Schlichte Unkenntnis oder magistrale Ignoranz?

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Der Umgang der Gerichte mit Art. 70 der Strafprozessordnung

Thomas Hasler, Dr. phil., Gerichtsreporter «Tages Anzeiger»[1]

Resumé: L’article 70 du Code de procédure pénale, qui règle les possibilités de restreindre l’accès du public et des médias et celles de huis clos lors d’un procès, semble, à première vue, clair. Il n’a dès lors suscité que peu de commentaires spécialisés. Une analyse de la pratique menée par l’auteur, chroniqueur judiciaire, montre toutefois que l’art. 70 est compris de façon très diverse. Selon lui, les ordonnances et décisions judiciaires doivent être rédigées de façon à être compatibles avec le droit supérieur et la jurisprudence du Tribunal fédéral. Surtout, son analyse d’une centaine de décisions révèle que, dans de nombreux cas, le principe de la proportionnalité, qui devrait présider à la restriction de la liberté de la presse, n’est pas respecté. Par simple méconnaissance ou crasse ignorance? L’auteur, journaliste aguerri, identifie les problèmes et propose des solutions lorsque cela est possible et pertinent.

Zusammenfassung: Art. 70 StPO, der die Einschränkung und den Ausschluss der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen regelt, scheint auf den ersten Blick inhaltlich klar zu sein. Die einschlägigen StPO-Kommentare befassen sich damit eher stiefmütterlich. Der Blick in gerichtliche Verfügungen oder Beschlüsse offenbart aber ein sehr unterschiedliches Verständnis der Justiz von Art. 70 und wie Verfügungen und Beschlüsse inhaltlich gestaltet sein müssen, damit sie übergeordnetem Recht und bundesgerichtlicher Rechtsprechung entsprechen. Im vorliegenden Beitrag zieht der langjährige Gerichtsberichterstatter auf der Basis von gegen 100 Verfügungen/Beschlüssen das Fazit, dass in vielen Fällen der für die Einschränkung der Medienfreiheit gebotene Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzt wird. Aus schlichter Unkenntnis oder magistraler Ignoranz? Als journalistischer Praktiker identifiziert der Autor Problemfelder und bietet, wo möglich und sinnvoll, Lösungsvorschläge an.

INHALTSÜBERSICHT

1. Einleitung
2. Die rechtliche Position der Medienschaffenden
3. Verfassungsrechtliche Aspekte des Öffentlichkeitsausschlusses
4. Die Abwägung öffentlicher und privater Interessen
5. Auflagen gemäss Art. 70 Abs. 3 StPO
6. Welche Strafbestimmungen sind möglich?
7. Anmerkungen zur Urteilseröffnung
8. Noch ein Wort zum «Gesetzeswächtertum»

1. Einleitung[2]

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Auf einem Gestell hinter meinem Arbeitsplatz liegt ein mehrere Zentimeter dicker Stapel Papiere. Es sind Beschlüsse oder Verfügungen[3], mit denen Gerichte aus verschiedenen Kantonen über einen Ausschluss der Öffentlichkeit von einem Strafprozess entschieden haben. Begann die Sammlung im Jahre 2016 mit den ersten 17 Entscheide eher zufällig, ist der Stapel bis Ende 2019 auf gegen 100 Entscheide angewachsen. Dass die Anträge auf Ausschluss der Öffentlichkeit, allenfalls inklusive der Medien[4], in den letzten Jahren zugenommen haben, ist ein von diesem Stapel genährtes Gefühl, aber kein hinreichender Beweis, zumal vom Gericht abgelehnte Anträge in aller Regel nicht öffentlich werden. Verglichen aber mit den 90er- oder 00er-Jahren glaube ich, seit den 10er-Jahren verstärkt mit gutheissenden Entscheiden konfrontiert zu sein, darunter vermehrt auch Anträge von Seiten der Beschuldigten. Prima vista sehe ich zwei mögliche Erklärungen für diese Entwicklung: Zum einen wollen sich die Gerichte mit der Gutheissung entsprechender Anträge nicht dem sonst möglicherweise drohenden Vorwurf aussetzen, an potenziellen Persönlichkeitsverletzungen durch die Medien Anteil zu haben[5]. Zum andern – und damit zusammenhängend – bietet nur der Ausschluss der Öffentlichkeit dem Gericht die Möglichkeit, die Medien im Zaum zu halten, indem den Medienschaffenden Auflagen bezüglich ihrer Berichterstattung gemacht werden können.

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Die Auswahl der diversen Entscheide hat zweifellos etwas Zufälliges. Deren Inhalt ist aber ebenso zweifellos aufschlussreich. Dieser offenbart in verschiedener Hinsicht eine überraschende Unkenntnis der einschlägigen Rechtsprechung. Diese Unkenntnis ist teilweise derart eklatant, dass die Versuchung naheliegt, von einer eigentlichen magistralen Ignoranz gegenüber Recht und Rechtsprechung zu sprechen. Wie anders ist es zu erklären, dass Medienschaffenden in einem öffentlichen Strafprozess nach Art. 69 StPO unter Androhung von Ordnungsstrafe einschränkende Auflagen zu ihrer Berichterstattung gemacht werden? Oder dass über den angeordneten Ausschluss nichts Schriftliches existiert? Oder dass der Ausschluss der Öffentlichkeit inklusive der Medien ohne eigene gerichtliche Begründung verfügt wird? Und welchen Sinn macht eine Verfügung, die Medienschaffenden den Zutritt zur Verhandlung «unter der Auflage» gestattet, «dass sie nicht über den das Opfer betreffenden Vorfall berichten» – was faktisch auf ein Schreibverbot hinausläuft?

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Man muss in diesem Zusammenhang aber auch feststellen, dass die Gerichte von Seiten des Schrifttums wenig Unterstützung erhalten. Fast 3000 Seiten widmet der Basler Kommentar der Auslegung der Schweizerischen Strafprozessordnung. Gerade einmal zwölf Zeilen[6] befassen sich mit dem Ausschluss der Medien. Gerade einmal 15 Zeilen widmet ein anderer, über 2000 Seiten dicker Kommentar dem Thema[7]: Auf neun Zeilen bringt es die dritte Auflage des Handbuchs von Schmid/Jositsch[8].

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Im Folgenden sollen die im Zusammenhang mit dem Ausschluss von (akkreditierten) Medienschaffenden verbundenen Problemfelder dargestellt und diskutiert werden – und zwar aus der Optik des journalistischen Praktikers. Es ist das Ziel dieses Beitrags, Lösungsvorschläge dort anzubieten, wo es möglich und sinnvoll erscheint. Der Aufbau folgt dem natürlichen Ablauf des Verfahrens – von der Einreichung entsprechender Anträge bis zum Abschluss des Verfahrens mit der Urteilsverkündung. Dem Ausschluss der (breiten) Öffentlichkeit widme ich mich an dieser Stelle nicht[9]. Ich setze voraus, dass die in Art. 69 StPO formulierten Grundsätze ebenso bekannt sind, wie das in Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 UNO-Pakt II verankerte Öffentlichkeitsprinzip sowie die vom Bundesgericht in konstanter Rechtsprechung hervorgehobene rechtsstaatliche und demokratische Bedeutung des Grundsatzes der Justizöffentlichkeit[10].

2. Die rechtliche Position der Medienschaffenden

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Es scheint Opfer- bzw. Privatklägerschaft-Vertreterinnen zu geben, bei denen der Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit Teil des Stehsatzes ihrer Rechtsschriften ist. Zugenommen haben auch Anträge von Seiten der Beschuldigten[11]. Wie ausführlich solche Anträge begründet werden, ob sie Eventual- und Subeventualanträge enthalten, ist Medienvertretern nicht bekannt, da sie ihnen nicht ausgehändigt werden und sich – im besseren Fall – nur aus dem Entscheid des Gerichts erschliessen lassen. Die Praxis zeigt, dass die Gegenseite Anträge im Sinne von Art. 70 StPO – wohl in Nachachtung von Art. 107 Abs. 1 StPO – zur freigestellten Stellungnahme erhält. Die Strafbehörde haben Art. 70 StPO aber von Amtes wegen anzuwenden[12], und es steht nicht im Belieben einer Partei, die Öffentlichkeit von der Verhandlung auszuschliessen[13]. Während die Staatsanwaltschaft sich zu Anträgen auf Ausschluss ususgemäss nicht vernehmen lässt, opponiert die Gegenseite in der Regel nicht gegen den beantragten Ausschluss oder schliesst sich diesem ausdrücklich an.

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Sind akkreditierte Medienschaffende direkt von einem Ausschluss oder von Auflagen gemäss Art. 70 Abs. 3 StPO betroffen, stellt sich die Frage nach deren Rolle und damit nach ihrer Beschwerdeberechtigung. Ein erstinstanzliches Gericht im Kanton Zürich hatte Medienschaffenden die Aushändigung einer Verfügung, die Auflagen zur Berichterstattung enthielt, mit dem Hinweis zunächst verweigert, sie seien nicht Partei des Verfahrens[14]. Andererseits ist das Zürcher Obergericht immer wieder auf Beschwerden von Medienschaffenden eingetreten, ohne über die Eintretensvoraussetzungen ein Wort zu verlieren[15]. Medienschaffende, gegen die ein Ausschluss verfügt wird, oder deren Berichterstattung mit Auflagen eingeschränkt wird, sind als «durch Verfahrenshandlungen beschwerte Dritte» im Sinne von Art. 105 Abs. 1 lit. f StPO zu betrachten[16]. Zwar ist in den einschlägigen Kommentaren im Zusammenhang mit Art. 105 Abs. 1 lit f. StPO vor allem von strafprozessualen Zwangsmassnahmen die Rede. Doch kann nicht ernsthaft bestritten werden, dass der Erlass einer Verfügung eine Verfahrenshandlung darstellt, und dass eine solche Verfügung die Medienschaffenden direkt, unmittelbar und persönlich betrifft[17]. Die unmittelbare Betroffenheit ergibt sich sowohl aus dem Verbot, über eine Gerichtsverhandlung überhaupt zu berichten, als auch aus den die freie Berichterstattung[18] einschränkenden Auflagen, kurz: aus dem Eingriff in das Grundrecht der Medienfreiheit gemäss Art. 17 BV (dazu Rz 18). Zur Wahrung der Interessen von Medienschaffenden ist ein Beschwerderecht erforderlich[19]. Gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO kann jeder Partei, die ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung eines Entscheides hat, ein Rechtsmittel ergreifen. Das massgebliche rechtlich geschützte Interesse kann durch kantonales oder eidgenössisches Gesetzesrecht oder aber unmittelbar durch ein angerufenes spezielles Grundrecht, wie die Medienfreiheit, geschützt sein – sofern dieses Interesse auf dem Gebiet liegt, das die betreffende Verfassungsbestimmung beschlägt[20].

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In einer Verfügung eines erstinstanzlichen Gerichts im Kanton Thurgau zum Ausschluss der Öffentlichkeit von der Verhandlung hiess es, es handle sich um eine verfahrensleitende Anordnung, welche gemäss Art. 65 Abs. 1 StPO nur mit dem Endentscheid angefochten werden könne. Das trifft zu, soweit die Verfügung die Prozessparteien im Sinne von Art. 104 Abs. 1 StPO betrifft. Es trifft aber nicht zu, soweit Medienschaffende durch die Verfügung beschwert sind. Schon vor über zehn Jahren hielt das Bundesgericht fest, beim verfahrensleitenden Entscheid handle es sich aus Sicht der Parteien des Strafverfahrens um einen Zwischenentscheid. Doch für die Besucher der Gerichtsverhandlung handle es sich «um einen isolierten Entscheid, der als Endentscheid zu qualifizieren ist»[21]. Auch im bekannten Zürcher Fall, bei dem ein Medienvertreter sich in einem Prozess, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, den Auflagen des Gerichts nicht unterziehen konnte oder wollte (BGE 137 I 209 vom 14. Juli 2011), bestätigte das Bundesgericht, dass es sich (beim prozessleitenden Entscheid über die Wegweisung des Journalisten) um einen Endentscheid handelt[22].

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Als durch Verfahrenshandlungen beschwerte Dritte stünden Medienschaffenden gemäss Art. 105 Abs. 2 StPO grundsätzlich die gleichen Rechte zu wie den eigentlichen Parteien im Sinne von Art. 104 Abs. 1 StPO. Das wichtigste Recht, neben der bereits erwähnten Rechtsmittel-Legitimation gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO, ist das rechtliche Gehör gemäss Art. 107 Abs. 1 StPO. Dies würde im Wesentlichen das Recht bedeuten, Akten einzusehen (lit. a), sich zur Sache und zum Verfahren zu äussern (lit d) und allenfalls Beweisanträge zu stellen (lit. e). Diese Rechte existieren erst im Rechtsmittelverfahren (aber: Rz 11). Dem Anspruch auf rechtliches Gehör werde «hinreichend Rechnung getragen», wenn die entsprechende Verfügung angefochten werden könne, hält das Zürcher Obergericht dazu fest. Ein Anspruch, schon vor dem Erlass der Verfügung angehört zu werden, bestehe «in Anbetracht des grundsätzlich verfahrensleitenden Charakters der Anordnung nicht»[23].

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Dass Medienvertreter bereits vor Erlass einer sie betreffenden Verfügung angehört werden, erscheint schon aus praktischen Gründen illusorisch. Dafür braucht der angeblich «grundsätzlich verfahrensleitende Charakter der Anordnung» gar nicht bemüht zu werden. Aus Gründen der Gleichbehandlung müssten sämtliche am entsprechenden Gericht akkreditierten Medienschaffenden zur «Vernehmlassung» begrüsst werden. Und um die inhaltliche Angemessenheit der Verfügung beurteilen zu können, müsste das Gericht zur Unzeit Informationen offenbaren, an deren Geheimhaltung mindestens eine Partei das lebhafteste Interesse hat.

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Die Parteien können noch zu Beginn der Hauptverhandlung im Rahmen von Vorfragen nach Art. 339 Abs. 1 lit e die Frage nach der Öffentlichkeit der Verhandlung aufwerfen. In diesem Zusammenhang ist meines Erachtens zu fordern, dass das Gericht den zum letztmöglichen Zeitpunkt beantragten Ausschluss der Öffentlichkeit, allenfalls inkl. Medien, ablehnt, vor allem dann, wenn er von Seiten des Beschuldigten gestellt wird. Wer den Antrag auf Ausschluss davon abhängig macht, ob allenfalls Medienvertreter an der Verhandlung anwesend sind, dem geht es in aller Regel nicht um berechtigte schutzwürdige Interessen, sondern vor allem darum, den unangenehmen Umstand zu vermeiden, dass Dritte die Verhandlung mitverfolgen. Das haben Beschuldigte schlichtweg zu ertragen[24].

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Anträge zur Öffentlichkeit der Verhandlung, die im Rahmen von Vorfragen gestellt werden, entscheidet das Gericht gemäss Art. 339 Abs. 3 «unverzüglich». Wird der Ausschluss der Medien oder die Erteilung von Auflagen beantragt, sieht sich das Gericht mit zwei Problemen konfrontiert – dem rechtlichen Gehör und der Form des Entscheids. Weil akkreditierte Medienschaffende als Verfahrensbeteiligte im Sinne von Art. 105 Abs. 1 lit. f StPO anzusehen sind, denen gemäss Abs. 2 die zur Wahrung ihrer Interessen erforderlichen Verfahrensrechte einer Partei zustehen, ist den anwesenden Medienvertretern vor einem Entscheid das rechtliche Gehör zu gewähren. Denn Art. 339 Abs. 3 schreibt vor, dass den Parteien Gelegenheit zur mündlichen Stellungnahme einzuräumen ist[25]. In der Praxis geschieht das aber nicht. Ein eigentlicher Normkonflikt ergibt sich bei der Frage, in welcher Form über diese Vorfrage entschieden werden soll/muss. Weil Vorfragen «unverzüglich» zu klären sind, entscheidet das Gericht in der Regel in Form eines einfachen verfahrensleitenden Entscheids, der mündlich kurz begründet und als Protokollnotiz festgehalten wird[26]. Bloss: Der Ausschluss der Medien aus der Gerichtsverhandlung oder die Erteilung von Auflagen ist ein Eingriff in die verfassungsmässig garantierte Medienfreiheit. Es handelt sich nicht mehr um einen einfachen verfahrensleitenden Entscheid, sondern um einen Entscheid, der nach den Regeln von Art. 80 StPO zu erfolgen hat (ausführlicher dazu Rz 18).

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Gerade im Zusammenhang mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör wird offenbar, dass Art. 105 nicht konsequent umgesetzt wird. Gemäss dessen Abs. 2 stehen den durch Verfahrenshandlungen in ihren Rechten unmittelbar betroffenen und dadurch beschwerten Dritten «die zur Wahrung ihrer Interessen erforderlichen Verfahrensrechte einer Partei» (im Sinne von Art. 104 Abs. 1 StPO) zu. Das ist aber, bezogen auf Medienschaffende, nicht der Fall. Der Lehrmeinung Schmid folgend[27], unterscheidet das Obergericht Zürich zwischen formell-prozessleitenden und materiell-prozessleitenden Entscheiden. Während erstere, den Verfahrensablauf betreffend, nur mit dem Endentscheid anfechtbar seien (Art. 65 Abs. 1 StPO sowie Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO), müsse es bei letzteren Entscheiden, welche die verfahrensrechtliche Stellung der Parteien unmittelbar tangieren[28], möglich sein, sich unmittelbar dagegen zu wehren – sofern ein nicht wiedergutzumachender Nachteil droht[29]. Davon «profitieren» aber nur die Parteien gemäss Art. 104 Abs. 1 StPO.

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Dies zeigen zwei neuere Fälle. Im einen Fall hat ein erstinstanzliches Gericht im Kanton Zürich den vom Beschuldigten beantragten Ausschluss der Medien abgewiesen. Dagegen beschwerte sich dessen Rechtsvertreter beim Zürcher Obergericht. Dieses betrachtete die Verfügung als materiell-prozessleitenden Entscheid, trat auf die Beschwerde ein und wies sie ebenfalls ab. Dagegen wandte sich der Betroffene ans Bundesgericht. Dem dort vorgebrachten Gesuch um aufschiebende Wirkung wurde vom Bundesgericht, da von keiner Seite bestritten, entsprochen. Das heisst: Die Hauptverhandlung gegen den Beschuldigten wurde ausgesetzt. Auf eine Ansetzung der Hauptverhandlung war bereits verzichtet worden, als die Verfügung ans Obergericht weitergezogen worden war. Verallgemeinernd bedeutet das: Sollte die Vertretung eines Beschuldigten den Ausschluss der Öffentlichkeit, inkl. Medien, erst im Rahmen der Vorfragen verlangen, und würde sein Antrag abgewiesen, müsste, weil es sich um einen materiell-prozessleitenden Entscheid handelt, die Verhandlung konsequenterweise abgebrochen und vertagt werden. In einem anderen Fall, bei dem die Medien von der Hauptverhandlung ausgeschlossen worden waren, und ein Medienvertreter davon erst fünf Tage vor dem Prozess erfuhr und sofort Beschwerde ans Obergericht erhob, wurde die Hauptverhandlung nicht etwa ausgesetzt, sondern termingerecht durchgeführt.

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Mit anderen Worten: Beschweren sich Medienschaffende über einen Ausschluss oder über einschränkende Auflagen des erstinstanzlichen Gerichts oder der Berufungsinstanz, hat die Verhandlung in aller Regel schon stattgefunden, bevor über die Beschwerde materiell entschieden wurde. Damit ist das Rechtsschutzinteresse im Sinne von Art. 382 Abs. 1 StPO kein aktuelles mehr. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts muss ein Beschwerdeführer ein aktuelles praktisches Interesse an der Behandlung seiner Beschwerde und an der Aufhebung des Entscheides haben. Damit soll sichergestellt werden, dass ein Gericht konkrete und nicht bloss theoretische Fragen entscheidet[30]. Das Bundesgericht (und damit auch das kantonale Gericht) verzichtet «ausnahmsweise» auf das aktuelle praktische Interesse, wenn sich a) die gerügte Rechtsverletzung jederzeit wiederholen könnte, b) eine rechtzeitige gerichtliche Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre, c) sich die aufgeworfenen Fragen jederzeit unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen könnten, und wenn d) an deren Beantwortung wegen der grundsätzlichen Bedeutung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht[31]. Alle vier Voraussetzungen sind im Falle einer Beschwerde von Medienschaffenden erfüllt. Die Einschränkung der Öffentlichkeit einer öffentlichen Gerichtsverhandlung kommt immer wieder vor (Rz 1 und 2). Die Frage ist von grundsätzlicher Bedeutung, an deren Beantwortung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht (Informations- und Medienfreiheit). Und schliesslich ist, wie auch das Zürcher Obergericht feststellt, «eine rechtzeitige gerichtliche Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich»[32]. Um das rechtliche Gehör von Medienschaffenden nicht völlig seines Sinns zu entleeren, ist deshalb zu fordern, dass die angerufenen Gerichte auf entsprechende, gezwungenermassen regelmässig «verspätete» Beschwerden von Medienschaffenden grundsätzlich eintreten.

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Auch wenn eine verspätete Beschwerde unausweichlich scheint, ist umso mehr die Frage zu beantworten, wann akkreditierte Medienschaffende informiert werden sollen, dass eine die Öffentlichkeit ausschliessende und die Berichterstattung einschränkende Verfügung vorliegt. Gerichtsverhandlungen, bei denen ein Ausschluss der Öffentlichkeit überhaupt zur Diskussion steht, benötigen in der Regel eine längere Vorlauf-, resp. Vorbereitungszeit. Um für alle Parteien einen passenden Termin zu finden, wird das Datum der Hauptverhandlung möglichst frühzeitig festgelegt. Dabei wird den Parteien auch eine Frist angesetzt, um Beweisanträge zu stellen. Im Idealfall wird der Ausschluss der Öffentlichkeit bereits in diesem Verfahrensstadium beantragt. Liegt ein Antrag schon Monate vor der Verhandlung vor und wird vom Gericht ohne ersichtlichen Grund erst unmittelbar vor der Verhandlung entschieden, setzt sich das Gericht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung bzw. Rechtsverzögerung aus.

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Es sollte erwartet werden dürfen, dass über den allfälligen Ausschluss oder die Beschränkung der Berichterstattung ohne Verzögerung entschieden wird, das heisst, sobald dem Gericht die für einen Entscheid benötigten Fakten vorliegen. Es sollte ebenso erwartet werden können, dass über das Vorliegen des Entscheids umgehend informiert wird – sei es in den entsprechenden, an die Medien abgegebenen Sitzungslisten, in den Prozessankündigungen im Internet, oder – sofern vorgesehen – im Rahmen regelmässiger Treffen des Gerichts mit Medienschaffenden[33]. Dass explizit verfügt wird, dass die Verfügung (zusammen mit der Anklageschrift) erst mit Beginn der Verhandlung an die Medienschaffenden abgegeben wird, ist ein No-Go. Es zwingt die Medienschaffenden, vor Gericht zu erscheinen, bloss um eventuell festzustellen, dass ihr Erscheinen völlig unnötig war, weil sie angesichts der verfügten Restriktionen auf eine Berichterstattung überhaupt verzichten.

3. Verfassungsrechtliche Aspekte des Öffentlichkeitsausschlusses

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Ein erstinstanzliches Gericht im Kanton Zürich war in einem Vergewaltigungsfall mit dem Antrag konfrontiert, die Öffentlichkeit, inkl. Medien, auszuschliessen und «auf eine Orientierung jeglicher Medien und der Öffentlichkeit über die genannte Hauptverhandlung sowie über das Urteil» zu verzichten. Es folgten Eventual- und Subeventualanträge. Auf der ersten Seite des Antrages brachte das Gericht einen Stempel an: «Antrag angenommen/abgelehnt», dazu die Unterschrift einer Person, bei welcher es sich offenbar um eine Gerichtsschreiberin handelte. Es stellte sich heraus, dass es das Gericht bei der Prüfung des Antrages dabei hatte bewenden lassen, diesen Stempel samt Unterschrift anzubringen, ohne eigene Erwägungen anzustellen oder Begründungen zu liefern.

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Art. 80 Abs. 2 StPO schreibt vor, dass Entscheide in der Form eines Beschlusses oder einer Verfügung schriftlich ergehen und begründet werden müssen. Zudem müssen sie von der Verfahrensleitung sowie der das Protokoll führenden Person unterzeichnet werden. Gemäss Abs. 3 müssen nur einfache verfahrensleitende Entscheide weder besonders ausgefertigt noch begründet werden. In BGE 143 I 194 beurteilte das Bundesgericht den Ausschluss von Medienschaffenden von der Verhandlung und der Urteilseröffnung als schweren Eingriff in die Medienfreiheit[34]. Als solcher stellt er erhöhte Anforderungen an die Begründung. Denn wie Schmid festhält, muss sich die Begründung «bezüglich ihres Umfangs und der Tiefe nach der Eingriffsintensität des Entscheids sowie seiner Bedeutung für Parteien und Verfahren» richten[35]. Mit anderen Worten: Von einem einfachen Entscheid kann grundsätzlich nicht gesprochen werden, wenn damit über den Ausschluss der Öffentlichkeit und die Beschränkung der Gerichtsberichterstattung verfügt wird[36]. All dies fehlte im Fall, der in Rz 17 erwähnt ist[37]. Natürlich: Dieses Beispiel fällt in Bezug auf seine formelle Fehlerhaftigkeit eindeutig aus dem Rahmen. Üblicher ist, dass beispielsweise die Herausgabe von Verfügungen, welche Medienschaffende betreffen, verzögert oder zunächst sogar verweigert wird, weil die Gerichte unsicher sind, ob sie mit der Herausgabe allenfalls das Amtsgeheimnis verletzen. Es kommt, wie bereits erwähnt, auch vor, dass eine Rechtsmittelbelehrung fehlt, oder fälschlicherweise der Hinweis angebracht wird, die Verfügung könne erst mit dem Endentscheid angefochten werden.

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Bevor nachfolgend grundsätzlich auf den Inhalt einer Verfügung eingegangen wird, sollen an dieser Stelle ein paar grundsätzliche Gedanken zum Ausschluss der Öffentlichkeit und zur Beschränkung der Berichterstattung unter verfassungsmässigen Aspekten thematisiert werden. Das Prinzip der Justizöffentlichkeit bedeutet, dass die Publikumsöffentlichkeit die verfassungsrechtliche Regel, der Öffentlichkeitsausschluss die legitimationsbedürftige Ausnahme darstellt[38]. In diesem Sinne statuieren Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK für gerichtliche Verfahren in Strafsachen einen grundrechtlichen Anspruch auf Öffentlichkeit[39]. Für die Bevölkerung fliesst dieser grundrechtliche Anspruch aus der Informationsfreiheit gemäss Art. 16 Abs. 3 BV[40], zumal das Bundesgericht öffentliche Gerichtsverhandlungen und Urteilseröffnungen als allgemein zugängliche Informationsquellen betrachtet[41]. Für die akkreditierten Medienschaffenden ergibt sich dieser Anspruch aus der Medienfreiheit gemäss Art. 17 Abs. 1[42]. Der Ausschluss von Medienschaffenden nach Art. 70 StPO tangiert den Grundsatz der Justizöffentlichkeit. Er stellt auch einen Eingriff in die Medienfreiheit nach Art. 17 BV dar, weil er die Informationsbeschaffung verunmöglicht. Erfolgt die Zulassung zur Verhandlung unter einschränkenden Auflagen nach Art. 70 Abs. 3 StPO ist die Zugänglichmachung der Information an die Öffentlichkeit tangiert[43].

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Bereits die Auflage, bestimmte Informationen über eine Prozesspartei nicht zu publizieren, stellt einen Eingriff in die Medienfreiheit gemäss Art. 17 BV dar. Umso mehr gilt dies, wenn Medien von einer Gerichtsverhandlung überhaupt ausgeschlossen werden. Ob es sich im Einzelfall um einen schweren oder einen leichten Eingriff handelt[44], hat einen Einfluss auf die Begründungsdichte der Verfügung und auf die gesetzliche Grundlage. Schwere Eingriffe bedürfen einer klaren und ausdrücklichen Regelung in einem formellen Gesetz. Bei leichten Eingriffen genügt ein Gesetz im materiellen Sinn[45]. Artikel 36 BV erlaubt die Einschränkung von Grundrechten, wobei der Kerngehalt der Grundrechte unantastbar ist (Abs. 4). Zusätzlich und kumulativ muss die Einschränkung durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt (Abs. 2) sowie verhältnismässig (Abs. 3) sein. Sowohl für den Ausschluss von Medienschaffenden wie auch für die Einschränkung der Berichterstattung durch Auflagen stellt Art. 70 StPO eine genügende gesetzliche Grundlage dar. Dies gilt auch für den Fall, dass das anschliessende Urteil nicht in einer öffentlichen Verhandlung eröffnet wird. Dies deshalb, weil die weiteren Formen der Bekanntgabe, durch welche die Öffentlichkeit auf andere geeignete Art Gelegenheit erhält, vom Urteil Kenntnis zu nehmen, «nicht subsidiär, sondern angesichts der Zweckausrichtung gleichwertig zur öffentlichen Verkündung» [46] sind. (dazu Rz 43 ff.).

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In der Regel ist es in Anwendung von Art. 70 StPO üblich, die Öffentlichkeit auszuschliessen und die akkreditierten Medienschaffenden gemäss Art. 70 Abs. 3 StPO unter bestimmten Auflagen zur Verhandlung zuzulassen. Dies entspricht auch der bundesgerichtlichen Vorgabe, nach der es die rechtsstaatliche und demokratische Bedeutung des Grundsatzes der Justizöffentlichkeit «gebietet, einen Ausschluss … im gerichtlichen Strafprozess nur sehr restriktiv» zuzulassen[47]. In Fällen, in denen auch Medienschaffende nicht zugelassen werden, ist meines Erachtens eine gesonderte, zusätzliche Begründung notwendig. Dies aus folgenden Gründen: Das Bundesgericht hat 1991 festgestellt, dass die Ungleichbehandlung von Publikum und Medien in sinngemässer Auslegung von Art. 6 Ziff. 1 Satz 2 EMRK zulässig ist[48]. Diesem Umstand hat der Gesetzgeber mit Art. 70 Abs. 3 StPO Rechnung getragen. Es gibt Fälle, in denen die Berücksichtigung berechtigter schutzwürdiger Interessen einer Partei dazu führt, das Publikum von der Verhandlung auszuschliessen, in denen aber gleichzeitig die Berücksichtigung berechtigter öffentlicher Interessen der Allgemeinheit an der Information dazu führt, akkreditierte Medienschaffende zuzulassen. Wiederholt hat das Bundesgericht den Medien die Rolle eines «Bindeglieds» zwischen Justiz und Bevölkerung[49], bzw. zwischen Staat und Öffentlichkeit[50] zugesprochen. Deren Gerichtsberichterstattung, an welcher unter den Prämissen einer transparenten Justiztätigkeit und Rechtsfindung «ein erhebliches öffentliches Interesse»[51] bestehe, diene einer verlängerten bzw. mittelbaren Gerichtsöffentlichkeit. Warum der Grundsatz der Justizöffentlichkeit, die daraus abgeleiteten Informationsrechte und damit auch die Kontroll-, Transparenz- und Brückenfunktion der Medienschaffenden durch deren Ausschluss ausgehebelt werden sollen, ist deshalb gesondert und zusätzlich begründungspflichtig.

4. Die Abwägung öffentlicher und privater Interessen

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Art. 6 Ziff. 1 Satz 2 EMRK legt fest, aus welchen Gründen Öffentlichkeit und Presse während des ganzen oder eines Teils des Verfahrens ausgeschlossen werden können. Liegt einer der erwähnten Gründe vor, braucht es für eine Einschränkung keine weitere gesetzliche Grundlage auf nationaler Ebene[52]. Der Schweizer Gesetzgeber hat mit Art. 70 trotzdem eine geschaffen. Auch wenn andere Begriffe verwendet werden[53], sind sie als Umsetzung des übergeordneten Rechts anzusehen und deshalb auch im Einklang mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK auszulegen, «wobei insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit Rechnung zu tragen ist»[54].

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Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, wie er im Zusammenhang mit der Einschränkung von Grundrechten zu beachten ist (Art. 36 Abs. 3 BV), bedeutet, dass ein Gericht jenen Entscheid fällt, der in sachlicher, zeitlicher, persönlicher und räumlicher Hinsicht tatsächlich das mildeste unter allen mindestens gleich geeigneten Mitteln ist[55]. Der Grundsatz wirkt in verschiedener Hinsicht. Zum einen kann dessen Beachtung dazu führen, das Publikum von einer Verhandlung auszuschliessen, die Medien aber zuzulassen. Dazu ist eine Interessenabwägung nötig. Zum andern kann, bzw. sollte er dazu führen, dass das Gericht prüft, ob mit einem bloss vorübergehenden Ausschluss den berechtigten schutzwürdigen Interessen der Parteien ausreichend Rechnung getragen werden kann. Art. 70 Abs. 1 StPO sieht dies ausdrücklich vor, wenn im Zusammenhang mit einem Ausschluss von «ganz oder teilweise» die Rede ist.

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Eine korrekte Interessenabwägung vornehmen, bedeutet im Grundsatz, «nicht nur die Interessen des Opfers, des Beschuldigten und allenfalls anderer Verfahrensbeteiligter, sondern auch diejenigen der Öffentlichkeit im Allgemeinen einzubeziehen»[56]. In den mir vorliegenden Verfügungen und Beschlüssen werden die Interessen eines Opfers mehr oder weniger deutlich dargestellt. Zusammenfassend wird dann festgehalten, dass diese Interessen die Interessen der Öffentlichkeit überwiegen. Worin letztere Interessen aber bestehen, wird gar nicht dargestellt. Wird die Öffentlichkeit ohne Interessenabwägung von der Verhandlung ausgeschlossen, und werden die bestehenden Möglichkeiten, etwa den Medien den Zutritt zur Verhandlung oder einzelnen Verfahrensabschnitten zu gewähren, nicht geprüft bzw. begründet, sind Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt[57]. Dass es sich dabei um keine Bagatelle handelt, macht das Bundesgericht im zitierten Entscheid auch klar: «Da der Anspruch gemäss Art. 6 Abs. 1 EMRK formeller Natur ist, führt die Gutheissung der Rüge zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids»[58].

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Im soeben erwähnten Entscheid hatte sich der Beschuldigte beim Bundesgericht beschwert, weil die Vorinstanz den Ausschluss der Öffentlichkeit ohne weitere Ausführungen verfügt hatte. Gegenüber dem Bundesgericht räumte die Vorinstanz in der Vernehmlassung ein, sie habe den Ausschluss nicht näher begründet. Zudem erwähnte sie, dass eine Interessenabwägung, so sie denn vorgenommen worden wäre, «recht klar zu Gunsten des Opfers eines Sexualdelikts ausgefallen»[59] wäre. Möglicherweise liess sich die Vorinstanz vom seit dem 1. Januar 2011 nicht mehr geltenden Art. 35 lit. e OHG leiten. Dort hiess es apodiktisch: Das Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Integrität kann verlangen, dass das Gericht die Öffentlichkeit von den Verhandlungen ausschliesst. Das entsprechende OHG-Kapitel, in dem es um den besonderen Schutz und die besonderen Rechte von Opfern im Strafverfahren ging, ist in die StPO integriert worden. Danach erlaubt Art. 70 Abs. 1 lit. a StPO die Einschränkung oder den Ausschluss der Öffentlichkeit wenn «schutzwürdige Interessen einer beteiligten Person, insbesondere des Opfers, dies erfordern». Der entscheidende Unterschied: Auch wenn der Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit vom Opfer eines Sexualdelikts gestellt wird, ist eine Interessenabwägung zwingend[60]. Dies wird von Gerichten teilweise noch heute übersehen.

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Die Frage des Opferschutzes stellt sich in letzter Zeit verschärft, seit das Bundesgericht verlangt, dass sich das Gericht bei Vier-Augen-Delikten und bestimmten Konstellationen selber einen Eindruck von den beteiligten Personen, insbesondere auch vom Opfer, verschaffen muss. Saxer/Thurnheer sind der Ansicht, dass gerade bei Delikten gegen die sexuelle Integrität, «in welcher intimste Details des Tathergangs erörtert werden müssen, oftmals ein Öffentlichkeitsausschluss angebracht»[61] sei. Dies ist meines Erachtens in dieser Form abzulehnen. Denn auch in diesen Fällen stellt sich unter dem Aspekt der Verhältnismässigkeit die Frage, ob den berechtigten schutzwürdigen Interessen des Opfers nicht bereits Genüge getan ist mit einem Teilausschluss, beispielsweise während der Dauer der Befragung des Opfers[62].

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Art. 70 Abs. 1 lit a StPO lässt grundsätzlich auch die Einschränkung oder den Ausschluss der Öffentlichkeit zu Gunsten des Beschuldigten zu. Im erwähnten Beispiel des Topmanagers[63] sorgten der Ausschluss der Öffentlichkeit und die strengen Auflagen an die Medienschaffenden auch auf politischer Ebene für Unruhe. So war der Zürcher Regierungsrat angesichts der «offensichtlichen Ungleichbehandlung von Beschuldigten» unter anderem mit der Frage konfrontiert, wie er sicherstelle, «dass alle Beschuldigten in den Genuss desselben Schutzes kommen»[64]. Die Regierung erinnerte klugerweise im Wesentlichen an die Gewaltenteilung. Die einschlägigen Kommentatoren verweisen auf BGE 119 Ia 99[65] und ziehen daraus den Schluss, dass ein Beschuldigter den Anspruch auf Wahrung seiner Privatsphäre mit dem Hinweis auf die persönliche Freiheit[66] zwar vorbringen könne, ihm solche Gründe aber «nur ausnahmsweise zuzubilligen»[67] seien.

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Dass familiäre und/oder intime Details in Strafprozessen verhandelt werden müssen, ist bei einschlägigen Delikten gerichtsnotorisch. Dabei sind natürlich Konstellationen denkbar, in denen eine Beschränkung der Öffentlichkeit, auch der medialen Öffentlichkeit, angezeigt sein kann. Das Bundesgericht hat in seinem wegleitenden Entscheid vom 22. Februar 2017 Leitlinien formuliert: «Eine Zugangsverweigerung für Medienschaffende könnte namentlich bei Vorliegen gewichtiger Anliegen des Kinder-, Jugend- oder Opferschutzes als angezeigt erscheinen, insbesondere wenn sich weniger weitgehende Einschränkungen als zweckuntauglich erweisen und an der Gerichtsverhandlung schwergewichtig besonders intime Details thematisiert würden, deren Bekanntgabe an die Öffentlichkeit für die Betroffenen äusserst belastend und potenziell (re-)traumatisierend sein könnte. Dies trifft beispielsweise bei direkten Opfern von schweren Straftaten, namentlich von Sexualdelikten, zu, die vor Gericht zum Vorfall und zu den persönlichen Verhältnissen befragt werden sollen. Letztlich ist aber in jedem konkreten Einzelfall anhand einer umfassenden Abwägung der Interessen der Opfer, von Jugendlichen, der Beschuldigten, des Publikums und der Medien zu beurteilen, ob ein Ausschluss der Öffentlichkeit in Frage kommt. Dabei gebietet der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, dass eine Einschränkung des Justizöffentlichkeitsgebots auf Verfahrensabschnitte beschränkt bleibt, welche den Kern des Privatlebens und intime Lebenssachverhalte berühren, die in der Öffentlichkeit auszubreiten den betroffenen Personen nicht zugemutet werden kann»[68].

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Bei der Frage, ob auch die Medien von einer Gerichtsverhandlung ausgeschlossen werden sollen, wird ein Aspekt gerne übersehen. Es ist keineswegs so, dass der vollständige Ausschluss der Öffentlichkeit der beste Schutz für ein Opfer darstellt. Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass sich eine in den Fall involvierte Partei bei den Medien meldet und dadurch eine unkontrollierte Berichterstattung auslöst. Die Gefahr einer solchen Berichterstattung ist auch deshalb gegeben, weil die StPO abseits von Art. 70 dem Gericht keine Handhabe bietet, auf die Berichterstattung Einfluss zu nehmen, den Medien Auflagen zu erteilen, wenn sie von der Verhandlung ausgeschlossen wurden. Die Art und Weise der Berichterstattung ist damit der Kontrolle des Gerichts komplett entzogen.

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Dieser Aspekt hat in jüngster Zeit bei Gerichten vermehrt Beachtung gefunden. Ein erstinstanzliches Gericht im Kanton Zürich vertrat in einer Verfügung die Auffassung, mit einem Ausschluss der Öffentlichkeit unter Zulassung von akkreditierten Gerichtsberichterstattenden unter Auflagen könnten die «Schutzzwecke hinreichend, bzw. sogar am besten erfüllt werden». Denn durch die Formulierung klarer Auflagen «kann sichergestellt werden, dass durch die Berichterstattung keine Rückschlüsse auf die Identitäten des Beschuldigten oder der Privatklägerin möglich sind». In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Verheimlichung eines Strafprozesses nicht möglich ist, weil Art. 70 Abs. 4 StPO eine öffentliche Urteilseröffnung vorschreibt (dazu Rz 43).

5. Auflagen gemäss Art. 70 Abs. 3 StPO

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Wird die Publikumsöffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen, die Medienöffentlichkeit aber zugelassen, stellt sich die Frage, welche Auflagen ein Gericht erlassen soll. Wie die mir vorliegenden Verfügungen und Beschlüsse zeigen, ist das tatsächlich ein grosses Problem. Die einschlägigen Kommentare behandeln die Frage, wie Auflagen beschaffen sein sollen, eher marginal. Während sich Donatsch et. al. dazu überhaupt nicht äussern, lassen Schmid/Jositsch wissen, die Auflagen «sollen den mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit angestrebten Schutzzweck erfüllen»[69]. Saxer/Thurnherr verweisen auf die gesetzliche Vorgabe, wonach «bestimmte Auflagen» zu erlassen seien. Dies bedeute, dass sie «inhaltlich präzise sein müssen, also nicht zu allgemein und generell sein dürfen»[70]. Grundsätzlich müssten die Auflagen «einen materiellen Bezug zu den im konkreten Fall einen Öffentlichkeitsausschluss legitimierenden Interessen aufweisen und geeignet sein, diese Interessen zu wahren». Dabei seien auch die Medien- und Meinungsfreiheit als «zusätzliche konstitutionelle Schranken zu beachten»[71]. Die Autoren gehen davon aus, dass Inhalt einer Auflage auch eine Stillschweigeverpflichtung in analoger Anwendung von Art. 73 Abs. 2 StPO sein könnte. Gleichzeitig halten sie es aber für «zweifelhaft», ob Medienschaffende unter diesem Titel verpflichtet werden können[72]. Zuberbühler hält das für «nicht möglich», weil die Medien in Art. 73 Abs. 2 StPO als Adressaten nicht genannt sind[73]. Dieser Ansicht schliessen sich auch Donatsch et. al. an[74].

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In einem Aufsehen erregenden Fall aus dem Kanton Bern mussten die Medienschaffenden eine «Verpflichtungserklärung» unterschreiben. Darin hatten sie sich unter Androhung der Ungehorsamsstrafe nach Art. 292 StGB zu verpflichten, «keine Namen von Verfahrensbeteiligten (PrivatklägerInnen, ZeugInnen, Beschuldigte) zu nennen, keine Informationen preiszugeben, die Rückschlüsse auf Wohnorte, berufliche Tätigkeit und Stellung, Arbeitsorte und Arbeitgeber dieser Personen zulassen bzw. jegliche Hinweise zu unterlassen, die eine Identifikation dieser Personen ermöglichen könnten». Die Verpflichtung, so das Gericht, gelte «auch ausserhalb der Berichterstattung und im persönlichen Umfeld». Die Verpflichtungserklärung offenbart anschaulich das Grundproblem: Das Gericht hätte es beim Hinweis bewenden lassen können, jegliche Hinweise seien zu unterlassen, die eine Identifikation dieser Personen ermöglichen könnten. Doch das Gericht wollte sichergehen und listete zusätzlich alle Informationen im Detail auf, die verboten sind. Und exakt mit dieser geballten Verbotsliste schoss das Gericht übers Ziel hinaus und verletzte den für eine Einschränkung von Grundrechten zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismässigkeit nach Art. 36 Abs. 3 BV. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren: Wenn ein Medium schreibt, beim Beschuldigten handle es sich um einen 32-jährigen, in Bern wohnhaften Mann, verletzt es die Verpflichtungserklärung. Weil aber die Erwähnung des Wohnorts des Beschuldigten ihn in keiner Weise identifizierbar(er) macht, geht das Verbot zu weit und verletzt die Medienfreiheit. Beispiel 2: Wenn ein Medium schreibt, beim Opfer handle es sich um eine 19-jährige Verkäuferin, verletzt es die Erklärung ebenfalls. Wird die Frau dadurch identifizierbar(er)? Nein. Auch hier geht die Einschränkung im Einzelfall zu weit.

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Die Formulierung einer verhältnismässigen «Verbotsliste» ist empfehlenswert. Denn allein die Auflage, es sei die Anonymität der Prozessbeteiligten strikte zu wahren, kann dann zum Problem werden, wenn mehrere Medienschaffende an der Verhandlung anwesend sind. Denn die «ausführliche» Befragung des Beschuldigten zur Person und zur Sache (Art. 341 Abs. 3 StPO), so eine solche denn stattfindet, liefert eine Fülle von Informationen. Wenn nun der eine Medienschaffende nur das Alter des Beschuldigten erwähnt, die zweite nur den Beruf, der dritte nur den Wohnort usw., wahrt jede/r einzelne Medienschaffende die Anonymität, weil aus jeder einzelnen Information isoliert eine Identifikation höchst unwahrscheinlich erscheint. Mit den heutigen Möglichkeiten des Internets hingegen, kann es für Aussenstehende ein Leichtes sein, die über die verschiedenen Medien verstreuten Informationen so zusammenzutragen, dass die Gefahr der Identifikation einer Prozesspartei massiv ansteigt.

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In der Auflistung von Verboten liegt aber auch die Gefahr von Missverständnissen. In der Verfügung eines erstinstanzlichen Gerichts war die Nennung des Geburtsdatums des Beschuldigten verboten worden (es war nicht ein 29. Februar). Da soweit ersichtlich in Gerichtsberichten nie Geburtstage erwähnt werden, blieb unklar, was das Gericht wollte? Dass das Alter nicht genannt wird? Das aber stand nicht in der Verfügung. In einem anderen Fall wurde die Nennung des Tatortes untersagt. Es handelte sich um einen in der Anklageschrift namentlich genannten Park in der Stadt Zürich. Was genau war nun verboten, erwähnt zu werden: die Strasse, in welcher der Park liegt? Der Namen des Parks? Dass es sich beim Tatort überhaupt um einen Park (und nicht etwa um eine Wohnung) handelt? Dass das Delikt in der Stadt Zürich passiert ist?

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Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden – zumal für die Zuwiderhandlung gelegentlich auch eine Ungehorsamsstrafe angedroht wird (dazu Rz 41 f.) – plädiere ich mit Nachdruck dafür, Medienschaffenden nicht einfach die Nennung von bestimmten Informationen zu verbieten, sondern aktiv mitzuteilen, welche Informationen verwendet werden dürfen. So verbot ein erstinstanzliches Gericht in einem aktuellen Fall eines Sexualdelikten neben Foto- und Videoaufnahmen die Nennung des Namens, inkl. korrekter Initialen, die Nennung des Wohnorts der beteiligten Parteien sowie die Strasse, in welcher sich das Delikt ereignete. Zulässig sei «die Bezeichnung des Alters und der Nationalität der beteiligten Personen sowie des Tatortes im Sinne von “Zürich” oder “Stadt Zürich”».

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Wenn Gerichte im Rahmen der Interessenabwägung und in Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit Auflagen formulieren, haben sie bloss eine Frage zu beantworten: Welche Informationen müssen für eine Veröffentlichung verboten werden, damit der mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit angestrebte Schutzzweck erfüllt wird[75]? Aus der Beantwortung der Frage ergibt sich logisch: Alles weitere tangiert den Schutzzweck nicht und muss für eine Berichterstattung freigegeben werden. Ganz so einfach ist es in der Praxis dann aber doch nicht. Denn es ist zu beachten, dass eine einzelne Informationen «ungefährlich» sein und erst in Kombination mit weiteren Informationen die Identifizierbarkeit erhöhen kann. Wenn jede einzelne Information für sich «ungefährlich» ist, und erst die Addition von mehreren Informationen zum Problem wird, stellt sich die Frage, welche Informationen verboten, welche Informationen zugelassen werden sollen. Oder anders – nicht juristisch, sondern journalistisch – gefragt: Welche Informationen, welche die Anonymität der Parteien nicht gefährden, sind im konkreten Einzelfall für Medien relevant?

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Anhand einiger Beispiele soll aufgezeigt werden, welche Überlegungen eine Rolle spielen könnten. Auflagen betreffen im Wesentlichen das Verbot, den Namen zu nennen, auch die korrekten Initialen, das Alter, den Beruf, den Wohnort, den Tatort, die Art der Beziehung zwischen den Parteien. Namen: In aller Regel erfolgt die Berichterstattung anonym, sodass ein entsprechendes Verbot keine Probleme schafft. Heikel wird es höchstens, wenn der Eindruck entsteht, das Gericht wolle einen Prominenten, eine Person der Zeitgeschichte, mit einem Verbot schützen. Alter: Die Nennung des Alters gehört quasi zum Standardrepertoire der Gerichtsberichterstattung. Es ist vermehrt zu beobachten, dass Verfügungen zunehmend die Angabe des Alters verbieten – vor allem im Zusammenhang mit Sexualdelikten. Diese Einschränkung ist abzulehnen. Grundsätzlich wird eine Person nicht identifizierbar(er), wenn deren Alter bekannt ist. Aber wichtiger: Es ist ein Unterschied, ob ein 65-jähriger Mann vor einem achtjährigen Mädchen onaniert, oder ob ein 20-Jähriger mit seiner noch nicht ganz 16-jährigen Freundin einvernehmlich Petting macht. In beiden Fällen würden die Männer wegen sexuellen Handlungen mit Kindern angeklagt. Die Vermutung ist nicht abwegig, dass der 20-Jährige mit einer vergleichsweise sehr milden Strafe wegkommt. Weil das Alter der Beteiligten ist im konkreten Fall für die Bemessung der Strafe relevant ist, muss das Alter erwähnt werden können, um gegenüber der Öffentlichkeit das Strafmass nachvollziehbar zu machen.

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Beruf: Die Nennung des Berufs ist für Medienschaffende eine willkommene Gelegenheit, nicht immer vom 32-Jährigen oder vom Schweizer sprechen zu müssen. Die Nennung des Berufs kann die Anonymität aber beispielsweise dann gefährden, wenn neben dem Beruf auch das Alter des Beschuldigten und zusätzlich noch sein Wohnort erwähnt wird. Ist der Wohnort die Stadt Zürich reduziert sich diese Gefahr, ist die Ortschaft ein kleiner Flecken mit ein paar hundert Einwohnern erhöht sich die Gefahr. In einem solchen Fall würde man am ehesten die Nennung des Wohnorts verbieten. Dies deshalb, weil der Informationsgehalt von «Beruf» in der Regel höher ist, als der Informationswert «Wohnort». Die Erwähnung des Berufs ist nahezu zwingend, wenn sich beispielsweise ein Arzt dem Vorwurf ausgesetzt sieht, in seiner Praxis eine Schändung begangen zu haben. Auch ein Polizist, der in seiner Freizeit sich der Vereitelung einer Blutprobe und des unerlaubten Entfernens von der Unfallstelle schuldig gemacht hat, darf nicht darauf vertrauen, dass die Medien seinen Beruf verschweigen. Dies trifft ebenso auf den Anstalts-Pfarrer zu, der seine privilegierte Stellung ausnützt, um den Brief eines Untersuchungshäftlings aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Oder auf den Lehrer, der – weil er einen Schüler schlug – wegen einfacher Körperverletzung vor Gericht steht. Wohnort: Wo die Prozessparteien wohnen, ist in der Regel nebensächlich, zumal im Erwachsenenstrafrecht der Tatort den Gerichtsstand bestimmt. Je nach den Umständen kann aber die Wohnsituation eine Rolle spielen, beispielsweise dann, wenn sich die Delikte in einer Sektengemeinschaft ereigneten. Oder dann, wenn der Täter einzig zur Begehung des Delikts von weither anreiste (z. B. Ehrenmord).

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Tatort: Mit einem Tatort sind immer wieder auch Umstände verknüpft, die eine Nennung des Tatorts notwendig machen. Beispiel: der Fall mit dem Park (Rz 34), bei dem es um ein Sexualdelikt ging. Es ist ein Unterschied, ob eine solche Tat in den eigenen vier Wänden oder auf öffentlichem Grund stattfindet. Tendenziell ist im ersten Fall eher von einem Beziehungsdelikt auszugehen, im zweiten Fall eher vom berühmten Unbekannten hinter dem Busch. Zu erwähnen, dass es sich um einen Park in der Stadt Zürich handelt, wäre völlig unproblematisch, weil damit keine Prozesspartei identifizierbar(er) wird. Hier stellen sich ganz andere Fragen: Soll der Name des Parks genannt und damit möglicherweise eine Verunsicherung der Bevölkerung in der Umgebung des Parks riskiert werden? Nur: Kann, respektive darf dieser Gedanke ein Grund für das Gericht sein, Medienschaffenden die Nennung des Parks zu verbieten? Man könnte auch umgekehrt argumentieren, die Nennung des Parks sei sinnvoll, ja notwendig, um die Bevölkerung zu warnen und zu besonderer Wachsamkeit anzuhalten. Beziehung zwischen den Parteien: Dass der Beschuldigte der Vater, der Onkel, der Bruder, der Nachbar, der Schulkollege oder der Götti ist, spielt natürlich eine Rolle. Dieser Umstand allein macht die Prozessparteien nicht identifizierbar(er). Je nach Konstellation kann es aber angezeigt sein, die Erwähnung zusätzlicher spezifischer Informationen zu untersagen.

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Die kurze Auflistung verschiedener möglicher Informationen, die zu einer Identifizierung einer Prozesspartei führen können, und ihre Bedeutung für die mediale Berichterstattung, zeigt dreierlei. Erstens: Es kann keine generelle «Verbotsliste» geben, sondern nur eine, die auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnitten ist. Zweitens: Erst die Kombination mehrerer Informationen erhöht die Gefahr der Identifikation. Drittens: Bei der Abwägung, welche Informationen erlaubt sind, sollte das Gericht – mit quasi journalistischer Brille – die legitimen Bedürfnisse der Medien an einer kohärenten, verständlichen und nachvollziehbaren Berichterstattung berücksichtigen.

6. Welche Strafbestimmungen sind möglich?

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Im erwähnten Berner Fall Rz 32 sind die Medienschaffenden auf Art. 292 aufmerksam gemacht worden. Auch diverse andere Verfügungen von Gerichten anderer Kantone enthalten diese Strafandrohung. Danach wird mit Busse bestraft, «wer der von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten unter Hinweis auf die Strafandrohung dieses Artikels an ihn erlassenen Verfügung nicht Folge leistet». In der in Rz 32 erwähnten «Verpflichtungserklärung» hiess es: «Die Medienschaffenden bestätigen, in der Verfügung betreffend Ausschuss der Öffentlichkeit auf Art. 292 StGB aufmerksam gemacht worden zu sein. Dieser lautet wie folgt: …» Gemäss höchstrichterlicher Rechtsprechung genügt es nicht, wenn «in der Verfügung bloss die Strafbarkeit des Ungehorsams erwähnt oder nur unbestimmt auf die in Art. 292 StGB vorgesehenen Strafen verwiesen wird»[76]. Vielmehr müsse «ausdrücklich angedroht werden», dass eine Widerhandlung gegen die Verfügung mit Busse bedroht wird.

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Grundsätzlich dient der Hinweis auf Art. 292 StGB dazu, die erlassene Verfügung «strafrechtlich abzusichern»[77]. Es ist fraglich, ob die Einschränkung der Berichterstattung durch Auflagen mit der Blankettstrafdrohung[78] nach Art. 292 StGB verbunden werden darf. Meines Erachtens ist das unzulässig. Art. 70 Abs. 3 StPO regelt nur in allgemeiner Weise, dass Medienschaffenden Zutritt gewährt, und dieser Zutritt mit «bestimmten Auflagen» verbunden werden kann. Irgendwelche Strafbestimmungen enthält Art. 70 StPO nicht. Aus nahe liegendem Grund: Gemäss Art. 72 StPO können nämlich Bund und Kantone die Zulassung sowie die Rechte und Pflichten der Medienschaffenden regeln (Hervorhebung durch den Verfasser). Soweit ersichtlich, haben praktisch alle Kantone von dieser Legiferierungskompetenz Gebrauch gemacht. Nach der hier vertretenen Ansicht können nur jene Sanktionen angedroht werden, die in den jeweiligen kantonalen Bestimmungen enthalten sind[79]. Die kantonalen Bestimmungen können im Verhältnis zu Art. 70 StPO als eine Art lex specialis angesehen werden. Die Anwendung von Art. 292 StGB verbietet sich meines Erachtens auch aus einem weiteren Grund: Als Blankettnorm ist Art. 292 StGB nur subsidiär anwendbar, nämlich dann, wenn es keine besonderen Strafbestimmungen gibt, mit denen die Nichtbefolgung der Verfügung geahndet werden kann[80], wenn die Befolgung der Verfügung also bloss «vom guten Willen des Betroffenen»[81] abhängt. Doch die Strafbestimmungen existieren – in den von den Kantonen gestützt auf Art. 72 StPO erlassenen besonderen Bestimmungen über die Rechte und Pflichten von Gerichtsberichterstattenden und den darin aufgeführten Sanktionen[82].

7. Anmerkungen zur Urteilseröffnung

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Art. 70 Abs. 4 StPO regelt die Urteilsverkündung für den Fall, dass die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen wurde. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden. Dass die vorausgehende Verhandlung nicht öffentlich war, ist so irrelevant wie der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Auf dem Hintergrund von Art. 6 Abs. 1 EMRK differenziert das Bundesgericht in konstanter Rechtsprechung zwischen der Verhandlungs- und der Urteilsöffentlichkeit[83]. Auch Oberholzer weist darauf hin: «Die gesetzlich vorgesehenen Beschränkungen der Öffentlichkeit beziehen sich nur auf die Gerichtsverhandlung, nicht aber auch auf die Eröffnung des Urteils»[84]. In einem gerichtlichen Verfahren, bei dem es weder eine öffentliche mündliche Verhandlung noch eine öffentliche Urteilsberatung gegeben habe, bestehe die Öffentlichkeit des Verfahrens gerade darin, dass das Urteil öffentlich verkündet werde, schreibt das Bundesgericht. «Das Gebot der Transparenz hat erhebliche Bedeutung»[85].

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Zwar erlaubt Art. 84 Abs. 3 Satz 2 StPO den Parteien, auf eine öffentliche Urteilsverkündung zu verzichten. Art. 84 gilt aber nur für den Fall, das ein Urteil nicht sofort ergehen kann. Für den Fall, dass die Öffentlichkeit gestützt auf Art. 70 Abs. 1 ausgeschlossen wurde, wäre der Verzicht auf eine öffentliche Urteilsverkündung gemäss Art. 84 Abs. 3 Satz 2 StPO «systemwidrig, weil dann eine Öffentlichkeitskontrolle gänzlich unterbliebe»[86]. Arquint hält fest: «Wird der Grundsatz des Öffentlichen Verfahrens auch als institutionelle Ausgestaltung und weniger als subjektives Recht begriffen, bestehen verfassungs- und konventionsrechtlich Bedenken gegenüber einem solchen Vorgehen.» Jedenfalls seien bei einem Verzicht auf mündliche öffentliche Urteilsverkündung «die entsprechenden Surrogate für die Herstellung der Öffentlichkeit zu beachten»[87].

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Anstelle einer mündlichen öffentlichen Urteilsverkündung kann die Öffentlichkeit gemäss Art. 70 Abs. 4 StPO auch «in anderer geeigneter Weise über den Ausgang des Verfahrens» orientiert werden. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesgerichts[88]. Die weiteren Formen der Bekanntgabe – wie beispielsweise die öffentliche Auflage, die Publikation in amtlichen Sammlungen, Bekanntgabe über das Internet, Einsichtnahme auf der Gerichtskanzlei – seien »nicht subsidiär, sondern angesichts der Zweckausrichtung gleichwertig zur öffentlichen Verkündung»[89]. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) betont das Bundesgericht, dass «eine vollständige Geheimhaltung des Urteils auch bei Vorliegen sehr gewichtiger Interessen mit dem Öffentlichkeitsgebot nicht vereinbar»[90] sei. Deshalb würden sich auch Anträge, es sei auf eine Orientierung der Medien und der Öffentlichkeit über das Urteil gänzlich zu verzichten, «von vornherein als unzulässig» erweisen.

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Wurden Öffentlichkeit und Medien von der Gerichtsverhandlung ausgeschlossen, stellt sich deshalb regelmässig die Frage, in welcher Form das Gericht über den Ausgang des Verfahrens orientiert. Gerade weil das Verfahren unter Ausschluss stattfand, ist die Urteilsverkündung laut Bundesgericht «in erster Linie für nicht direkt am Verfahren beteiligte Dritte von Bedeutung». Insofern sei «von einem gesteigerten öffentlichen Interesse an der Kenntnisnahme des Verfahrensausgangs auszugehen»[91]. Entschliesst sich das Gericht zu einer mündlichen, mindestens medienöffentlichen Urteilseröffnung, ist den soeben erwähnten besonderen Umständen Rechnung zu tragen: «Die Urteilsverkündung darf sich nicht auf das Vorlesen des Urteilsspruchs beschränken, ansonsten der Zweck der Justizöffentlichkeit seines Gehalts beraubt würde. Vielmehr obliegt es den Richtern, das Dispositiv angemessen zu begründen und insbesondere den Frei- oder Schuldspruch und die damit verbundene Sanktion zu erläutern, damit die Medien ihre Wächterfunktion wahrnehmen können[92]

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In den – nach dem bisher Ausgeführten – wohl eher seltenen Fällen, in denen Öffentlichkeit und Medien auch von der Urteilseröffnung ausgeschlossen wurden, kann das Gericht über den Ausgang des Verfahrens selbstverständlich auch in Form einer Medienmitteilung informieren. Dazu hatte sich auch das Zürcher Obergericht im Fall entschlossen, der dem Urteil BGE 143 I 194 zugrunde lag. Die in der anonymisierten Medienmitteilung gemachten Ausführungen beschränkten sich laut Bundesgericht im Wesentlichen auf eine kurze Wiedergabe der groben Tatumstände, des Schuldspruchs sowie der als erwiesen erachteten Tatbeiträge und Tatbestandsmerkmale. Diese Darlegungen blieben «mit Blick auf ihre Dichte deutlich hinter den Erörterungen zurück, mit denen an einer Berufungsverhandlung gerechnet werden kann, und sie vermögen auch den Erläuterungen an einer mündlichen Urteilsverkündung nicht gerecht zu werden»[93].

8. Noch ein Wort zum «Gesetzeswächtertum»

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Wer sich längere Zeit mit Strafprozessen beschäftigt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als befinde sich das Prinzip der Justizöffentlichkeit auf dem Rückzug. Viele Öffnungen mussten vor Bundesgericht von Medienschaffenden erstritten werden – sei es der Stellenwert der Gerichtsberichterstattung (BGE 129 III 531), das Einsichtsrecht nach Verfahrenseinstellung nach Art. 53 StGB (BGE 137 I 16), der ungehinderte Zugang zu Verhandlungen nach Art. 69 StPO (BGE 137 I 209) oder die aktuelle Rechtsprechung zu Art. 70 StPO (BGE 143 I 194). Es ist natürlich nicht zu übersehen, dass die Bedeutung des Persönlichkeitsschutzes in den letzten Jahrzehnten stetig zugenommen hat, während auf der anderen Seite Medien, oder mindestens ein Teil der Medien, nichts unversucht lassen, Gegensteuer zu geben.

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Am 12. Oktober 1919 (sic) veröffentlichte Hans Felix Pfenninger, damals Privatdozent, später Professor und während 54 Jahren Verfasser von Beiträgen in der SJZ, in der NZZ einen Artikel unter dem Titel «Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung und die Presse». Darin betont er, dass der Kanton Zürich seit 1853 eine Rechtspflege besitze, «die im schroffen Gegensatz zur Heimlichkeit des Inquisitionsprozesses dem Grundsatz der Öffentlichkeit huldigt»[94]. Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen gehöre zu den «unerschütterlichen Grundsätzen unserer Rechtspflege», welche ein «Gesetzeswächtertum» durch das Publikum erst ermögliche.

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Pfenninger schreibt: «Die Bedeutung der Pressöffentlichkeit für die Strafrechtspflege und die Verbrechensbekämpfung überhaupt wird zunächst beeinträchtigt durch die Tatsache, dass auch das ausführlichste Zeitungsreferat den wirklichen Verlauf einer Gerichtsverhandlung nur lückenhaft wiederzugeben vermag und dass sich überdies mit Ausnahme seltener Sensationsprozesse die Berichterstattung aus den Gerichtsälen auf die nackte Tatbestandswiedergabe zu beschränken pflegt, während gerade umgekehrt die Schilderung des Verfahrens und Kritik des Urteils notwendige Bestandteile einer Berichterstattung sein müssten, die nicht dem Sensationshunger der Menge, sondern der Beaufsichtigung und Verbesserung der Strafrechtspflege dienen soll. Dieser Zweck wäre aber auch bei Wegfall der genannten Beschränkung nur dann erreichbar, wenn die Gerichtsberichterstatter unserer Tagespresse wirklich fähig wären, das psychologisch und juristisch Wesentliche eines Verbrechenstatbestandes zu erfassen und wiederzugeben. (…) Es zeigt aber die tägliche Erfahrung, dass man bei unserer zeitgenössischen Gerichtsberichterstattung – seltene Ausnahmen abgerechnet – zufrieden sein muss, wenn wenigstens der Tatbestand einwandfrei wiedergegeben wird. (…)» Wenn man Pfenningers Zeilen liest, entsteht unweigerlich der Eindruck, der Herr Professor habe sich erst in den letzten Jahren in den Gerichtssälen der Schweiz umgesehen und die Gerichtsberichterstattung heutiger Medien analysiert. Es ist für die heutigen Gerichtsberichterstattenden weder Trost noch Rechtfertigung, dass bereits vor 100 Jahren die «Pressöffentlichkeit» laut Pfenninger «in ihren Wirkungen (…) als moderner Ersatz der mittelalterlichen Prangertafeln aufgefasst werden kann, die sie überdies an Intensität weit übertrifft».

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Bei Margrit Sprecher, der grossen, alten Dame der Schweizer Gerichtsberichterstattung liest sich das so: «Heute interessieren nur noch die spektakulären Fälle mit ihrem Mix aus Sex, Gewalt und Geld. Dann freilich fallen die Medien gleich zu Hunderten in die Justizpaläste ein, schwingen kriegerisch Mikrofonstangen und Kamerastative und betrachten die Richter als Lieferanten von Skandalstorys mit Unterhaltungswert. Diese Boulevardisierung bleibt nicht ohne Wirkung auf das Ansehen unserer Gilde. Hauptamtliche Schweizer Gerichtsberichterstatter kann man inzwischen an einer Hand abzählen. Nachwuchs ist kaum in Sicht. Denn das strebsame Jungtalent lernt rasch: Mit Gerichtsreportagen macht es keine Karriere. … Kein Wunder, sitzt Jahr für Jahr eine neue Riege junger California-Blondinen und smarter Jünglinge, häufig Volontäre, in den Medienbänken. Doch Anfänger tun sich schwer damit, einen Fall in einen historischen oder analytischen Zusammenhang zu stellen. Schwierig zu fassende juristische Verästelungen, aufkommende Zweifel oder Unklarheiten kippen sie lieber gleich vom Bildschirm. Erstens stören sie den glatten Lauf der Story, zweitens sind sie gefürchtete Fehlerquellen, und wer will sich schon mit mangelndem juristischem Know-how blamieren? Da solch ausgedünnte Berichte immer nichtssagender werden, publizieren inzwischen viele Lokalzeitungen – kürzer und billiger – nur noch das reine Strafmass. Vielen Richtern ist’s recht. Sie haben von der Gerichtsberichterstattung nie viel gehalten – und die jüngste Entwicklung bestätigt ihre Ansicht. Entweder sie wollen gar keine Aufpasser im Saal. Oder sie halten sich – besonders in kleineren Orten – einen Journalisten, auf den Verlass ist. Man kennt sich, und dies seit Jahren. Ist in der gleichen Partei. Trifft sich beim Reiten oder Jassen im Rössli»[95].

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Auch wenn Frau Sprecher ein arg düsteres Bild zeichnet, treffen ihre Beobachtungen im Kern zu. Dies alles kann und darf kein Grund sein, eine missliebige Medienöffentlichkeit in Missachtung fundamentaler Rechte von einer Verhandlung auszuschliessen, oder ihr Einschränkungen aufzuerlegen, die weder durch ein öffentliches Interesse noch durch den legitimen Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sind. Im optimalen Fall ermöglicht es das Prinzip der Justizöffentlichkeit Drittpersonen, eben nicht nur nachzuvollziehen, wie gerichtliche Verfahren geführt werden, wie das Recht verwaltet, und die Rechtspflege ausgeübt wird. Es schafft dank der Transparenz auch die Grundlage für das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit[96]. Oder wie es Hans Felix Pfenninger vor fast 100 Jahren formulierte: «Will sich die Rechtspflege im Vertrauen des Volkes behaupten, muss sie dem Beispiel jenes vornehmen Römers folgen, der sich ein allen durchsichtiges Haus mitten auf dem Forum erbauen wollte, um sein ganzes Leben der Kontrolle der Volksgemeinschaft zu unterstellen»[97].


Fussnoten:

  1. Thomas Hasler, Jg. 1959, hat als Gerichtsreporter des «Tages-Anzeigers» in 30 Jahren über mehr als 2000 Strafprozesse berichtet. Der promovierte Politologe ohne juristische Ausbildung ist neben seiner journalistischen Tätigkeit auch Dozent an der Schweizer Journalistenschule MAZ und Lehrbeauftragter an der Schweizerischen Richterakademie im Modul «Justiz und Öffentlichkeit».

  2. Die im folgenden Beitrag erwähnten Beschlüsse oder Verfügungen liegen dem Autor im Original vor. Auf die Nennung des Gerichts wird verzichtet, weil es dem Autor um grundsätzliche Fragen geht und nicht darum, ein Gericht an den Pranger zu stellen. Die Gerichtsinstanz wird dort erwähnt, wo der Entscheid öffentlich zugänglich ist.

  3. Entscheide über den Ausschluss ergehen in Form eines Beschlusses, wenn von einer Kollektivbehörde gefällt, oder in Form einer Verfügung, wenn von einer Einzelperson gefällt. Der Einfachheit halber wird im Folgenden nur der Begriff «Verfügung» verwendet. Es ist auch die in unserem Zusammenhang am häufigsten verwendete Entscheidungsform. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt, aber nicht weiter vertieft werden, dass es etwas seltsam anmutet, dass vor der Hauptverhandlung erlassene Verfügungen durch das Kollegialgericht von Amtes wegen oder auf Antrag geändert oder aufgehoben werden können (Art. 65 Abs. 2 StPO), das gleiche aber für Beschlüsse offenbar nicht möglich sein soll.

  4. Wenn im Folgenden von «Ausschluss der Öffentlichkeit» die Rede ist, ist der Ausschluss der Bevölkerung gemeint. Ist der Ausschluss von (akkreditierten) Medienschaffenden mitgemeint, wird dies explizit erwähnt. Dass zwischen «normaler» Öffentlichkeit und Medien unterschieden werden darf, hat das Bundesgericht schon 1991 festgestellt (BGE 117 Ia 387) und hat seinen Niederschlag auch in Art. 70 Abs. 3 StPO gefunden.

  5. In BGE 137 I 216, E. 4.10 hielt das Bundesgericht fest: «Die unnötige Verletzung oder Blossstellung von Prozessbeteiligten ist unter keinem Gesichtspunkt zu rechtfertigen. Es reicht nicht aus, den Verletzten auf seine zivilrechtlichen Ansprüche gegen den Täter zu verweisen. Der Staat selbst hat einer Verletzung teil, wenn er diese während oder im Anschluss an die Verhandlung duldet.»

  6. BSK-StPO-Saxer/Thurnheer (2014), N 17 zu Art. 70 StPO

  7. Donatsch, Hansjakob, Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), 2. Auflage, N 8f. zu Art. 70 StPO

  8. Schmid/Jositsch (2017), Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, N 283

  9. Am Obergericht des Kantons Zürich ist aktuell (Stand: Ende April) die Beschwerde eines Bürgers hängig, der sich gegen den Ausschluss der Öffentlichkeit von einem Strafprozess wendet. Bevor die Popularbeschwerde materiell behandelt werden kann, ist die (offenbar nicht ganz einfache) Frage zu beantworten, wer für die Beschwerde überhaupt zuständig ist.

  10. statt vieler: BGE 143 I 194, E. 3.1; 139 I 129, E. 3.3

  11. Bekannt wurde der Fall eines Zürcher Topmanagers, der wegen sexueller Nötigung und Amtsanmassung vor Gericht stand, und zu dessen Gunsten die Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde, wobei die Medienvertreter mit ungewöhnlich weitreichenden Auflagen konfrontiert waren. Das Bundesgericht in Lausanne wies die Beschwerde eines Sohnes einer Magistratsperson ab, der sich gegen die Zulassung der Medien zu seinem Strafprozess wehrte .

  12. Schmid/Jositsch (a.a.O.), N. 272

  13. Botschaft des Bundesrats zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006, Seite 1153

  14. Die Weigerung, betroffenen Medienschaffenden die entsprechende Verfügung auszuhändigen, verletzt Art. 3 Abs. 2 lit c StPO. Danach haben die Strafbehörden alle Verfahrensbeteiligten gleich und gerecht zu behandeln und ihnen rechtliches Gehör zu gewähren.

  15. Im Beschluss der III. Strafkammer vom 31. März 2015 (UH140149, nachfolgend: Beschluss) hat das Zürcher Obergericht die Beschwerde von Seiten der Medien für grundsätzlich zulässig erklärt (E. 1.4, Seite 6).

  16. Ebenso Schmid/Jositsch (a.a.O.), N 641, anderer Meinung: Donatsch et. al., N 10 zu Art. 105 StPO.

  17. BSK StPO-Küffer, N 31 zu Art. 105 StPO

  18. Art. 28 Abs. 4 StGB

  19. Guidon Patrick, Die Beschwerde gemäss Schweizerisches Strafprozessordnung, Diss. Bern 2011, N 247

  20. BGE 136 I 229, E. 3.2

  21. BGer-Urteil 1C_332/2008 vom 15. Dezember 2008, E. 1.2

  22. BGer-Urteil 1B_134/2011 vom 14. Juli 2011, E. 2.1 (nicht publiziert in BGE 137 I 209)

  23. Beschluss (a.a.O.), E. 1.3, Seite 6

  24. «Für den Angeschuldigten bedeutet jedes öffentliche, vor … Pressevertretern durchgeführte Gerichtsverfahren eine öffentliche Blossstellung. … Der Angeschuldigte wird darin oftmals eine zusätzliche Anprangerung und Demütigung empfinden und Nachteile für sein späteres Fortkommen befürchten. Solche Unannehmlichkeiten sind angesichts der hohen rechtsstaatlichen Bedeutung des Öffentlichkeitsprinzips grundsätzlich in Kauf zu nehmen» (BGE 119 Ia 99, E. 4b).

  25. BSK StPO-Hauri, N 19 zu Art. 339 StPO

  26. ebenda, N 21 zu Art. 339 StPO

  27. Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts (2013), N 1510

  28. BGer-Urteil 1B_134/2011 vom 14. Juli 2011, E. 1.4

  29. Schmids Lehrmeinung wird übrigens nicht überall geteilt. Sie sei zwar sachlich nachvollziehbar, meint Jent im Basler Kommentar zur StPO. Sie setze sich aber seines Erachtens «sowohl über den klaren Wortlaut des Gesetzes in Art. 393 Abs. 1 lit b als auch über die grundlegende gesetzgeberische Konzeption von Art. 65 hinweg.» (BSK StPO-Jent, N4 zu Art. 65 StPO, ebenso BSK StPO-Stephenson/Thiriet, N 13 zu Art. 393 StPO). Es gibt noch einen weiteren Grund, der gegen Schmids Unterscheidung spricht: Dass verfahrensleitende Entscheide, von im Gesetz selber vorgesehenen Ausnahmen abgesehen, nur mit dem Endentscheid anfechtbar sind, soll der Verfahrensökonomie und der Verfahrensbeschleunigung dienen. Die Zulassung von materiell-prozessleitenden Entscheiden zur unmittelbaren Beschwerde aber hemmt das Verfahren und könnte im Extremfall dazu führen, dass schwerwiegende Delikte verjähren, weil nicht rechtzeitig ein erstinstanzliches Urteil vorliegt.

  30. BGE 125 I 394, E. 4a

  31. BGE 118 IV 67, E. 1d; 127 I 164, E. 1a

  32. Beschluss (a.a.O.), E. 2.3, Seite 8

  33. Das Zürcher Obergericht führt jeden Monat einen Medienstamm durch, bei dem unter anderem über die anstehenden Fälle des Folgemonats informiert wird. Dabei werden – teilweise schon Monate im Voraus, d.h. sobald der Termin der Berufungsverhandlung feststeht – auch Beschlüsse und Verfügungen über die Beschränkung der Öffentlichkeit abgegeben.

  34. BGE 143 I 194, E. 3.3

  35. Schmid, Praxiskommentar 2011, N 4 zu Art. 80 StPO

  36. ebenso Beschluss (a.a.O.), E. 1.2, Seite 5. Damit ist auch offensichtlich, dass es unzulässig ist, die Öffentlichkeit auszuschliessen, ohne dass dazu ein schriftlich begründeter Entscheid vorliegt, wie in einem Fall im Kanton St. Gallen geschehen. Auf die telefonische Bitte hin, mir die Verfügung zuzustellen, wurde mir beschieden, es gebe nichts Schriftliches. Das sei auch noch nie verlangt worden.

  37. Eine Beschwerde des Schreibenden hat das Obergericht mit Beschluss vom 19. April 2018 (UH180017) gutgeheissen. Es hob die Verfügung auf. Die in Art. 80 Abs. 2 StPO statuierten Vorschriften, bei denen es sich nicht bloss um Ordnungs-, sondern um Gültigkeitsvorschriften handle, seien «klar verletzt. Es liegt sowohl ein Verstoss gegen die Formvorschriften als auch ein Verletzung der Begründungspflicht und damit des rechtlichen Gehörs vor». Die Sache geht zur neuen Entscheidung und Begründung an die erste Instanz zurück (a.a.O., E. 3 und 4, S. 5f.).

  38. BSK StPO-Saxer/Thurnheer (a.a.O.), N 2 zu Art. 70 StPO; Schmid/Jositsch (a.a.O.), N 272;

  39. Zuberbühler, Geheimhaltungsinteressen und Weisungen der Strafbehörden an die Verfahrensbeteiligten über die Informationsweitergabe im ordentlichen Strafverfahren gegen Erwachsene (Diss. 2011), N 155

  40. ebenda, N 157

  41. BGE 139 I 129, E. 3.3

  42. Ob bei Medienschaffenden auch die Informationsfreiheit nach Art. 16 Abs. 3 betroffen ist, kann laut Bundesgericht dahingestellt bleiben, weil die Voraussetzungen für deren Einschränkung dieselben sind, wie bei der Medienfreiheit (BGE 141 I 211, E. 3.1)

  43. BGE 143 I 194, E. 3.1

  44. Beispiele dafür finden sich in BGE 143 I 194, E. 3.3

  45. BGE 141 I 211, E. 3.1

  46. BGE 143 I 194, E. 3.4.2f. Vom Verzicht auf öffentliche Urteilsverkündung soll allerdings nur «ausnahmsweise» Gebrauch gemacht werden (Botschaft (a.a.O.), Seite 1153

  47. BGE 143 I 194, E. 3.1

  48. BGE 117 Ia 387, E. 3

  49. BGE 137 I 16, E. 2.2

  50. BGE 141 I 211, E. 3.1

  51. BGE 129 III 531, E. 3.2

  52. Zuberbühler (a.a.O.), N 161

  53. Zum Beispiel kann «grosser Andrang» gemäss Art. 70 Abs. 1 lit. b StPO ein Ausschlussgrund sein.

  54. BGE 137 I 16, E. 2.2

  55. BSK StPO-Saxer/Thurnheer (a.a.O.), N 13 zu Art. 70 StPO

  56. BGer-Urteil 6B_350/2012 vom 18. Februar 2013, E. 1.6

  57. ebenda, E. 1.7

  58. ebenda, auch BGE 121 I 30, E. 5j. Dass eine entsprechende Beschwerde von Medienschaffenden mit der gleichen Konsequenz gutgeheissen würde, ist illusorisch. In BGE 143 I 194, E. 3.6.3 und 3.8 hielt das Bundesgericht immerhin fest, der Ausschluss der Medien aus der Gerichtsverhandlung als auch der Ausschluss aus der Urteilseröffnung habe gegen das Justizöffentlichkeitsgebot sowie gegen die Medien- und Informationsfreiheit verstossen. Dies sei «im Sinne einer Wiedergutmachung im Dispositiv festzustellen». Und deshalb sei – auch dies als Geste der Wiedergutmachung – den akkreditierten Medienschaffenden auf deren Wunsch hin «das vollständige begründete Urteil in anonymisierter Form auszuhändigen».

  59. ebenda, E. 1.7

  60. Botschaft (a.a.O.), Seite 1153; Donatsch (a.a.O.), N 4 zu Art. 70 StPO; BSK StPO-Saxer/Thurnheer (a.a.O.), N 10 zu Art. 70 StPO

  61. BSK StPO-Saxer/Thurnheer (a.a.O.), N 10 zu Art. 70 StPO

  62. Dass ein Teilausschluss sogar unter erschwerten Bedingungen funktioniert, zeigte ein erstinstanzliches Gericht, vor dem sich ein Mann an mehreren Tagen wegen eines Tötungs- und eines Sexualdelikts zu verantworten hatte. Ging es um das Sexualdelikt, wurde die Publikumsöffentlichkeit jeweils vorübergehend ausgeschlossen, ging es um das Tötungsdelikt, war die Öffentlichkeit wieder zugelassen.

  63. siehe FN 11

  64. Anfrage von Mattea Meyer und Céline Widmer betreffend «Persönlichkeitsschutz für alle statt für wenige», KR-Nr. 49/2013

  65. siehe FN 24

  66. Donatsch(a.a.O.) N 5 zu Art. 70 StPO

  67. Schmid/Jositsch (a.a.O.), N 275; BSK StPO-Saxer/Thurnheer (a.a.O.), N 9 zu Art. 70 StPO

  68. BGE 143 I 194, E. 3.6.1

  69. Schmid/Jositsch (a.a.O.), N 283

  70. BSK StPO-Saxer/Thurnheer, N 20 zu Art. 70 StPO

  71. ebenda, N. 19 zu Art. 70 StPO

  72. BSK StPO-Saxer/Thurnheer (a.a.O.), N 22 zu Art. 70 StPO

  73. Zuberbühler (a.a.O.), N 164

  74. Donatsch et. al. (a.a.O.), N 7 zu Art. 73 StPO

  75. FN 31

  76. BGE 124 IV 312

  77. BSK StPO-Saxer/Thurnherr (a.a.O.), N 22. Die Autoren berufen sich dabei auf die Dissertation (2013) von M. Michlig, Öffentlichkeitskommunikation. Es gelang mir innert nützlicher Frist nicht, die Arbeit erhältlich zu machen, sodass ich seine Argumente quasi mit Nichtwissen infrage stelle.

  78. Trechsel/Vest, in Trechsel/Pieth (Hrsg.), StGB PK, 2. Aufl., N 1 zu Art. 292 StGB

  79. So werden Medienschaffende beispielsweise in §12 Abs. 2 der Akteneinsichtsverordnung der obersten Gerichte des Kantons Zürich (LS 211.15) an ihre Pflicht erinnert, «auf die schutzwürdigen Interessen der Prozessparteien gebührend Rücksicht zu nehmen». Bei «Verstössen gegen die Pflichten» sind drei Sanktionsformen möglich: Verwarnung, Suspendierung für längstens drei Monate sowie Entzug der Zulassung für ein Jahr oder bis zu drei Jahren.

  80. BGE 105 IV 248, E. 1

  81. Trechsel/Vest (a.a.O.), N 1 zu Art. 292 StGB

  82. Nicht näher thematisiert werden soll in diesem Zusammenhang die Frage, ob Medienschaffende – rechtlich betrachtet – überhaupt Adressat einer Ausschluss-/Auflagen-Verfügung sind, und damit ins Recht gefasst werden können, da sie im Rubrum der Verfügung gar nicht auftauchen. Trechsel/Vest (a.a.O., N 2 zu Art. 292 StGB) gehen von einem echten Sonderdelikt aus: Täter könne nur der Adressat der Verfügung sein.

  83. z. B.: BGE 124 IV 239, E. 3c: Die Parteien können auf eine öffentliche Urteilsverkündung weder verzichten, noch diese ausschliessen, denn der Anspruch steht nicht nur ihnen, sondern auch der Öffentlichkeit zu.

  84. Oberholzer (a.a.O.), N 67

  85. BGE 133 I 106, E. 8.3

  86. BSK StPO Saxer/Thurnheer (a.a.O.), N 24 zu Art. 70 StPO

  87. BSK StPO-Arquint (a.a.O.), N 8 zu Art. 84 StPO

  88. BGE 139 I 129, E. 3.3

  89. BGE 143 I 194, E. 3.4.3

  90. ebenda

  91. BGE 143 I 194, E. 3.4.3 und 3.7

  92. ebenda

  93. BGE 134 I 194, E. 3.8. Im erwähnten Fall hatte das Obergericht im Vergleich zur erstinstanzlichen Verhandlung die rechtliche Qualifikation verschärft und die Strafen erhöht. Welche Beweggründe dafür ausschlaggebend waren, liess sich der Medienmitteilungen nicht entnehmen.

  94. zum Ganzen, auch nachfolgend: NZZ vom 12. Oktober 1919, Nr. 1563 Drittes Blatt

  95. Tages-Anzeiger, 8. Februar 2011, Seite 8

  96. BGE 139 I 129, E. 3.3

  97. siehe FN 93

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