Das Gebot der öffentlichen Urteilsverkündung gilt auch für rechtskräftig erledigte Verfahren

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Im Urteil 1C_194/2020 schiebt Lausanne Versuchen kantonaler Instanzen, die Justizöffentlichkeit zu unterlaufen, einen Riegel

Andreas Meili, Dr. iur., Rechtsanwalt, Zürich

Résumé: Dans un verdict du 27 juillet 2021, le Tribunal fédéral a confirmé de précédentes décisions prises à propos de la publicité des décisions de justice. En 2016 (1C_123/2016), il avait établi que le principe s’appliquait aussi à des verdicts non entrés en force et à des jugements annulés. Désormais, il ancre ce principe également pour les décisions concernant des procédures terminées et entrées en force. Il rejette l’interprétation selon laquelle des verdicts définitifs ne peuvent être consultés par le public que de manière exceptionnelle, respectivement lorsqu’un intérêt digne de protection est en jeu. Les raisons avancées par une personne pour consulter un verdict ne joueraient un rôle que si des intérêts publics ou un maintien du secret privé étaient en jeu. Dès lors, il s’agirait de procéder à une pesée des intérêts entre les différents avis de droit.

Zusammenfassung: Der Entscheid des Bundesgerichts vom 27. Juli 2021 liegt auf der Linie seiner früheren Entscheide zum Thema Justizöffentlichkeit. Nachdem Lausanne bereits im Urteil 1C_123/2016 klargestellt hatte, dass das Gebot der öffentlichen Urteilsverkündung für noch nicht rechtskräftige und aufgehobene Urteile gilt, wurde dies nun auch für Urteile von rechtskräftig erledigten Verfahren geklärt. Der Schluss, solche Urteile könnten nur bei Vorliegen eines schutzwürdigen Interesses eingesehen werden, sei unzulässig. Die Motive, mit denen jemand sein Gesuch um Einsicht in ein Urteil begründe, spielten höchstens eine Rolle, wenn relevante öffentliche oder private Geheimhaltungsinteressen entgegenstehen könnten und eine Abwägung zwischen sich entgegenstehenden (Grund-) Rechtspositionen erforderlich wäre.

Anmerkungen:

1

Der Entscheid des Bundesgerichts i.S. 1C_194/2020 vom 27. Juli 2021 liegt ganz auf der Linie seiner früheren Entscheide zum Thema Justizöffentlichkeit, die ja bekanntlich auf höchster Normenebene in Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II verankert ist, in der Umsetzung durch die kantonalen Gerichte aber offensichtlich immer noch zu Unsicherheiten führt.

2

Aus der jüngeren früheren Rechtsprechung des Bundesgerichts kann namentlich auf BGE 141 I 211 ff. i.S. Bezirksgericht Uster und Obergericht Zürich, BGE 1C_123/2016 i.S. Kantonsgericht Graubünden sowie auf BGE 143 I 194 ff. i.S. Pfäffikon ZH und Obergericht Zürich verwiesen werden. In diesen Entscheidungen sprach sich das Bundesgericht jeweils für eine konsequente Transparenz in Bezug auf die Verhandlungs- und Verfahrensöffentlichkeit aus und schob Versuchen kantonaler Instanzen, diese zu unterlaufen, jeweils einen klaren Riegel. Zudem forderte das Bundesgericht einen proaktiven Umgang mit der Bekanntgabe von Urteilen, und zwar auch mit solchen, die noch nicht rechtskräftig sind (siehe dazu Meili, Medien im Spannungsfeld zwischen Justizöffentlichkeit und Persönlichkeitsschutz, in: Medialex 2017, 31 ff.; derselbe, Medien und Justiz: Geltung der Verhandlungsöffentlichkeit im Zivilverfahren, in: Hürlimann/Kettiger (Hrsg.), Anonymisierung von Urteilen, Basel 2021, 71 ff.).

3

Das hier interessierende Urteil des Bundesgerichts vom 27. Juli 2021 betrifft das Kriminalgericht Luzern und das Kantonsgericht Luzern. Ein Rechtsanwalt ersuchte um Einsicht in ein Strafurteil (inkl. Begründung), das in den Medien thematisiert worden ist. Sein Gesuch wurde unter Verweis auf § 120 der Luzerner Verordnung zum Gesetz über die Organisation der Gerichte und Behörden in Zivil-, Straf- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren (JusV/LU) abgewiesen, der eine Einsicht in ein abgeschlossenes Verfahren nur ausnahmsweise erlaubt, wenn sich die gesuchstellende Partei auf ein schutzwürdiges Interesse berufen kann. Der (generelle) Wunsch des Anwalts, durch Einsicht in das besagte Urteil die laufende Rechtsprechung zu kennen, stelle kein solches schutzwürdiges Interesse dar und sei auf jedem Fall weniger gewichtig als die Geheimhaltungsinteressen der vom Urteil betroffenen Personen. Und: Es bestehe aus diesem Grund auch kein Anspruch darauf, dass anonymisierte Urteil einzusehen.

4

Wie aufgrund der zitierten früheren Entscheide des Bundesgerichts zu erwarten, hiess es die vom Anwalt gegen die Abweisung seines Einsichtsgesuchs geführte Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gut. In seiner bemerkenswerten Begründung rekapitulierte es nochmals die Grundprinzipien der Justizöffentlichkeit, konkretisierte deren Anwendung in der Praxis und schränkte Unterlaufungsversuche kantonaler Gerichte weiter ein. Aus den Erwägungen können folgende Lehrsätze gebildet werden:

  • Die Justizöffentlichkeit verlangt, dass Urteile öffentlich verkündet werden (Erw. 5.1 und 5.2)
  • Öffentlichen Urteilsverkündigung bedeutet, dass Urteile am Schluss des Verfahrens in Anwesenheit der Parteien und des Publikums und Medienvertreter verkündet werden (Erw. 5.2)
  • Weitere Formen der Bekanntmachung (öffentliche Auflage, Publikation in amtlichen Sammlungen oder Bekanntgabe via Internet sowie die nachträgliche Gewährung der Einsicht auf Gesuch hin) sind gegenüber der Urteilsverkündung im Gerichtssaal nicht subsidiär oder nachrangig, sondern gleichwertig zur öffentlichen Verkündung (Erw. 5.2 und 6.2)
  • Das Gebot der öffentlichen Urteilsverkündung entfaltet Wirkungen über den Zeitpunkt des Verfahrensabschlusses hinaus, d.h. umfasst insbesondere das Recht auf Einsicht in Urteile von abgeschlossenen Verfahren (Erw. 5.3 und 5.4)
  • Der Anspruch auf Einsicht in Urteile nach der Urteilsverkündung ist jedoch nicht absolut und kann insbesondere zum Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV) eingeschränkt werden (Erw. 5.4)
  • Die Einschränkung muss jedoch verhältnismässig sein, weshalb dem Schutz der Persönlichkeitsrechte in aller Regel durch Anonymisierung, allenfalls auch eine Teilschwärzung des Urteils, Rechnung getragen werden kann (Erw. 5.4)
  • Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung sind spezifische Einsichtsinteressen – wie jene von Medienschaffenden, Forschern sowie der Anwaltschaft – erhöht zu gewichten (Erw. 5.4)
  • Umgekehrt ist aber auch zu berücksichtigen, dass die Wichtigkeit des Persönlichkeitsschutzes der Verfahrensbeteiligten – insbesondere in Strafrechtsangelegenheiten – mit zunehmender zeitlicher Distanz zu einem Verfahren zunimmt (Erw. 5.4 und 6.3; sog. «Recht auf Vergessenwerden»)
5

In diesem Spannungsfeld – Einsichtsinteressen vs. Schutz der Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten – gelangte das Bundesgericht im hier interessierenden Luzerner Fall zum Schluss, dass dem Anwalt die Einsicht nicht mit der Begründung verwehrt werden kann, rechtskräftig gewordene Urteile könnten generell nur ausnahmsweise bzw. nur bei Vorliegen eines schutzwürdigen Interesses eingesehen werden (Erw. 6.2 und 6.4). «Die Gerichte haben ihre Entscheide vielmehr grundsätzlich der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, sei es durch Veröffentlichung oder durch Einsichtgewährung auf Antrag» (Erw. 6.2). Auch die Motive, die der Anwalt für seinen Einsichtsantrag geltend machte, seien «grundsätzlich nicht von Belang; sie könnten höchstens eine Rolle spielen, wenn relevante öffentliche oder private Geheimhaltungsinteressen entgegenstehen könnten» (a.a.O.). Daher sei «von einem grundsätzlichen Anspruch (…) auf Einsicht in das Urteil des Luzerner Kriminalgerichts in anonymisierter Form auszugehen» (Erw. 6.4).

6

Dem Entscheid des Bundesgerichts ist beizupflichten. Nachdem bereits in BGE 1C_123/2016 klargestellt wurde, dass das Gebot der öffentlichen Urteilsverkündung für noch nicht rechtskräftige und aufgehobene Urteile gilt, wurde dies nun auch für die Selbstverständlichkeit geklärt, dass davon auch Urteile von abgeschlossenen (sprich rechtskräftig erledigten) Verfahren umfasst sind. Selbstverständlichkeit auch deshalb, weil Art. 30 Abs. 3 Satz 1 BV bei der Statuierung des Grundsatzes, wonach «Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung (…) öffentlich» sind, nicht zwischen noch nicht rechtskräftigen, aufgehobenen oder rechtskräftigen Urteilen unterscheidet, sich also eine Differenzierung, wie sie von den Luzerner Gerichten anstrebt wurde, bereits verfassungsrechtlich verbietet.

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