Das Bundesgericht schützt im Urteil 2C_112/2021 vom 2.12.2021 die SRG
Andreas Meili, Dr. iur., Rechtsanwalt, Meili Pfortmüller Rechtsanwälte, Zürich
Anmerkungen:
1
Die in zahlreichen Medienberichten thematisierte Kontroverse um das sog. Bündner Baukartell und dessen Whistleblower Adam Quadroni hat nun auch das Bundesgericht erreicht. Gegenstand des Urteils vom 2. Dezember 2021 war die programmrechtliche Beurteilung eines rund 50-minütigen Dokumentarfilmes «Der Preis der Aufrichtigkeit – Adam Quadronis Leben nach dem Baukartell». Das Fernsehen SRF strahlte diesen Film am 4. Dezember 2019 aus. Darin wurde während einige Minuten auch die Rolle des Präsidenten des Regionalgerichts Engiadina Bassa/Val Müstair, Orlando Zegg, thematisiert und gegen ihn gravierende Vorwürfe erhoben: So soll er für die missliche finanzielle, persönliche und familiäre Situation von A. Quadroni mitverantwortlich sein und die von ihm geführte Leitung von Gerichtsverfahren gegen Herrn Quadroni auf «Schikane und Zermürbung» ausgelegt gewesen sein, er soll «stets Partei für die Gegenseite genommen» und «erneut versucht haben, Adam Quadroni kurz vor Weihnachten wieder in der Psychiatrie zu versorgen» (vgl. Erw. 6.4).
2
Gegen diesen Beitrag gelangte ein Richterkollege von O. Zegg, seines Zeichens Vizepräsident des Regionalgerichts Engiadina Bassa/Val Müstair, an die Ombudsstelle und in der Folge an die Unabhängige Beschwerdeinstanz (UBI). Er machte jeweils geltend, der Beitrag würde namentlich in Bezug auf O. Zegg wesentliche Fakten nicht erwähnen bzw. unkorrekt darstellen. Die UBI hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 28. August 2020 knapp mit vier zu drei Stimmen wegen Verletzung des Sachgerechtigkeitsgebots (Art. 4 Abs. 2 RTVG) gut und kritisierte, dass die gravierenden Vorwürfe gegen O. Zegg im Film weitgehend unwidersprochen geblieben und der Durchschnittszuschauer sich in einer Gesamtwürdigung zu wesentlichen Punkten kein eigenes Bild habe machen können.
3
Die SRG wollte diesen Entscheid so nicht stehen lassen und legte beim Bundesgericht Beschwerde ein. In prozessualer Hinsicht kritisierte sie, dass der besagte Vizepräsident des Unterengadiner Regionalgerichts überhaupt zur Beschwerde an die UBI zugelassen worden ist, da ihm die gemäss Art. 94 Abs. 1 RTVG erforderliche «enge Beziehung zum Gegenstand» der beanstandeten Sendung fehle. Das Bundesgericht liess die Frage offen, bezeichnete die erforderliche Betroffenheit aber zurecht als «zweifelhaft», da es in den beanstandeten Punkten weder um die – im fraglichen Bericht weder gezeigte noch erwähnte – Person des beschwerdeführenden Vizepräsidenten noch um das Regionalgericht als solches oder um das Gericht als Institution ging, sondern einzig um die Person von O. Zegg (Erw. 2.3.1 und 2.3.2). Der Umstand, dass der Vizepräsident in Recherche- und Sondierungsgespräche einbezogen wurde, genüge für sich alleine «grundsätzlich nicht, um eine besondere Nähe zum Sendegegenstand zu begründen» (Erw. 2.3.2).
4
In materiell-rechtlicher Hinsicht lag für das Bundesgericht ein «Grenzfall» vor (vgl. Erw. 7.3). Anders als die Vorinstanz folgte das Bundesgericht jedoch der Minderheit der UBI und hiess die von der SRG gegen den UBI-Entscheid erhobene Beschwerde gut. Die beanstandeten Punkte würden bloss «Nebenaspekte der Haupterzählung» betreffen, da sie nur wenige Minuten des zu beurteilenden Dokumentarfilmes ausmachen und damit eine untergeordnete Rolle spielen, die den Gesamteindruck des Durchschnittspublikums zum ganzen Film – einem sehr persönlich gehaltenen Porträt von A. Quadroni – nicht rechtserheblich beeinflussen (Erw. 8.2).
5
Das Bundesgericht mass dabei dem Umstand, dass der kritisierte Gerichtspräsident O. Zegg auf die E-Mail-Anfrage der Autorin des Filmberichts nicht reagiert, sich jedoch später in einer Regionalzeitung zu den Vorwürfen in allgemeiner Form geäussert hatte (Erw. 7.3), besonderes Gewicht bei: «Wenn der betroffene Dritte auf die journalistische Anfrage hin aber nicht Stellung nehmen will, kann er nicht in der Folge erklären, er (…) habe keine Gelegenheit gehabt, sich zu den Vorwürfen zu äussern, weshalb das Sachgerechtigkeitsgebot verletzt sei (…). Weigert sich die betroffene Person, zu Vorhaltungen Stellung zu nehmen, ist dies bei der Anwendung des Sachgerechtigkeitsgebots mitzuberücksichtigen» (Erw. 7.6).
6
Diese Feststellung ist für die journalistische Praxis bedeutsam, weil sie letztlich das für Medienschaffende gemäss Richtlinie 3.8 des Schweizer Presserates geltende Gebot, den Betroffenen bei schweren Vorwürfen vorgängig Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, für beide Seiten stärkt: Die Medienschaffenden sind zwar berufsethisch verpflichtet, dieses Gebot einzuhalten, doch geht diese Pflicht nicht soweit, dass sie möglichen Entgegnungen «nachrennen» oder diese gar verteidigen oder vertreten müssen, wenn die Betroffenen auf ihre Anfragen hin keine Stellung nehmen wollen (vgl. Erw. 7.2). Umgekehrt haben die Betroffenen Anspruch darauf, dass ihr Anhörungsrecht nicht zur Farce verkommt, sondern seitens der Medienschaffenden aktiv versucht wird, ihre Stellungnahmen einzuholen und, falls sie Stellung nehmen, diese im gleichen Bericht mit ihren «best arguments» wiedergegeben werden; wenn sie aber auf eine Stellungnahme verzichten (was ihr Recht ist), können sie sich nicht beschweren, dass das Sachgerechtigkeitsgebot verletzt worden sei, weil sie mit ihren Argumenten nicht gehört worden seien.
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Anzumerken bleibt noch, dass O. Zegg im September 2021 erstinstanzlich vom Regionalgericht Prättigau/Davos vom Vorwurf des Amtsmissbrauchs im Ehestreit von A. Quadroni freigesprochen worden ist. Er hatte also durchaus gute Argumente, um sich gegen die Vorwürfe in der besagten Filmdokumentation, die über das SRF ausgestrahlt wurde, zu wehren. Er muss sich die Frage stellen, ob er gut beraten war, diese Argumente nicht bereits gegenüber dem SRF geltend gemacht zu haben.
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