soll, der eine Person im Eingangsbereich eines Hauses fotografiert[4]. Die Kriterien, die im Haustürfall zur Bejahung der Strafbarkeit führten, waren auch im Balkonfall erfüllt, ausser dass die Frau nicht wusste, dass sie gefilmt wurde und sie deshalb gegen die Aufnahmen nicht protestieren konnte, aber immerhin damit rechnen musste, dass sie gesehen wird. Mit ein Grund für die divergierenden Interpretationen des Bundesgerichts von Art. 179quater StGB in den beiden Urteilen könnte auch sein, dass im Haustürfall der Blickreporter eine unsympathische Rolle spielte und keinen hochstehenden Grund für das Erstellen einer Fotografie ins Feld führen konnte, während der einen Missbrauch aufdeckende Privatdetektiv im Balkonfall auf mehr Sympathien stiess, weshalb die Grenzen für zulässige Aufnahmen so zurechtgezimmert wurden, dass keine Strafe ausgesprochen werden musste.

3. «Schafstall-Fall»

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Ein weiterer Fall, der möglicherweise früher oder später ebenfalls beim Bundesgericht landen könnte, ist gegenwärtig im Kt. Thurgau hängig[5]. Dort erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Verstosses gegen Art. 179quater StGB durch die Erstellung von Videoaufnahmen tierhalterischer Missstände in einem Schafstall. Die Bilder zeigen den brutalen Umgang des Schafzüchters mit seinen Schafen. Er warf Lämmer über einen Zaun, zerrte Schafe an ihren Hinterbeinen durch den Stall und traktierte einzelne mit einem Stock. Angeklagt ist nicht nur der Filmer, sondern auch ein bekannter Tierschützer, der die Aufnahmen in einer Zeitschrift auswertete und so veröffentlichte. In der Anklageschrift wird expressis verbis festgehalten, dass der Schafzüchter durch die Fenster und die offene Stalltür an seinem Arbeitsplatz innerhalb des Schafstalls gefilmt wurde. Damit wird indirekt anerkannt, dass dieses Geschehen von aussen einsehbar war. Und zwar konnte dieser Missstand von jedermann von einer am Stall vorbei führenden öffentlichen Strasse aus und vom Filmer von dessen Haus aus gesehen werden. Ob der Standort des Filmers selber bei den Aufnahmen nicht jedermann ohne weiteres zugänglich war, weil er von seiner Wohnung aus filmte, spielt gemäss Gesetzestext keine Rolle. Es genügt, dass das Geschehen von einem jedermann ohne weiteres zugänglichen Ort aus gesehen werden konnte, und das war der Fall.

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Wenn in der Anklageschrift steht, dass die Bilder „mit einer Videokamera mit erheblicher Zoom-Funktion“ gemacht worden sind, sei darauf hingewiesen, dass solche Kameras heute gang und gäbe und alltäglich sind. Und das tatbestandsmässige Verhalten besteht wie erwähnt einzig darin, dass man nicht ohne weiteres jedermann zugängliche Tatsachen (heimlich oder offen) durch ein Aufnahmegerät beobachtet oder sie auf einen Bildträger aufnimmt[6]. Als Bildträger kommt jede Kamera in Betracht; die Abgrenzung gegenüber dem erlaubten Aufnehmen ist nur dadurch zu treffen, ob das Sujet dem geschützten Bereich zugehört[7] (nicht ohne weiteres jedermann zugängliche Tatsache aus dem Privatbereich). Soweit man dank des Zooms die Details eines Geschehens besser sehen kann, besteht eine ähnliche Situation, wie wenn jemand mit einem Feldstecher etwas beobachtet. Und ein Beobachten der Vorgänge in der Privatsphäre unter Einsatz eines Feldstechers fällt nach grossmehrheitlicher Auffassung nicht unter den Straftatbestand, weil man damit rechnen muss, dass das geschehen kann, wenn man zulässt, dass die Privatsphäre für jedermann einsehbar ist[8]. „Was durch einen gewöhnlichen Feldstecher beobachtet werden kann, ist noch als ohne weiteres zugänglich anzusehen“[9].

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Auch ging es bei der Stallung nicht um ein Schlafzimmer, eine Küche oder ein Wohnzimmer, sondern um einen Schafstall, in dem übliche Stallarbeiten und andere Alltagsverrichtungen getätigt werden und wo sich normalerweise nicht wie in Wohnungen allenfalls persönlichkeitsträchtige Szenen abspielen. Zwar ist das Herumwerfen und Traktieren von Schafen in einem Stall nicht mehr ohne weiteres eine alltägliche Verrichtung, aber es wäre widersinnig, gerade deswegen Kritikern eines solchen Verhaltens zu verbieten, Aufnahmen zu machen.

4. Zwischenergebnis

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Im Ergebnis ist es, wenn man auf den Gesetzestext abstellt, nicht so, dass Aufnahmen vom Arbeitsplatz von aussen in das Innere eines Gebäudes per se schon strafbar wären, sondern sie sind es wie schon gesagt höchstens dann, wenn es sich um eine nicht jedermann ohne weiteres zugängliche Tatsache aus dem Privatbereich handelt. Die im ersten Absatz dieses Beitrags erwähnte bundesrätliche Verordnung, die am 1. September 2019 in Kraft getreten ist und u.a. vorschreibt, dass Sozialdetektive Versicherte nicht durch das Fenster im Innern der Wohnung beobachten dürfen, gilt für das Sozialversicherungsrecht und wäre weitgehend unnötig gewesen, wenn das nun geltende Verhaltensgebot für Sozialdetektive schon nach Art. 179quater StGB strafbar sein sollte.

IV. Blick auf die Genesis von Art. 179quater StGB

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Zu beachten ist auch der Wille des historischen Gesetzgebers, was meist übersehen wird. Verwiesen sei auf den Gesetzgebungsprozess.[10] Er lief wie folgt ab:

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Einerseits spielte die „Aufgabenteilung“ zwischen Privatrecht und Strafrecht eine Rolle, ferner die rechtstechnische Frage, ob es möglich ist, im privat-öffentlichen Bereich eine mit dem Grundsatz nulla poena sine lege certa konforme Formulierung zu finden, die es ermöglicht, gewissermassen die Spreu vom Weizen zu scheiden, d.h. strafwürdiges Verhalten von strafrechtlich legalen oder ausschliesslich dem Zivilrecht zu überlassenden Betätigungen zu isolieren[11].

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Nach der bundesrätlichen Botschaft an die Bundeversammlung über die Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes des persönlichen Geheimbereichs vom 21.2.1968 sollte es bei Art. 179quater nur um Tatsachen aus dem Geheimbereich eines andern gehen und es war nur ein  Schutz  beim Einsatz versteckt angebrachter Bildaufnahmegeräte vorgesehen, d.h. bei besonders hinterhältigen Eingriffen[12]. Denn damals waren Minispione ein grosses Thema. Nach Meinung des Nationalrates war die Fassung des Bundesrates zu eng. Es sollte der Schutz auf Tatsachen aus dem Geheim- oder aus dem Privatbereich ausgedehnt werden[13]. Für den Ständerat wiederum ging das zu weit und er kehrte in der Folge zum „bundesrätlichen“ Geheimbereich zurück[14]. Die nachher im Differenzbereinigungsverfahren gefundene Formulierung des Gesetzestextes, die die Zustimmung beider Räte erhielt und dem heutigen Gesetzestext entspricht, war ein Kompromiss zwischen der (zu) engen Fassung des Ständerates sowie der bundesrätlichen Botschaft und der (zu) weiten Fassung des Nationalrates[15]. Es war „der Preis, der im Interesse einer nach dem Grundsatz nulla poena sine lege certa konformen Formulierung zu bezahlen war[16]. Es war im Ergebnis der feste Wille des historischen Gesetzgebers, dass bei öffentlich einsehbaren Vorgängen (selbst z.B. beim Kamerablick in eine Wohnung durch ein offenes Fenster) allfällige Aufnahmen wegen der Schwierigkeit, in diesem Bereich strafwürdiges vom nicht strafwürdigen Verhalten zu unterscheiden, gegebenenfalls nur (aber immerhin) das Zivilrecht und nicht das Strafrecht greifen soll. Denn nach Zivilrecht ist die Privatsphäre auch in der Öffentlichkeit geschützt. Eingriffe sind grundsätzlich unzulässig, ausser wenn ein Rechtfertigungsgrund vorliegt.

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Auch andere Autoren problematisieren eine extensive Auslegung von Art. 179quater StGB, so z.B. Hug[17], der argumentiert, die extensive Auslegung von Art. 179quater StGB, wie sie BGE 118 IV 41 ff. anpreist, stehe mit dem Bestimmtheitsgebot im Widerspruch. Nach Stratenwerth /Bommer[18] bleibt es entgegen dem Bestimmtheitsgebot praktisch allein dem Richter überlassen, dem Straftatbestand hinreichend deutliche Konturen zu geben. Dies trifft allerdings nur zu, wenn man beginnt, den Anwendungsbereich von Art. 179quater StGB entgegen dem Gesetzestext zu interpretieren. Der Bundesrat sagte es schon in seiner Botschaft über die Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes des persönlichen Geheimbereichs vom 21.2.1968[19] mit aller Deutlichkeit: „Eine Formel jedoch, die lediglich dem Richter die Aufgabe überbände, die Grenze des rechtswidrigen und damit strafbaren Verhaltens zu bestimmen, also in Wirklichkeit über die Strafwürdigkeit zu befinden, ist abzulehnen; denn eine solche Überwälzung einer an sich dem Gesetzgeber obliegenden Aufgabe auf den Richter widerspräche dem Grundsatz der Legalität, der das schweizerische Strafrecht beherrscht“.

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Die einzige Frage, die man sich in diesem Zusammenhang stellen und zu Abgrenzungsproblemen führen kann, ist, ob dann, wenn sehr intime Vorgänge zwar öffentlich einsehbar sind, aber sich der oder die Betroffenen unbeobachtet wähnen (Stichwort: Liebesakt im dunklen Wald), der Vorgang nicht mehr zur Privat-, sondern zur Geheimsphäre gezählt werden sollte[20]. Aber in den geschilderten Beispielen ging es nicht um solche Grenzfälle.

V. Wahrung berechtigter Interessen

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Falls Aufnahmen entgegen dem förmlichen Gesetzestext wie im Haustürfall (vorne III. Ziff. 1) und im Thurgauer Fall (vorne III. Ziff. 3) sowie begrenzt, wenn es nicht mehr bloss um Alltagsverrichtungen geht, auch im Balkonfall (vorne III. Ziff. 2) als strafbar angesehen werden, stellt sich zudem die Frage ihrer Rechtfertigung wegen Wahrung berechtigter Interessen[21]. Im Balkonfall (BGE 137 I 327 ff.) wurde diese Frage explizit aufgeworfen. Auf S. 336 dieses Entscheids wurde jedoch offen gelassen, ob allenfalls ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Vermeidung eines ungerechtfertigten Leistungsbezugs bestehe, welches auch ein Art. 179quater StGB erfüllendes Verhalten rechtfertigen würde. Das Bundesgericht konnte sich das erlauben, weil es Art. 179quater StGB gar nicht als verletzt ansah. Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass gegebenenfalls das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes zu bejahen gewesen wäre. M.E. wäre auch im Thurgauer Fall der Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen in Betracht zu ziehen. Es muss zulässig sein, einen tierhalterischen Missstand durch den brutalen Umgang mit Schafen und allenfalls die als ungenügend erachtete behördliche Reaktion darauf öffentlich zu rügen. Und weil man das angeprangerte Geschehen bei einer offenen Kontrolle, wie sie im Thurgauer Fall offenbar stattfand, nicht ohne weiteres zu Gesicht bekommt, kann es wie in umstrittenen Versicherungsfällen geboten sein, als missbräuchlich erachtetes Verhalten fotografisch oder filmisch zu dokumentieren, um dagegen zu protestieren und es allenfalls für die Behörden zu Beweiszwecken festzuhalten, namentlich wenn man die Erhebung einer Strafanzeige erwägt. Es besteht durchaus auch ein öffentliches Interesse an der Missbrauchsbekämpfung beim Umgang mit Tieren. Inzwischen ist bei der zuständigen Staatsanwaltschaft gegen den Schafzüchter eine Strafanzeige wegen Verletzung des Tierschutzgesetzes eingereicht worden, das Verfahren aber ist sistiert worden bis zum Abschluss des Prozesses gegen den Filmer und den Tierschützer, da je nach Ergebnis das Beweis-Video unverwertbar wäre.


Fussnoten:
  1. Vgl. BaslerKomm/Ramel/Vogelsang, Art. 179quater StGB, N 9 und dort zitierte Literatur und Judikatur.

  2. Vgl. zum Ganzen Riklin, Der strafrechtliche Schutz des Rechts am eigenen Bild, in: Staat und Gesellschaft, FS Leo Schürmann, Freiburg 1987, 538 ff.

  3. Das Gleiche gilt für eine Passage in BGE 8C_829/2011 vom 9.3.2012 E.8.4 („Der Innenbereich des Hauses, in dem die versicherte Person wohnt, bildet keinen ohne Weiteres öffentlich frei einsehbaren Raum“). Das ist zwar oft der Fall, muss es aber nicht in jedem Fall sein.

  4. So auch Hug, Observation durch Privatdetektive im Sozialversicherungsrecht, in: Liber Amicorum für Andreas Donatsch, Zürich 2012, 699

  5. Vgl. Beobachter vom 16.8.2019, 8

  6. Donatsch, Strafrecht III, Delikte gegen den Einzelnen, 10. Aufl., Zürich 2013, 413.

  7. Donatsch (Fn. 6) 413

  8. Schultz, Der strafrechtliche Schutz der Geheimsphäre, SJZ 1971, 306; Metzger, Der strafrechtliche Schutz des persönlichen Geheimbereichs gegen Verletzungen durch Ton- und Bildaufnahme – sowie Abhörgeräte, Diss. Bern 1972, 42, 99; Rehberg, Strafrecht III, 3. Aufl., Zürich 1982, 132; Noll , Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil I, Zürich 1983, 95; Donatsch (Fn. 6) 413; Stratenwerth /Bommer, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 7. Aufl., Bern 2010, § 12 N 55; Riklin (Fn. 2), 553

  9. Schultz (Fn. 8),306 Anm. 11

  10. Ich habe die Genesis von Art. 179quater StGB, der 1969 in Kraft trat, schon 1987 in einem Aufsatz über den strafrechtlichen Schutz des Rechts am eigenen Bild (Fn. 2) 535 ff., namentlich 549 ff. ausführlich dargestellt. Vgl. dazu auch Schultz (Fn.8) 305 f.

  11. Riklin (Fn. 2), 543

  12. Riklin (Fn. 2), 544

  13. Riklin (Fn. 2), 545

  14. Riklin (Fn. 2), 547

  15. Riklin (Fn. 2), 548.

  16. Riklin (Fn. 2), 554

  17. (Fn. 4), 699

  18. (Fn.8) § 12 N 55

  19. (Fn. 12), 595

  20. Zu dieser Problematik vgl. u.a. Riklin (Fn. 2) 552, wo die Meinung vertreten wird, dass auch in einem solchen Fall ein Eingriff strafrechtlich nicht erfasst werde, und Stratenwerth/Bommer (Fn. 8) § 12 N 55

  21. Vgl. dazu Riklin, Straffreiheit bei Wahrung berechtigter Interessen, Medialex 2018, 23 ff. und ders. , Zum Rechtfertigungsgrund der Wahrung (Wahrnehmung) berechtigter Interessen, FS Stefan Trechsel, Zürich 2002, 537 ff.

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