Chilling effect im Schweizer Medienkontext

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte steckt den Weg nach Strassburg ab

Michael Schweizer, Dr. iur., Fürsprecher[1]

Résumé: Sur la base de deux exemples de cas suisses, l’auteur examine la compréhension qu’a la Cour européenne des droits de l’homme (CEDH) de Strasbourg du «chilling effect» (effet dissuasif) dans le contexte des médias. Il montre sa double signification: en tant que condition à la recevabilité et en tant qu’aspect important lors de l’évaluation sur le fond. Les mesures contre les médias et les journalistes fondées sur le droit pénal, en particulier les exceptions à la protection des sources, ouvrent régulièrement la voie à un recours auprès de la CEDH. Il en va de même pour les mesures de droit civil et de droit public qui impliquent des dommages-intérêts ou des inconvéniants similaires pour les médias et les journalistes. Par contre, la situation juridique de départ n’est pas claire dans les jugements sur des actions en constatation de droit tels que ceux rendus par l’Autorité indépendante d’examen des plaintes en matière de radio-télévision. Selon un arrêt récent, des circonstances qualifiantes sont nécessaires pour qu’un «chilling effect» suffisamment concret soit reconnu.

Zusammenfassung: Der Autor untersucht, ausgehend von zwei Schweizer Fallbeispielen, das Strassburger Verständnis des Chilling effect im Kontext der Medien. Dabei zeigt er dessen doppelte Bedeutung als Zulässigkeitsvoraussetzung sowie als wichtiger Aspekt bei der materiellen Beurteilung auf. Strafrechtlich begründete Massnahmen gegen Medien(schaffende), insbesondere die Aufhebung des Quellenschutzes, öffnen regelmässig den Weg für eine Beschwerde beim EGMR. Dasselbe gilt für zivil- und öffentlich-rechtliche begründete Massnahmen, die mit Schadenersatz oder vergleichbar handfesten Nachteilen für Medien(schaffende) verbunden sind. Unklar ist die Ausgangslage bei Feststellungsurteilen, wie sie im Rahmen der Schweizer Programmaufsicht regelmässig ergehen. Gemäss einem neueren Urteil sind qualifizierende Umstände erforderlich, damit sich ein hinreichend konkreter Chilling effect entfaltet.

I. Einleitung

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Innerhalb eines Jahres nur hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Zugang zum Gerichtshof für Schweizer Medien(schaffende) abgesteckt. Einmal war das Tor zur Strassburger Instanz weit geöffnet. Ein andermal blieb es verschlossen. Grosse Aufmerksamkeit erfuhr die kürzlich an die Adresse der Schweiz erteilte Rüge, weil einer Medienschaffenden ein Zeugnisverweigerungsrecht zu Unrecht aberkannt wurde.[2] Dagegen blieb ein Entscheid von November letzten Jahres, der ebenfalls Schweizer Medien betraf, unter dem Radar der grossen Öffentlichkeit. Das ist auch nicht weiter erstaunlich. Der Gerichtshof ist auf eine Beschwerde in Zusammenhang mit einem Entscheid der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen gar nicht erst eingetreten.

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Die parallele Betrachtung dieser beiden Schweizer Fälle ermöglicht nebenbei jedoch praktische Erkenntnisse zum Aspekt der abschreckenden Wirkung von behördlichen Massnahmen – gerade auch mit Blick auf spezifische Gegebenheiten in der Schweiz. Wann liegt ein sogenannter Chilling effect im Sinne der Strassburger Praxis vor? Und wann wird die Hürde für eine materielle Beurteilung nach Art. 10 EMRK nicht erreicht – selbst wenn indirekte und einschränkende Auswirkungen auf die Medienarbeit denkbar bleiben? Die beiden Fälle zeigen dies beispielhaft und in die je entgegengesetzte Richtung.

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Der vorliegende Beitrag untersucht deshalb ausgehend von den beiden Schweizer Fallbeispielen das Strassburger Verständnis des Chilling effect im Kontext der Medien. Dabei macht er die doppelte Bedeutung des Chilling effect als Zulässigkeitsvoraussetzung sowie als wichtiger Aspekt bei der materiellen Beurteilung eines Eingriffs in die nach Art. 10 EMRK geschützte Meinungsäusserungsfreiheit plastisch. Dies soll für zukünftige Fälle Aufschluss darüber geben, ob das Tor zur Strassburger Instanz offensteht, oder ob die Beschwerde womöglich an den Zulässigkeitsvoraussetzungen zu scheitern droht.

II. Grundrechtlicher Schutz der Meinungsäusserungsfreiheit und Chilling effect

1. Zu Art. 10 EMRK

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Art. 10 der vom Europarat verabschiedeten Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK[3]) schützt, wie auch die Bundesverfassung, die Informationsfreiheit und die Freiheit der Meinungsäusserung. Die Meinungsfreiheit ist dabei ebenso umfasst wie die Freiheit, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe zu empfangen und weiterzugeben. Auch wenn nicht explizit erwähnt, umfasst der Schutz praxisgemäss auch die Verbreitung von Informationen und Meinungen von allgemeinem Interesse über die Presse sowie über audiovisuelle und andere elektronische Medien.[4] Im Gegensatz zur EMRK schützt die Schweizer Bundesverfassung die Medienfreiheit in Art. 17 und Art. 93 BV explizit. Der Meinungs- und Informationsfreiheit nach Art. 16 BV kommt im Schweizer Verfassungsrecht die Rolle des subsidiären Auffanggrundrechts zu.[5]

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Die EMRK stellt in der Schweiz unmittelbar geltendes Recht dar. Mit der Unterzeichnung hat die Schweiz die materiellen Garantien und den Durchsetzungsmechanismus übernommen. Konkret sieht die EMRK als Kontrollinstanz den ständigen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg vor (nachfolgend EGMR oder Gerichtshof). Gemäss Art. 19 ff. EMRK erlaubt dies jeder natürlichen und juristischen Person nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs, eine Individualbeschwerde wegen Verletzung der Konvention einzureichen. Aus der EMRK ergibt sich für die Schweiz zudem die Pflicht, im Nachgang zu den Urteilen des Gerichtshofs die jeweils erforderlichen individuellen und allgemeinen Massnahmen zu treffen, um künftige Konventionsverletzungen zu verhindern. Im Rahmen der Rechtsanwendung ist der Inhalt der verfassungsrechtlich garantierten Kommunikationsgrundrechte mit Rücksicht auf Art. 10 EMRK und der dazugehörigen Rechtsprechung auszulegen.[6]

2. Von direkten Eingriffen in Art. 10 EMRK zum Chilling effect

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In die Informations- und Meinungsfreiheit wird eingegriffen, wenn staatliche Massnahmen Inhalte und deren Verbreitung präventiv oder repressiv unmittelbar beeinflussen, was in der Bundesverfassung im Zensurverbot von Art. 17 Abs. 2 auch explizit zum Ausdruck kommt. Dazu zählen zum Beispiel ein Publikationsverbot, das Verbot, eine öffentliche Einrichtung zu filmen, eine bestimmte Person zu interviewen[7], oder auch die Verweigerung einer Frequenzzuteilung[8]. Auch eine systematische behördliche Inhaltskontrolle ist verpönt.[9] Grundrechtliche Eingriffe können sich aber auch daraus ergeben, dass der Staat die Meinungsäusserung von prohibitiven Formalitäten oder anderen Voraussetzungen abhängig macht, oder diese mit Sanktionen zivil-, straf- oder öffentlich-rechtlicher Natur belegt.[10]

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Entsprechend fliessend ist der Übergang von direkten Eingriffen zu staatlichen Massnahmen, die indirekt in die nach Art. 10 EMRK geschützten Rechte eingreifen. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn solche Massnahmen mit Blick auf allfällige künftige Meinungsäusserungen eine abschreckende Wirkung entfalten.[11] Das bedeutet im Falle von Medienschaffenden, dass sie sich aufgrund einer behördlichen Massnahme Zurückhaltung auferlegen oder gar nicht mehr wagen, ein bestimmtes Thema von allgemeinen Interessen ein weiteres Mal in vergleichbarer Weise anzusprechen. Dieser Effekt wird in Gerichtspraxis und Lehre als Effet dissuasif oder Chilling effect bezeichnet.[12] Die Lehre erklärt den Chilling effect bisweilen auch als staatliche Massnahme, die über eine psychologische Motivationskette in die Grundrechte eingreift.[13] Freilich ist beispielsweise auch ein vorsorgliches Publikationsverbot geeignet, einen Chilling effect auf die Betroffenen wie auf andere Medienschaffende zu entfalten. Jedoch schränkt ein Publikationsverbot an sich die Ausübung der Meinungsäusserungsfreiheit bereits direkt ein.

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In der Schweiz fand der Chilling effect vorab in seiner Wirkung Eingang in die bundesgerichtliche Rechtsprechung; sinnigerweise in Zusammenhang mit den Grenzen zulässiger anwaltschaftlicher Kritik gegenüber den Behörden der Rechtspflege. Das Bundesgericht hob eine Ordnungsbusse auf, die einem Anwalt wegen «unanständigen Benehmens» gegenüber Gerichtsexperten sowie Mitgliedern der Behörden der Strafrechtspflege auferlegt worden war. Es wies dabei auf Pflicht und Recht einer anwaltschaftlichen Vertretung hin, Missstände aufzuzeigen und Verfahrensmängel zu rügen. «Wenn dem Anwalt unbegründete Kritik verboten ist, so kann er auch eine allenfalls begründete nicht mehr gefahrlos vorbringen. Die Wirksamkeit der Kontrolle der Rechtspflege wäre damit in Frage gestellt.» Pflichtwidrigkeiten seien deshalb nur dann anzunehmen, wenn die Vorbringen der Anwaltschaft wider besseres Wissen oder in ehrverletzender Form erfolgen.[14] Später hat der Chilling effect freilich auch als Begriff Eingang in die Schweizer Rechtsprechung gefunden, namentlich auch in Zusammenhang mit der Meinungs- und Medienfreiheit.[15] Da vorliegend der Chilling effect als Zulässigkeitsvoraussetzung und Beurteilungskriterium des EGMR thematisiert wird, konzentriert sich der Beitrag auf dessen Darlegung anhand der Strassburger Praxis.

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Der Chilling effect kann sich in seiner Wirkung wiederum direkt oder indirekt entfalten. Wenn Medienschaffende aus Angst vor konkret drohenden Massnahmen wie Publikationsverboten, Bussen oder Schadenersatzzahlungen den Inhalt geplanter redaktioneller Publikationen anpassen, wirkt der Chilling effect direkt auf die Meinungsäusserung. Die staatliche Massnahme führt zu bewusster, konkreter Selbstzensur. Indirekt und subtiler wirkt dagegen eine quasi strukturelle Sorge vor möglichen Massnahmen. Das heisst zum Beispiel, dass gewisse Themen, Personen oder Organisationen als Minenfeld wahrgenommen werden. Aus dieser Sorge heraus machen Medienschaffende diese regelmässig gar nicht erst zum Gegenstand ihrer Berichterstattung. Es etablieren sich Tabus, Meinungsäusserungen dazu erfolgen gar nicht erst. Medienschaffende zensurieren sich präventiv.[16]

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Die Grenzen zwischen direktem und indirektem Chilling effect sind fliessend. Wichtig für das grundrechtliche Verständnis ist, dass der Gerichtshof einen Chilling effect behördlicher Massnahmen regelmässig gerade deshalb zu Lasten des Staates berücksichtigt, weil die Massnahme den Fluss der Informationen indirekt beeinträchtigen kann. Drohen der Anwaltschaft schon bei pointiert vorgebrachter Kritik Ordnungsbussen, um am obigen Beispiel anzuknüpfen, kann sich ein entsprechendes Präjudiz letztlich strukturell auswirken. Die Anwaltschaft enthält sich aus Furcht vor Bussen generell der pointierten Kritik. Die Kritik verliert einen Teil ihrer Spitzen und damit potentiell an Wirksamkeit.

3. Zum Chilling effect als Zulässigkeitsvoraussetzung und Element der materiellen Interessenabwägung

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Art. 10 EMRK statuiert nicht nur das Recht auf Information und Meinungsäusserung. Die Konvention regelt ebenso die Bedingungen, unter denen ein Vertragsstaat die geschützten Freiheiten beschränken kann. In diesem Sinne prüft der Gerichtshof, ob der erstellte Eingriff allenfalls gemäss Art. 10 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist. Demnach kann die Ausübung dieser Freiheit «Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden». Diese müssen aber gesetzlich vorgesehen sowie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein und einen legitimen Zweck verfolgen. Die EMRK benennt als legitime Ziele die öffentliche Sicherheit, die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten, den Schutz der Gesundheit oder der Moral, den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, die Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder die Wahrung der Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung. Art. 10 Abs. 2 EMRK ist, vereinfacht gesagt, das auf die Kommunikationsfreiheiten gemünzte Pendant zu den in Art. 36 BV vorgesehenen allgemeinen Voraussetzungen für Einschränkungen der Grundrechte.

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Die Kriterien der Notwendigkeit und des legitimen Zwecks sind insofern miteinander verknüpft, als eine Massnahme nur notwendig erscheint, wenn sie in Bezug auf den verfolgten Zweck verhältnismässig ist. Im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit beurteilt der Gerichtshof den fraglichen Eingriff im Lichte sämtlicher Umstände des konkreten Falls. Er prüft dabei auch, ob die von den Behörden vorgebrachten Argumente zutreffend und hinreichend erscheinen (pertinent et suffisant[17]). Beim Abwägen des Interesses an der konkreten staatlichen Massnahme gegen das Interesse an der ungehinderten Ausübung der Meinungsfreiheit berücksichtigt der Gerichtshof in Zusammenhang mit Medienpublikationen beispielsweise, ob die redaktionelle Publikation zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beiträgt, wie die Publikation konkret ausgestaltet ist, wie sie auf das Publikum wirkt, welche konkreten Konsequenzen sie für Betroffene hat (z.B. Verletzung der Privatsphäre oder der Ehre) oder ob die Berichterstattung eine öffentliche oder private Person betrifft.[18]

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Es gehört zu dieser Abwägung, dass ein allfälliger Chilling effect berücksichtigt wird. Dieser kann sich zum Beispiel aus der Tatsache bzw. der Schwere einer Sanktion ergeben wie etwa die Höhe einer Busse oder eines Schadenersatzes.[19] Dabei würdigt der Gerichtshof die Bedeutung der abschreckenden Wirkung im konkreten Fall immer auch unter besonderer Berücksichtigung der Funktion der Medien als Chien de garde (Public watchdog) und der Konsequenzen, die eine konkrete Massnahme auf die Erfüllung dieser Rolle hat.[20] In diesem Sinne übt der Gerichtshof in ständiger Praxis auch grösste Umsicht, wenn Massnahmen oder Sanktionen ihrer Natur nach die Medien davor abschrecken könnten, Fragen von allgemeinem Interesse öffentlich zu thematisieren, und die Medien an der Erfüllung ihrer Rolle zu hindern drohen.[21]

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Nach dem bisher Gesagten handelt es sich beim Chilling effect um einen zentralen Aspekt, den der Gerichtshof bei der materiellen Beurteilung der Zulässigkeit des Eingriffs gemäss Art. 10 Abs. 2 EMRK berücksichtigt. Betrifft eine staatliche Massnahme die Äusserung oder Verbreitung einer Meinung aber nicht direkt und ist die Frage umstritten, ob überhaupt ein Eingriff vorliegt, prüft der Gerichtshof die Wirkung der staatlichen Massnahme im Kontext des konkreten Sachverhalts und der einschlägigen gesetzlichen Grundlage. Dabei fliesst ein allfälliger Chilling effect auch hier in die Einzelfallbeurteilung ein. Die Bedeutung des Chilling effect verlagert sich somit auf die Ebene der Zulässigkeitsvoraussetzungen von Art. 34 f. EMRK. Eine Beschwerde setzt neben der Einhaltung der Beschwerdefrist und der Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs namentlich auch die Opfereigenschaft voraus. Diese schliesst Popularbeschwerden ebenso aus wie Beschwerden von Personen, die zwar eine besondere Nähe zur kritisierten staatlichen Massnahme aufweisen, dadurch aber keinen Nachteil erleiden bzw. in ihren geschützten Freiheiten nicht eingeschränkt sind. Im Rahmen dieser Prüfung kann das Vorliegen des Chilling effect also darüber entscheiden, ob die kritisierte Massnahme überhaupt in die nach Art. 10 EMRK geschützten Rechte eingreift und Opfereigenschaft gegeben ist.

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Schränkt die kritisierte staatliche Massnahme die Ausübung der Meinungsäusserungsfreiheit also nicht an sich schon direkt ein und entfaltet sie auch keinen Chilling effect, kann der Gerichtshof die Beschwerde in Anwendung von Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK für unzulässig erklären und in jedem Stadium des Verfahrens zurückweisen. Nach der Strassburger Rechtsprechung sind folglich die Fragen nach der Opfereigenschaft und nach dem Vorliegen eines Eingriffs in die nach Art. 10 EMRK geschützten Freiheiten eng mit der Frage nach einem allfälligen Chilling effect auf die Ausübung eben dieser Freiheiten verbunden.[22]

4. Beispiele des Chilling effect aus der Strassburger Praxis

A. Busse, Haft und Berufsverbot: ein wegweisender Fall

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Ein wichtiger Fall des EGMR von 2004 betraf die Publikation einer rumänischen Zeitung über Korruption in der Landesregierung. Die für die Publikation verantwortlichen Personen wurden wegen Verleumdung und Beleidigung zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt, 7 davon unbedingt. Ihnen wurde zudem eine Busse sowie ein einjähriges Berufsverbot auferlegt. Es war vor dem Gerichtshof unbestritten, dass diese Bestrafung in die Freiheit der Meinungsäusserung eingreift. Deshalb schritt der Gerichtshof zur Prüfung, ob die Eingriffsvoraussetzungen nach Art. 10 EMRK erfüllt sind. Dabei war für den Gerichtshof evident, dass die Massnahme im Sinne der Konvention gesetzlich vorgesehen sei. Mit dem Schutz der Ehre derjenigen Personen, die Gegenstand der Berichterstattung waren, verfolgte sie nach Ansicht des EGMR auch einen legitimen Zweck.

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Die Notwendigkeit der Massnahme betreffend stellte der Gerichtshof jedoch fest, dass die ausgesprochenen Strafen sehr schwere Massnahmen darstellten. Investigativ tätige Medienschaffende könnten sich bei der Aufdeckung vermuteter Missstände zurückhalten, wenn sie damit das konkrete Risiko eingehen, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt oder mit einem Berufsverbot belegt zu werden. Die Verurteilung eines Medienschaffenden zu einer Gefängnisstrafe sei überhaupt nur in Ausnahmefällen denkbar, etwa wenn der fragliche Beitrag Grundrechte Dritter schwer verletzt. Dies könne zum Beispiel bei medial verbreiteten Hassreden oder Gewaltaufrufen der Fall sein. Im konkreten Fall seien die ausgesprochenen Strafen aber in keiner Weise gerechtfertigt.

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Das Beispiel zeigt: Der Staat darf aus konventionsrechtlicher Sicht zum Schutz der Rechte Dritter durchaus strafrechtlich begründete Massnahmen infolge eines Medienberichts aussprechen. Im Rahmen der Interessenabwägung wird aber ein möglicher Chilling effect solcher Massnahmen berücksichtigt. Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass der Gerichtshof die konkrete Massnahme als unverhältnismässig und damit als nicht notwendig im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK qualifiziert.[23]

B. Die anerkannte Bedeutung des Quellenschutzes

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Unter dem Aspekt des Chilling effect gilt ein besonderes Augenmerk des EGMR dem Quellenschutz. Ohne ihn wäre die Weitergabe von Informationen von allgemeinem Interesse an Medienschaffende in Frage gestellt und damit letztlich der freie Fluss von Informationen. So betraf schon ein Urteil des EGMR aus dem Jahre 1996 den Quellenschutz in Zusammenhang mit illegal entwendeten und vertraulichen Dokumenten eines Unternehmens. Da die Publikation der vertraulichen Informationen bereits verboten worden war, beurteilte der Gerichtshof die Anordnung zur Preisgabe der Quelle als nicht erforderlich im Sinne der Anforderungen von Art. 10 Abs. 2 EMRK. Das Interesse der Medienfreiheit überwog das legitime Interesse des Unternehmens, den (mutmasslichen) Angestellten zu identifizieren, um jede weitere Verbreitung vertraulicher Informationen zu verhindern.[24] Werden Medienschaffende zur Preisgabe ihrer Quellen gezwungen, so der Gerichtshof, hat dies eine abschreckende Wirkung auf den freien Informationsfluss. Die Rolle der Medien als Public watchdog kann so ernsthaft untergraben werden.[25] Deshalb kann die Aufhebung des Quellenschutzes nur ausnahmsweise erfolgen, wenn sie überwiegend im öffentlichen Interesse erfolgt.[26]

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In einem jüngeren Fall hat der Gerichtshof ergänzend festgehalten, dass der Quellenschutz auch unabhängig vom Verhalten des Informanten gilt. Eine Medienschaffende könne somit auch dann nicht ohne Weiteres zur Aussage gezwungen werden, wenn die Quelle sich von selber zu erkennen gegeben hat.[27]

C. Übersicht über weitere Fallbeispiele

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Der Katalog möglicher Eingriffstatbestände, die sich aus einem Chilling effect ergeben, ist offen und in steter Entwicklung. In seiner bisherigen Praxis hat der Gerichtshof beispielsweise folgende Massnahmen gegen Medien(schaffende) als mögliche Eingriffe in Art 10 EMRK anerkannt[28]: das Aussprechen einer Disziplinarstrafe, Busse oder (bedingten wie unbedingten) Haftstrafe; die Beugehaft oder das Festhalten von Medienschaffenden[29]; Medienschaffende zum Gegenstand einer behördlichen Untersuchung machen; Medienschaffende dem Risiko aussetzen, aufgrund einer vagen und weit interpretierten Gesetzesbestimmung strafrechtlich verfolgt zu werden[30]; Medienschaffende Strafverfahren aussetzen, die übermässig lang sind oder an deren Ende schwere Strafen drohen[31]; Medienschaffende zu Schadenersatz verurteilen; die Ankündigung eines konkreten Nachteils durch einen hochrangigen Staatsvertreter an die Adresse einer Person, die sich negativ geäussert hat.

III. Die Schweizer Fälle im Lichte des Chilling effect

1. Basler Zeitung v. Staatsanwaltschaft: der unbestrittene Chilling effect

A. Zum Verfahren

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Eine Medienschaffende der Basler Zeitung veröffentlichte im 2012 einen Beitrag über einen Besuch bei einem Verkäufer weicher Drogen. In der Folge eröffnete die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt ein Strafverfahren gegen Unbekannt wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG). Der Medienschaffenden wurde im Rahmen des Verfahrens das Zeugnisverweigerungsrecht aberkannt. Im Gegensatz zum Appellationsgericht bestätigte das Bundesgericht die Verfügung der Staatsanwaltschaft.

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Das Bundesgericht hielt fest, dass das Strafverfahren einen qualifizierten Verstoss gegen das BetmG betreffe und damit eine sogenannte Katalogtat im Sinne von Art. 172 Abs. 2 StPO sei. Demnach müssen Medienschaffende aussagen, wenn ohne das Zeugnis die Straftat nicht aufgeklärt oder die beschuldigte Person nicht ergriffen werden kann. Im Rahmen der grundrechtlichen Verhältnismässigkeitsprüfung kam das Bundesgericht zum Schluss, dass weder dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse noch dem entgegenstehenden Interesse am Quellenschutz eine erhöhte Bedeutung zukomme. Folglich verwies das Bundesgericht auf die vom Gesetzgeber vorgenommene Interessenabwägung, die im Ausnahmekatalog von Art. 172 Abs. 2 StPO zum Ausdruck kommt und die das Interesse an der Strafverfolgung in Zusammenhang mit einem qualifizierten Verstoss gegen das BetmG höher gewichtet als das Interesse der Medienschaffenden am Quellenschutz.[32]

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Der EGMR schliesslich gab der Beschwerde der Medienschaffenden recht und rügte die Schweiz wegen einer Verletzung von Art. 10 EMRK.[33] Die Schweiz habe nicht hinreichend darlegen können, dass die Verpflichtung zur Preisgabe der Quellen notwendig im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK sei. Die Verpflichtung zur Preisgabe der Quellen sei überhaupt nur mit Art. 10 EMRK vereinbar, wenn sie durch ein dringendes und überwiegendes öffentliches Interesse (impératif prépondérant d’intérêt public) gerechtfertigt sei. Den bundesgerichtlichen Verweis auf die generell-abstrakte Interessenabwägung des Gesetzgebers beurteilte der Gerichtshof als ungenügend.[34]

B. Erwägungen des Gerichtshofs zum Chilling effect

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Wie oben erwähnt gilt ein besonderes Augenmerk des EGMR dem Quellenschutz, weil die Preisgabe von Quellen eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Informanten und damit auf den Informationsfluss haben kann.[35] Im Lichte dieses Chilling effect erklärt der Gerichtshof auch im vorliegenden Fall die besondere Bedeutung des Quellenschutzes für die Medienfreiheit. Aufgrund ihrer Rolle als Public watchdog seien die Medien auf Zugang zu wesentlichen Informationen angewiesen. Der Quellenschutz ermögliche und erleichtere diesen Zugang. Je mehr aber ein Informant damit rechnen müsse, dass sein Name preisgegeben wird und dies für ihn rechtliche, berufliche und gesellschaftliche Konsequenzen zeitigen kann, umso eher würden andere potenzielle Informanten davon abgeschreckt, den Medien wichtige Informationen zuzuspielen.[36] Deshalb könne die an die Medienschaffende gerichtete Verpflichtung zur Preisgabe ihrer Quelle auch nachteilige Auswirkungen auf die Basler Zeitung haben. Durch die Preisgabe könne deren Reputation in den Augen potenzieller Informanten beeinträchtigt werden.[37]

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Ein Umstand ist im vorliegenden Kontext erwähnenswert: Es war völlig unbestritten, dass die Verpflichtung zur Preisgabe der Quellen grundsätzlich ein Eingriff in Art. 10 EMRK darstellt. Vielmehr schritt der Gerichtshof sogleich zur Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen. Auch die Schweiz bestritt den Eingriff nicht. Tatsächlich hat das Bundesgericht mit Verweis auf den grundlegenden Entscheid Goodwin/Vereinigtes Königreich[38] im 2007 anerkannt, dass der Zwang gegenüber Medienschaffenden, Quellen offenzulegen, eine Verletzung von Art. 10 EMRK darstellt, «sofern keine ausserordentlichen Umstände» vorliegen.[39] Im Jahr 2000 ist zudem Art. 17 Abs. 3 BV in Kraft getreten. Er hat den Schutz des Redaktionsgeheimnisses verfassungsrechtlich explizit verankert. Seither hat das Bundesgericht mit Verweis darauf sowie auf Art. 10 EMRK wiederholt festgehalten, dass es dem Quellenschutz als Eckpfeiler der Medienfreiheit erhebliches Gewicht zumisst.[40] Insoweit urteilte das Bundesgericht hier in Übereinstimmung mit der eigenen ständigen Praxis und derjenigen des EGMR.

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Dagegen berücksichtigte das Bundesgericht aus Sicht des Gerichtshofs den anerkannten Chilling effect auf Ebene der Verhältnismässigkeitsprüfung nicht im Sinne der Strassburger Praxis. Zwar hat der Schweizer Gesetzgeber eine Interessenabwägung vorgenommen, die in der gesetzlichen Regel zur ausnahmsweisen Aufhebung des Quellenschutzes zum Ausdruck kommt. Dies entbindet das Bundesgericht aber nicht davon, in jedem Einzelfall die Verhältnismässigkeit der Massnahme zu prüfen. Das hat das Bundesgericht vorliegend grundsätzlich gemacht. Allerdings hat es das Interesse der Medienschaffenden am Quellenschutz als nicht besonders hoch eingestuft mit der etwas überraschenden Bemerkung, dass der fragliche Beitrag «kaum zur Erhellung eines Missstandes beiträgt», sondern eher eine Werbeplattform darstelle. Als Konsequenz dieser Interessenbeurteilung orientierte sich das Bundesgericht schliesslich an der gesetzlichen Interessenabwägung. Der Gerichtshof kritisiert jedoch eben diese Bemerkung. Er stellt klar, dass der Quellenschutz nicht davon abhängt, ob sich ein Beitrag besonders kritisch zu einem Thema von allgemeinem Interesse äussert oder nicht.

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So gesehen gereicht dem Bundesgericht aus Strassburger Sicht letztlich auch zum Vorwurf, dass es im Rahmen der Interessenabwägung dem Chilling effect einer Aufhebung des Quellenschutzes grösseres Gewicht hätte beimessen müssen. Das gilt umso mehr, als der qualifizierte Verstoss gegen das BetmG einen der milderen Tatbestände im gesetzlichen Ausnahmekatalog darstellt.

2. SRG SSR vs. UBI: der (noch) theoretische Chilling effect

A. Zum Verfahren

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Das Schweizer Fernsehen (heute Schweizer Radio und Fernsehen SRF) strahlte 2012 im Rahmen des Gesundheitsmagazins «Puls» einen 30-minütigen Beitrag über Botulinumtoxin (Botox) aus. Es handelt sich um ein Nervengift, das in der Schweiz für medizinische und kosmetische Anwendungen zugelassen ist. Thema des Beitrags waren die verschiedenen Anwendungsbereiche von Botox beim Menschen («Ein Gift als Faltenstraffer und Medikament»). Entsprechend zeigte der Beitrag die Anwendungen von Botox auf, von der medizinischen (z.B. bei Spasmen) bis hin zur kosmetischen.

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Die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) hiess eine gegen die Sendung erhobene Beschwerde gut. Wenn ein Service- und Ratgebermagazin wie «Puls» verschiedenste Aspekte zu Botox-Behandlungen breit thematisiere, seien auch die für die Produktion jeder Charge von Botox notwendigen und umstrittenen Tierversuche für die Meinungsbildung des Publikums wesentlich. Aufgrund dieser fehlenden Information habe die Sendung das Sachgerechtigkeitsgebot nach Art. 4 Abs. 2 des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen (RTVG) verletzt.[41]

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Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR) beschwerte sich beim Bundesgericht. Es sei ihr nicht darum gegangen, die Existenz der Tierversuche zu verschweigen. Diese seien in anderen redaktionellen Beiträgen denn auch schon thematisiert worden. Die Erwähnung der Tierversuche hätte ausserhalb des Themas gelegen, das die Redaktion für die konkrete Sendung gewählt hatte. Die Zielrichtung einer Sendung sei frei wählbar. Die in Art. 93 Abs. 3 BV sowie in Art. 6 Abs. 2 RTVG verankerte Programmautonomie schützten namentlich die Freiheit der Veranstalter in der Wahl der Themen, inhaltlichen Bearbeitung und Darstellung ihrer redaktionellen Publikationen. Das Bundesgericht wies die Beschwerde der SRG SSR ab. Die Autonomie in der Gestaltung der Sendung gelte nur im Rahmen der Mindestanforderungen an den Programminhalt im Sinne von Art. 4 f. RTVG.[42]

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In der Folge erhob die SRG SSR Beschwerde beim EGMR. Im Wesentlichen kritisierte sie die Ausweitung des Sachgerechtigkeitsgebots auf eine thematische Vollständigkeit – im Widerspruch zum konkreten redaktionellen Sendekonzept. Damit würde es den Medienschaffenden verwehrt, den Inhalt selber zu bestimmen. Aus Art. 10 EMRK resultiere jedoch gerade auch das Recht der Medienschaffenden, sich nicht zu allen Aspekten eines Themas zu äussern. Der Entscheid habe insofern einen Chilling effect, als durch die rechtsverbindliche Auslegung durch UBI und Bundesgericht die journalistische Meinungsfreiheit in vergleichbaren Konstellationen zum Vornherein auf bestimmte Meinungen bezogen sei. Anderes dürfe nicht mehr geäussert werden. Der Gerichtshof hat die Beschwerde für unzulässig erklärt, weil kein Eingriff vorliege und die Beschwerde damit offensichtlich unbegründet sei.[43]

B. Zur Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI)

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Für das bessere Verständnis der nachfolgenden Ausführungen lohnt sich ein kurzer Blick auf die UBI. Die UBI ist eine ausserparlamentarische Kommission des Bundes, die nicht an Weisungen der Bundesversammlung, des Bundesrats oder der Bundesverwaltung gebunden ist (Art. 84 RTVG). Der rechtliche Status der UBI tendiert in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in die Richtung einer quasi-richterlich amtenden Behördenkommission.[44] Sie setzt sich aus neun nebenamtlichen Mitgliedern zusammen und behandelt Beschwerden gegen ausgestrahlte Radio- und TV-Sendungen aller schweizerischen Veranstalter, gegen das übrige publizistische Angebot der SRG SSR sowie gegen den verweigerten Zugang zum besagten publizistischen Angebot der Veranstalter (Art. 83 RTVG).[45] Voraussetzung einer Beschwerde ist das Durchlaufen des Verfahrens vor einer Ombudsstelle. Diese haben keine Entscheidungs- und Weisungsbefugnis.[46] Erst die UBI entscheidet erstinstanzlich.

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Die UBI stellt Verletzungen von Art. 4 ff. RTVG sowie des einschlägigen internationalen Rechts fest. Als Konsequenz einer festgestellten Rechtsverletzung stehen der UBI die Massnahmen nach Art. 89 Abs. 1 RTVG zur Verfügung, auf welche auch das BAKOM in seinem Kompetenzbereich abstellt.[47] In der Praxis verlangt die UBI von den Veranstaltern in der Regel nur (aber immerhin), Massnahmen zu treffen, damit sich die Verletzung nicht wiederholt. Sie will darüber auch unterrichtet werden. Weiter verlangt die UBI, dass der fragliche Beitrag, soweit er online abrufbar ist, mit einem Hinweis auf ihren rechtskräftigen Entscheid versehen wird.[48] Bei wiederholten schweren Verstössen kann die UBI als ultima ratio beim UVEK ein Sendeverbot beantragen (Art. 97 Abs. 4 RTVG). Die UBI fungiert somit als Aufsichtsbehörde über Rundfunkinhalte. Aus Mediensicht übt die UBI insofern eine besonders sensible Aufsicht aus, da sie via Rechtsprechung inhaltliche Grundsätze des RTVG im Einzelfall konkretisiert und so wie keine andere Schweizer Behörde regelmässig rechtliche Leitplanken für die Gestaltung redaktioneller Inhalte definiert.

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Praktisch im Vordergrund steht, wie auch im vorliegend behandelten Fall, die Prüfung der Einhaltung des Sachgerechtigkeitsgebots. Dieses verlangt, dass sich das Publikum durch die vermittelten Tatsachen und Auffassungen ein möglichst zuverlässiges Bild machen kann. Es muss in die Lage versetzt werden, sich eine eigene Meinung zu bilden. Fakten sind objektiv wiederzugeben. Meinungen müssen als solche erkennbar sein. Das Gebot der Sachgerechtigkeit verlangt jedoch nicht, dass der Veranstalter alle Standpunkte qualitativ und quantitativ gleichwertig darstellt. Das Publikum muss aber erkennen können, dass und inwiefern eine Aussage umstritten ist. Stellungnahmen und Kritiken von Medienschaffenden sind nicht ausgeschlossen. Zulässig ist auch der anwaltschaftliche Journalismus, bei dem sich der Medienschaffende zum Vertreter einer bestimmten These macht, soweit dies für das Publikum transparent ist. Massstab jeder Beurteilung ist die Wirkung auf das Publikum der Sendung in ihrer Gesamtheit.[49]

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Die UBI hat sich auf eine Rechtskontrolle zu beschränken und darf insbesondere keine Fachaufsicht betreiben.[50] Diesen Grundsatz praktisch umzusetzen, dürfte den UBI-Mitgliedern nicht immer leicht fallen. Die Grenzen zwischen der qualitativen Betrachtung einer Sendung und der streng rundfunkrechtlichen könnten fliessender nicht sein. Umso bedeutsamer ist es, das eine vom anderen strikte zu trennen. Andernfalls drohen qualitativ begründete Reflexe eines Spruchkörpers die verbindliche Rechtsprechung für redaktionelle Inhalte Schweizer Programmveranstalter zu prägen. Das leichte Überschreiten dieser Trennlinie mag im Einzelfall und ausserhalb der politisch-investigativen Berichterstattung allenfalls weniger dramatisch erscheinen – insbesondere auch mit Blick auf die bisweilen schweren Fälle staatlicher Eingriffe in die Meinungsfreiheit, mit welchen sich der EGMR befasst. Doch erodieren Freiheiten wie diejenige der Meinungsäusserung gerade auch im Kleinen, scheinbar Harmlosen, dafür dort umso beständiger. Deshalb gilt das Augenmerk der Medien nicht allein den offensichtlichen Eingriffen in die Medienfreiheit wie etwa im Falle von strafrechtlichen Sanktionen gegen Medienschaffende. Medien sind ebenso darauf bedacht, sich gegen die (ungerechtfertigte) «millimeterweise» Verschiebung der Grenzen der geschützten Meinungsäusserung zu wehren. Letzteres gilt besonders in Zusammenhang mit einer Instanz wie der UBI, die im Rahmen einer institutionalisierten Aufsicht über redaktionelle Inhalte Feststellungsentscheide mit präjudizierender Wirkung trifft.[51]

C. Die Erwägungen des Gerichtshofs zum Chilling effect

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Der Gerichtshof stellte fest, dass die SRG SSR zwar schwere Auswirkungen auf die zukünftige Konzeption von Sendungen befürchte. Sie lege aber nicht dar, dass sich diese Befürchtung tatsächlich in einer konkreten Situation realisiert habe. Rein hypothetische Risiken eines Chilling effect würden noch keinen Eingriff in Art. 10 EMRK begründen.[52] Es handle sich um reine Feststellungsentscheide. Dem Veranstalter sei einzig die gesetzliche Pflicht obgelegen, die UBI über die getroffenen Massnahmen zu informieren, damit sich die festgestellte Rechtsverletzung nicht wiederholt. Der Gerichtshof verwies auf eine Sendung zum Thema Botox im französischsprachigen Programm RTS der SRG SSR, die zwei Jahre nach dem UBI-Entscheid ausgestrahlt worden war. Darin seien die Tierversuche auch nicht erwähnt worden. Dies wertete der Gerichtshof als Beweis dafür, dass das Massnahmeverfahren der UBI keinerlei faktische oder rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen haben.[53] Nach Auffassung des Gerichtshofs hat der Entscheid der UBI deshalb keinen Chilling effect erzeugt.

IV. Zur Bedeutung der Schweizer Fälle im Lichte des Chilling effect

1. Aufhebung des Quellenschutz als Paradebeispiel

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Der Fall der Basler Zeitung bestätigt anschaulich die bisherige Praxis. Staatliche Massnahmen, die Medienschaffende zur Preisgabe von Quellen verpflichten, stellen im Grundsatz immer einen Eingriff in die nach Art. 10 EMRK geschützten Rechte von Medien(schaffenden) dar. Der mögliche Chilling effect solcher Massnahmen ist anerkanntermassen konkret genug, um einen Eingriff und damit die entsprechende Voraussetzung für eine Beschwerde beim Gerichtshof zu begründen. Die Erfüllung der weiteren Anforderungen im Sinne von Art. 34 f. EMRK vorausgesetzt, ist die Zulässigkeit einer Beschwerde an den Gerichtshof grundsätzlich gegeben. Der Gerichtshof wird sodann das Vorliegen der Eingriffsvoraussetzungen von Art. 10 Abs. 2 EMRK prüfen. Dem anerkannten Chilling effect kommt dabei im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung nochmals eine wichtige Bedeutung zu. Er setzt die Latte für das Erreichen eines überwiegenden öffentlichen Interesses an der Aufhebung des Quellenschutz besonders hoch an.

40

Das Beispiel des Quellenschutzes sowie die Beispiele anerkannter Chilling effects, die der Gerichtshof im Botox-Entscheid in Erinnerung ruft[54], zeigen weiter, dass strafrechtlich begründete Massnahmen die Zulässigkeit einer Beschwerde an den EGMR regelmässig indizieren. Bussen, Haftstrafen, Zwangsmassnahmen oder auch nur die Drohung derselben entfalten regelmässig einen hinreichend konkreten Chilling effect. Auch eine Verurteilung ohne strafrechtliche Sanktion kann den Eingriff indizieren.[55] Dasselbe gilt grundsätzlich auch für die Eröffnung oder die konkrete Drohung eines Strafverfahrens, wobei der Chilling effect hier sorgfältiger zu begründen ist. Geht es um leichte Fälle strafrechtlicher Massnahmen, wird der EGMR den Chilling effect im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 10 Abs. 2 EMRK unter Berücksichtigung der konkreten Umstände genau prüfen. Je nach dem kann ein mildes Strafurteil trotzdem als ungerechtfertigter Eingriff beurteilt werden.[56] Der Gerichtshof hat Strafverfahren aber auch schon mit Art. 10 EMRK vereinbar anerkannt, weil sie in zeitlicher Hinsicht massvoll waren und mit Freispruch oder Nichteintreten endeten.[57]

2. Feststellungsurteile im Rahmen der Programmaufsicht

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Die Erwägungen des EGMR im Botox-Fall überraschen auf den ersten Blick. Soweit einen allfälligen Chilling effect betreffend erwecken sie den Eindruck, als hätten UBI-Urteile für Schweizer Medien eine sehr begrenzte Wirkung. Tatsächlich urteilt die UBI rechtsverbindlich, und professionelle Medienschaffende redigieren Medienbeiträge innerhalb des geltenden rechtlichen Rahmens. Neben der präjudizierenden Wirkung scheuen Medien(schaffende) zudem die negative Publizität und «Prangerwirkung», die sich durch die öffentliche Beratung und die aktiv kommunizierten Entscheide ergeben können.[58]

Eine vertiefte Betrachtung des Urteils führt zu differenzierteren Schlussfolgerungen. In den Augen des Gerichtshofs ist die UBI nicht etwa zahnlos. Vielmehr gründet die im 2006 erfolgte Verurteilung der Schweiz im Fall Monnat auf einem Entscheid der UBI. Es ging um eine Sendung im Westschweizer Fernsehen (heute RTS) der SRG SSR. Die Sendung beleuchtete die Haltung der Schweiz während des zweiten Weltkrieges kritisch. Nach Auffassung von UBI und Bundesgericht sei das Publikum nicht darüber aufgeklärt worden, dass die Reportage mögliche historische Interpretationen und nicht zwingend die Wahrheit über die Beziehung zwischen der Schweiz und Deutschland darstellt. Sie stellten einen Verstoss gegen das Sachgerechtigkeitsgebot fest.

42

Im Rahmen der materiellen Prüfung erwog der Gerichtshof, dass das Feststellungsurteil der UBI den Medienschaffenden zwar nicht daran gehindert habe, seine Meinung zu äussern, und ihn auch nicht per se von zukünftiger Kritik abhalte. Trotzdem könnten solche Urteile, soweit im Kontext einer Debatte von grossem öffentlichem Interesse erfolgend, Medienschaffende vor zukünftigen Beiträgen abschrecken. Zudem habe sich in einem später ausgesprochenen Embargo eine Form der Zensur materialisiert.[59] Letzteres war eine Besonderheit des Falls. Ein Genfer Gerichtsschreiber stellte in anderem Kontext aber in Bezugnahme auf das UBI-Urteil fest, dass die Sendung einem gerichtlichen Verbot unterstehe und deren Vertrieb untersagt sei. Vor dem Gerichtshof argumentierte die Schweiz vergeblich, dass dieses Verbot sich rechtlich nicht aus der Programmaufsicht abgeleitet habe. Für den Gerichtshof reichte aus, dass zwischen Urteil und Suspendierung des Vertriebs der Reportage ein zeitlicher und inhaltlicher Zusammenhang bestand.[60]

43

Die Erwägungen des Gerichtshofs im Fall Monnat liessen sich noch dahingehend interpretieren, dass allein die Feststellungsurteile der UBI einen hinreichend konkreten Chilling effect entfalten. Der Botox-Entscheid präzisiert diese Lesart. Die Tatsache eines rechtskräftigen UBI-Urteils genügt allein noch nicht, um einen grundrechtlichen Eingriff und Opfereigenschaft zu begründen. Es braucht zusätzlich zum Feststellungsurteil ein qualifizierendes Element. Der Gerichtshof nimmt denn auch explizit Bezug auf den Fall Monnat und stellt fest, dass beispielsweise kein Embargo ausgesprochen worden sei und die UBI auch nicht die Entfernung der Sendung aus dem Online-Angebot verlangt habe.[61] Offen bleibt, ob der Gerichtshof die Zulässigkeit der Beschwerde im Botox-Fall anders beurteilt hätte, wäre die Sendung, wie im Fall Monnat, im Kontext einer Debatte von höchster historischer und gesellschaftspolitischer Relevanz gestanden.

44

Der Botox-Entscheid des EGMR nahm über sechs Jahre in Anspruch. Auch hat eine Mehrheit der Kammer die Beschwerde als unzulässig erklärt. Es steckt womöglich mehr Diskussion dahinter, als die Begründung auf den ersten Blick vermuten lässt.[62] Im Vergleich zum Fall Monnat bleibt der Eindruck, dass der Botox-Entscheid bezüglich des Chilling Effect von UBI-Urteilen eine Wende um 180 Grad vollzieht. Dabei sind just die beiden Fälle der Beweis dafür, dass die Schweizer Programmaufsicht augenscheinlich auf einem äusserst schmalen Grat zwischen konkretem und hypothetischem Chilling effect wandert. Umso mehr erstaunt, dass der Gerichtshof im Botox-Fall zum Schluss gelangt, die Beschwerde sei offensichtlich unbegründet.

45

Womöglich fürchtet der Gerichtshof, dass er in Zusammenhang mit der Schweizer Programmaufsicht faktisch zur Rekursinstanz für alle Entscheide wird, die den Gehalt von Art. 4 f. RTVG einengend zu Lasten der Medien festlegen. Die Aussicht auf eine regelmässige Beanspruchung des Gerichtshofs beisst sich mit der Rolle, in der sich der Gerichtshof selber sieht. Es ist nicht seine Aufgabe, einen Sachverhalt anstelle der nationalen Behörden und Gerichtsinstanzen zu beurteilen.[63] Auch nimmt er grundsätzlich keine abstrakte Prüfung vor, ob ein nationales Urteil mit Art. 10 EMRK vereinbar ist. Vielmehr soll sich die kritisierte nationale Rechtsanwendung direkt und konkret zum Nachteil der Medien(schaffenden) auswirken.[64] Dabei soll der EGMR seine Ressourcen für Fälle aufwenden, die im Lichte der Konvention als wesentlich erscheinen. Allerdings hätte all dies dafür gesprochen, die Unzulässigkeit der Beschwerde nicht wegen offensichtlicher Unbegründetheit, sondern wegen eines fehlenden erheblichen Nachteils im Sinne von Art. 35 Ab. 3 Bst. b EMRK festzustellen. Diese Zulässigkeitsbedingung wurde eingeführt, damit der Gerichtshof seine Arbeitslast reduzieren und sich auf bedeutende Fälle konzentrieren kann.[65] So hätte sich der Gerichtshof die Relativierung des Chilling effect der UBI-Urteile erspart. Freilich hätte die so begründete Abweisung ebenso Fragen aufgeworfen, da der Gerichtshof damit die Wirkung der präjudizierenden UBI-Urteile im Lichte von Art. 10 EMRK als unwesentlich qualifiziert hätte.

46

So oder anders hat der Gerichtshof vorerst Folgendes zu verstehen gegeben: Die Zulässigkeit einer Beschwerde im Kontext der Schweizer Programmaufsicht erfordert neben dem Feststellungsurteil ein zusätzlich qualifizierendes Element im Sinn und Geiste der EGMR-Praxis zum Chilling effect. Mit Blick auf die oben erwähnte Gratwanderung und die zwischen Monnat und Botox doch wacklig anmutende Praxis des EGMR ist davon auszugehen, dass der Gerichtshof keine hohen Anforderungen an dieses zusätzliche Element stellen wird.

3. Qualifizierende Elemente, die einen Chilling effect begründen können

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Die nachfolgenden Überlegungen orientieren sich an der Ausgangslage im Rahmen der Schweizer Programmaufsicht. Allerdings lassen sie sich mutatis mutandis auf andere staatliche Massnahmen übertragen, bei denen das Vorliegen eines Chilling effect und damit die Zulässigkeit einer Beschwerde an den EGMR fraglich erscheint. Zu denken ist an Feststellungsurteile oder andere behördliche Massnahmen ohne direkte Sanktionen.

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Reicht ein rechtkräftiges Feststellungsurteil der UBI noch nicht aus, können nachfolgende nicht abschliessende Umstände des Verfahrens einen Chilling effect begründen. Dabei wird der Gerichtshof den Chilling effect umso eher annehmen, je stärker der redaktionelle Beitrag den Public-Watchdog-Auftrag der Medien und insbesondere die politische Berichterstattung betrifft.[66]

  • Die UBI verlangt zur Beurteilung der ausgestrahlten Sendung die Herausgabe von Material, das dem Redaktionsgeheimnis untersteht, wobei die Weigerung mit Nachteilen verbunden ist.
  • Die UBI verlangt im Rahmen des Verfahrens nach Art. 89 RTVG Massnahmen, welche die Distribution des betroffenen redaktionellen Inhalts direkt oder indirekt behindern.
  • Die UBI zieht Massnahmen nach Art. 89 Abs. 1 Bst. b oder 97 Abs. 4 RTVG in Betracht oder droht solche an.
  • Medien(schaffende) erleiden Konsequenzen faktischer oder rechtlicher Natur, die in inhaltlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem UBI-Urteil stehen[67], zu denken ist an:
    –  Negative Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis der Medienschaffenden, soziale und gesellschaftliche Nachteile;[68]
    –  Öffentliche Diskussionen, die (Medien)schaffende anprangern und blossstellen;
    –  Öffentliche Diskussionen, in denen Amtsträger oder Politiker Konsequenzen oder Untersuchungen gegen die verantwortlichen Medienschaffenden fordern;
    –  Öffentliche Diskussionen, in denen Nachteile wie zum Beispiel Massnahmen im Sinne von 89 Abs. 1 Bst. b RTVG nahegelegt werden, Konzessions- und Aufsichtsbehörden aufgefordert werden, solche oder andere Massnahmen zu treffen oder im Parlament entsprechende Vorstösse eingebracht werden.
49

Der Gerichtshof wird sich in absehbarer Zeit mit einer weiteren Beschwerde in Zusammenhang mit der Schweizer Programmaufsicht beschäftigen. Im 2018 erhob die SRG SSR Beschwerde beim EGMR. Wie im Fall Monnat betrifft der UBI-Entscheid die Sendung «Temps présent». Die aufwändige Reportage beleuchtet Dysfunktionen im System der Schweizer Weinkontrolle am Beispiel eines Walliser Weinhändlers. Die UBI stellte mit knapper Mehrheit eine Verletzung des Sachgerechtigkeitsgebots fest, weil der Bericht gegenüber dem Weinhändler tendenziös sei. Die Sachlage bietet mehrere qualifizierende Umstände. Vorab betrifft die Sendung nicht nur eine Debatte von hohem allgemeinem Interesse. Thematisch ist sie auch ohne Weiteres dem Kernbereich des Public watchdog-Auftrags zuzuordnen. Weiter reihte sich die Beschwerde, die dem UBI-Urteil zugrunde liegt, in einen breiten Fächer rechtlicher Vorkehren gegen Beiträge der RTS aber auch anderer Medien ein. Im 2014 war den Medien zu entnehmen, dass gegen die SRG SSR sowie gegen Medienschaffende persönlich Betreibungen im Umfang zweistelliger Millionenbeträge eingeleitet wurden. Schliesslicht hat der Berufsverband Schweizer Medienschaffender Impressum die Beschwerde der SRG SSR an den EGMR öffentlich unterstützt. Aus Sicht des Verbands kann sich der Entscheid der UBI «lähmend» auf die Tätigkeit investigativer Medienschaffender auswirken.[69]

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Dieses vom Bundesgericht bestätigte UBI-Urteil erfolgte somit im Rahmen einer aktuellen öffentlichen Debatte von hohem allgemeinem Interesse. Zudem stand es im Kontext von Rechtsvorkehren und langjährigen Verfahren, die an sich geeignet sind, Medien(schaffende) abzuschrecken. Es wird interessant sein zu sehen, wie der Gerichtshof diese Elemente in seine Erwägungen miteinbezieht.

V. Fazit

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Artikel 10 EMRK schützt die Freiheit der Meinungsäusserung und die Medienfreiheit. Die Zulässigkeit einer Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte setzt unter anderem voraus, dass eine staatliche Massnahme in die geschützte Freiheit eingreift. Ein Eingriff liegt namentlich vor, wenn Massnahmen im Hinblick auf künftige Beiträge von Medien(schaffenden) und auf den freien Fluss der Informationen, die für die Erfüllung ihrer Watchdog-Funktion wichtig sind, eine abschreckende Wirkung entfalten. Im Lichte dieses Chilling effect hat der Gerichtshof innerhalb eines Jahres anhand zwei Schweizer Fälle den Weg nach Strassburg abgesteckt.

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Strafrechtlich begründete Massnahmen gegen Medien(schaffende) indizieren das Vorliegen eines konkreten Chilling effect und öffnen regelmässig den Weg für eine Beschwerde beim EGMR. Das Paradebeispiel bilden Massnahmen, die auf Aufhebung des Quellenschutzes zielen. Das bestätigt das kürzlich ergangene EGMR-Urteil beispielhaft. Das Aussprechen leichter Sanktionen wie Bussen oder auch die Eröffnung eines Strafverfahrens, an deren Ende mittlere bis schwere Strafen drohen, können einen Chilling effect entfalten. Dasselbe gilt für zivil- und öffentlich-rechtliche begründete Massnahmen, die mit Schadenersatz oder anderen Sanktionen und handfesten Nachteilen für Medien(schaffende) verbunden sind.

53

Unklar ist die Ausgangslage bei Feststellungsurteilen, wie sie im Rahmen der Schweizer Programmaufsicht regelmässig ergehen. Noch im 2006 äusserte sich der Gerichtshof dahingehend, dass negative Feststellungsurteile der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen Medienschaffende von Beiträgen zu öffentlichen Debatten abschrecken können. Ein neueres Urteil relativiert nun den Chilling effect der UBI-Urteile. Qualifizierende Umstände sind erforderlich, damit sich ein hinreichend konkreter Chilling effect entfaltet. Ohne diese qualifizierenden Umstände droht eine Beschwerde an den EGMR im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu scheitern.

54

Damit hat das Strassburger Pendel im Vergleich zu 2006 in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen. Vermutlich möchte die Praxis verhindern, dass dem Gerichtshof in Zusammenhang mit der Schweizer Programmaufsicht faktisch die Rolle einer allgemeinen Rekursinstanz zufällt. Bereits beschäftigt sich die Strassburger Instanz mit einer weiteren Beschwerde im Kontext der UBI. Es wird sich weisen, ob der Gerichtshof seine Praxis bestätigt oder ob das Pendel ausgleichend wieder in die andere Richtung ausschlägt. Gut möglich, dass der Gerichtshof sein Ansinnen auch mit einem ergänzenden Ansatz zum Ausdruck bringt.


Fussnoten:

  1. Der Autor ist Chefjurist der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft. Im vorliegenden Artikel vertritt er seine persönliche Auffassung.

  2. Siehe dazu Schwaibold Matthias, Ein Sieg für das Redaktionsgeheimnis , in: medialex 09/2020; Alder Kathrin, Gerichtshof für Menschenrechte rügt die Schweiz – und stärkt die Freiheit der Medien, NZZ-Artikel vom 7.10.2020, abrufbar unter nzz.ch.

  3. EMRK, SR 0.101.

  4. Gonin Luc / Bigler Olivier, Convention européenne des droits de l’homme (CEDH), Commentaire des articles 1 à 18 CEDH, Berne 2018, Art. 10 Rz. 31 ff., 62 f.; Villiger Mark E., Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Zürich 2020, Rz. 785; Zeller Franz, Öffentliches Medienrecht, Bern 2004, S. 101.

  5. Bundesgerichtsentscheid (BGE) 127 I 145, S. 151 E. 4b.; BGE 137 I 209, S. 212.

  6. BGE 139 I 16 S. 30 E. 5.2.2 ff.

  7. EGMR-Urteil N° 34124/06 «Schweizer Radio und Fernsehgesellschaft/Schweiz» vom 21. Juni 2012, in: medialex 2012, S. 214 ff.
    Vgl. zu diesem Urteil auch Zeller Franz, Auf bekannten Pfaden, auf Neuland und auf Irrwegen, medialex 10/2020, 4. Dezember 2020, Rn 8 f. und 105 ff.

  8. EGMR-Urteil N°12726/87 «Autronic AG/Schweiz» vom 22. Mai 1990, Ziff. 47 f.

  9. Burkert Herbert/Brunner Stephan C., Kommentar zu Art. 17 BV, in: Ehrenzeller/Schindler/ Schweizer/ Vallender (Hrsg.), Schweizerische Bundesverfassung – Kommentar, 3. Aufl., Zürich/Basel/Genf/Lachen 2014, Art. 17 Rz. 59; siehe in diesem Zusammenhang auch zur Rolle der UBI Rn 34

  10. Zeller Franz, Öffentliches und internationales Medienrecht, 16. Auflage, Skriptum zur Lehrveranstaltung im FS 2019, S. 134 ff., abrufbar unter medialex.ch; Müller Jörg Paul/Schefer Markus, Grundrechte in der Schweiz; Im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4. Aufl., Bern 2008, S. 383.

  11. Müller Jörg Paul/Schefer Markus, a.a.O., S. 375.

  12. BGE 143 I 147, S. 153; vgl. anstatt vieler Zeller Franz, vorne Fn 10, S. 112 f.

  13. Zeller Franz, vorne Fn 10, S. 112.

  14. BGE 106 Ia 100, S. 108, E. 8a, S. 108; BGer 2C_907/2017 vom 13. März 2018 E. 3.2; siehe auch EGMR-Urteile N°24845/13 und N°49103/15 «L.P und Carvalho/Portugal» vom 8. Oktober 2019; EGMR-Urteil N°65518/01 «Salov/Ukraine» vom 6. September 2005, Ziff. 113-115.

  15. Zur Entwicklung des Chilling Effect in der Schweizer Rechtsprechung siehe Schreiber Markus/Joss Mara, Der «Chilling Effect» auf die Grundrechtsausübung», in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht (ZBl) 121/2020, S. 534 f.

  16. Barendt Eric et al., Libel and the Media: The Chilling Effect, Oxford University Press, 1. Edition 1997, S. 191.

  17. Siehe zum Ganzen etwa Gonin Luc / Bigler Olivier, a.a.O, Art. 10 Rz. 156 ff.; sowie auch im Lichte von Art. 36 Abs. 3 BV Zeller Franz, vorne Fn 10, S. 126 ff.

  18. EGMR-Urteil N°59320/00 «von Hannover/Deutschland» vom 24. Juni 2004, Ziff. 76; vgl. dazu auch Zeller Franz, vorne Fn 10, S. 134 ff.

  19. Siehe hierzu unten zu EGMR-Urteil N°33348/96 «Cumpana und Mazare/Rumänien» vom 17.12.2004, Ziff. 114.

  20. EGMR-Urteil N°17488/90 «Goodwin/Vereinigtes Königreich» vom 27.03.1996, Ziff.39; EGMR-Urteil N°21980/93 «Bladet Tromso und Steenaas/Norwegen» vom 20. Mai 1999, Ziff. 59.

  21. EGMR-Urteil N°15890/89 «Jersild/Dänemark» vom 23. September 1994, Ziff. 35.

  22. EGMR-Urteil N°68995/13 «Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft et. al/Schweiz» vom 12. November 2019, Ziff. 68.

  23. «Cumpana und Mazare/Rumänien», vorne Fn 19, Ziff. 111 ff.

  24. «Goodwin/Vereinigtes Königreich», vorne Fn 20, Ziff. 37 f.

  25. «Goodwin/Vereinigtes Königreich», vorne Fn 20, Ziff. 39.

  26. Villiger Mark E., vorne Fn 4, Rz. 794 mit Verweis auf die Situation von Hausdurchsuchungen bei Medienschaffenden.

  27. EGMR-Urteil N°21272/12 «Becker/Norwegen» vom 5. Oktober 2017, Ziff. 74.

  28. Enthalten die Beispiele keinen Verweis, entstammen sie der aufschlussreichen Auflistung durch den EGMR selbst in «Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft et al./Schweiz», vorne Fn 22, Ziff. 71.

  29. EGMR-Urteil N 31451/03 «Açık et al./Türkei vom 13. Januar 2009, Ziff. 40.

  30. EGMR-Urteil N 27520/07 «Altuğ Taner Akçam/Türkei» vom 25. Oktober 2011, Ziff. 70-75.

  31. EGMR-Urteil N 29680/05 «Dilipak/Türkei» vom 15. September 2015, Ziff. 50; EGMR-Urteil N 4751/07 «Metis Yayincilik et al./Türkei» vom 20. Juni 2017, Ziff. 35 e contrario.

  32. BGer 1B_293/2013 vom 31. Januar 2014.

  33. EGMR-Urteil N°35449/14 «Jecker/Schweiz» vom 6. Oktober 2020; siehe dazu die Urteilsbesprechung von Schwaibold Matthias, in: medialex 09/2020, vorne Fn 2

  34. «Jecker/Schweiz», vorne Fn 33, Ziff. 41.

  35. Vgl. oben II, Ziff. 4 B., Rn 19.

  36. «Jecker/Schweiz», vorne Fn 33, Ziff. 14.

  37. «Jecker/Schweiz», vorne Fn 33, Ziff. 40.

  38. Vgl. oben Fn. 20.

  39. BGE 123 IV 236, S. 247 f.

  40. Siehe etwa BGE 136 IV 145; BGE 140 IV 108, S. 115 E. 6.8.

  41. UBI-Entscheid (UBIE) b. 654 vom 30. August 2012; zum Sachgerechtigkeitsgebot siehe Rn 34

  42. BGer 2C_1246/2012 vom 12. April 2013.

  43. «Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft et al./Schweiz», vorne Fn 22

  44. Noch vorsichtig formuliert BGE 137 I 340, S. 344; BGE 122 II 471, S. 475.

  45. Zur rechtlich in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Beschwerdemöglichkeit wegen verweigertem Programmzugang und zu deren Hintergrund siehe Kley Andreas, Beschwerde wegen verweigertem Programmzugang: Trojanisches Pferd oder Ei des Kolumbus?, in: medialex 01/2008, S. 15 ff.

  46. Zum Beanstandungsverfahren siehe Art. 91 ff. RTVG; für einen Einblick in das Wesen und die Arbeitsweise der Ombudsstellen siehe Blum Roger / Staub Ignaz (Hrsg.), Die Klagemauern der Schweizer Medien, Bern 2017.

  47. Art. 97 Abs. 4 RTVG geht als spezielle Regel Art. 89 Abs. 2 RTVG vor. So auch Weber Rolf H., Rundfunkrecht, in: SHK- Stämpflis Handkommentar, Art. 97 Rz. 10.

  48. Masmejan Denis, Loi sur la radio-télévision, in : Masmejan/Cottier/Capt (Hrsg.), Bern 2014, Art. 97 Rz. 13.

  49. Zuletzt bestätigt in Zusammenhang mit einem «Kassensturz»-Beitrag, BGer 2C_483/2020, E. 4.2. ff.

  50. BGE 131 II 253.

  51. Zur Wirkung von UBI-Entscheiden siehe Rieder Pierre, Was bewirken Entscheide der UBI?, in: medialex 3/2011, 138, S. 141.

  52. «Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft et al./Schweiz», vorne Fn 22., Ziff. 72.

  53. «Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft et al./Schweiz», vorne Fn 22, Ziff. 72 ff.

  54. «Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft et al./Schweiz», vorne Fn 22, Ziff. 71.

  55. EGMR-Urteil N°31611/96 «Nikula/Finnland» vom 21. März 2002, Ziff. 30 und 54 f.

  56. «Nikula/Finnland», vorne Fn 55, siehe aber auch die Dissenting Opinion.

  57. «Metis Yayincilik/Türkei», vorne Fn 31, Ziff. 35.

  58. Siehe auch Rieder Pierre, vorne Fn 51, S. 141.

  59. EGMR-Urteil N°73604/01 «Monnat/Schweiz» vom 21. September 2006, insbesondere Ziff. 33 und 70.

  60. Zur ausgebliebenen Auseinandersetzung des EGMR mit dem Hintergrund des «Embargo» siehe die Urteilsanmerkungen von Graber Christoph in: medialex 4/2006.

  61. «Monnat/Schweiz», vorne Fn 59, Ziff. 73 und 75.

  62. Siehe die Kaskade der Möglichkeiten der Beurteilung der Unzulässigkeit in Art. 27 ff. EMRK.

  63. Vgl. statt vieler, EGMR-Urteil N°23458/02 «Giuliani und Gaggio/Italien» vom 24. März 2011, Ziff. 180.

  64. Gonin Luc / Bigler Olivier, vorne Fn 4, Art. 2 Rz. 13 mit Hinweisen auf die Praxis.

  65. Villiger Mark E., vorne Fn 4, Rz. 109.

  66. Zum besonders strengen Massstab bei politischer Berichterstattung Villiger Mark E., vorne Fn 4, Rz. 789.

  67. «Monnat/Schweiz», vorne Fn 59, Ziff. 33.

  68. «Monnat/Schweiz», vorne Fn 59, Ziff. 33.

  69. Vgl. Medienmitteilung impressum vom 3. September 2018, abrufbar unter impressum.ch

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