Der Beruf des Journalisten zwischen Freiheit und Verantwortung

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Auszug aus dem im Oktober erschienenen Buch über die Geschichte und Entwicklung des Schweizer Presserats

Enrico Morresi, Publizist und Journalist, ehem. Präsident der Stiftung Schweizer Presserat*

Résumé: : Il y a 50 ans, en 1972, l’Association de la presse suisse (APS), devenue ensuite la Fédération suisse des journalistes (FSJ), puis impressum, adoptait la Déclaration des devoirs et des droits du/de la journaliste, véritable boussole éthique pour la pratique journalistique. Depuis sa naissance, il y a 45 ans, le Conseil suisse de la presse veille au respect de la Déclaration. Pour célébrer ces anniversaires, l’essayiste tessinois Enrico Morresi publie «L’autodisciplina della professione giornalistica in Svizzera (1972-2022)». Medialex publie le premier chapitre (traduit en allemand) de cet ouvrage de 120 pages qui se penche spécifiquement sur le champ de tension entre liberté et responsabilité journalistique, de même que sur la transformation du rôle des médias dans la société actuelle.

Zusammenfassung: Vor 50 Jahren verabschiedete der Verein Schweizer Presse (heute Impressum) die Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten, den medienethischen Kompass, über den der vor 45 Jahren geschaffene Schweizer Presserat wacht. Aus Anlass dieser Jubiläen hat der Tessiner Publizist Enrico Morresi eine Art Festschrift verfasst mit dem Titel «L’autodisciplina della professione giornalistica in Svizzera (1972-2022)». Medialex publiziert das erste Kapitel des 120-seitigen Buches (ins Deutsche übersetzt), das sich mit dem Spannungsfeld zwischen journalistischer Freiheit und Verantwortung auseinandersetzt und den Wandel der Rolle der Massenmedien in der heutigen Gesellschaft erörtert.

Das Buch «L’autodisciplina della professione  giornalistica in Svizzera (1972-2022)» von Enrico Morresi ist in italienischer Sprache im Verlag «Corriere del Ticino» erschienen. Die hier abgedruckte deutsche Übersetzung stammt von Jürg Bischoff.

1. Die Rolle der Massenmedien im Wandel

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«Wenn ich zu wählen hätte zwischen einem Land mit einer Regierung, aber ohne Zeitung , und einem Land mit Zeitung, aber ohne Regierung , dann würde ich mich für das Land ohne Regierung entscheiden.» Die berühmte Sentenz, die «in einem Brief von Thomas Jefferson, dem dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten (1743-1826), an den damaligen Botschafter der USA in Frankreich Edward Carrington steht, muss in seinen historischen Kontext gestellt werden. Zu Jeffersons Zeiten waren die Zeitungen kommerzielle Anzeigeblätter oder die Sprachrohre von Politikern oder Parteien. Sie kosteten wenig und wurden vom Drucker oder von Amtsträgern und Kandidaten für öffentliche Ämter finanziert, welche die Politik diktierten und die Leitartikel selbst verfassten.

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Dieser Zustand hielt in der Schweiz bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts an (Feuille d’avis hiess es bis 2008 im Kopf einer Neuenburger Zeitung). Jeder Kanton, jede Stadt, jede Partei hatte ihre eigene Zeitung. Im Tessin mit seinen 300 000 Einwohnern gab es am Kiosk bis in die 1980er Jahre sechs Tageszeitungen, deren Redaktionen bis auf ein Minimum reduziert wurden: eine, zwei, drei Personen. Ich habe diese Realität in den 1950er und 1960er Jahren selber erlebt. Die Vielfalt der heute noch in der Schweiz vorhandenen Titel weist nicht unbedingt auf das Vorhandensein unabhängiger Redaktionen hin. Manche Zeitungen verdanken ihr Überleben dem Kopfblätter-System – eine oder zwei Seiten hausgemachter Nachrichten, der Rest wird von einer Redaktion, die für verschiedene Zeitungen arbeitet und Ausland, Inland, Kultur und Sport produziert.

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Die Schweiz blieb lange Zeit eine glückliche Insel, in deren Presse lokale Nachrichten vorherrschten, die für – auch nur regionale – politische oder wirtschaftliche Machtzentren leichter zu kontrollieren waren. In den Metropolen der Welt hatte sich die Zeitung bereits im 19. Jahrhundert zu einem Wirtschaftsunternehmen entwickelt, das von wenigen privaten Machtzentren dominiert wurde. Der Inhalt dieser Blätter hatte sich geändert, um dem Geschmack eines politisch anonymen Lesers entgegenzukommen: Die populäre Presse war geboren, gefüttert mit Unfällen und Verbrechen, Unterhaltung, kleinen oder grossen, wahren oder angeblichen Skandalen. Beeindruckende Zeugnisse dieses Phänomens bleiben in der Geschichte des Kinos erhalten. In «Park Row» zum Beispiel, einem Film von Sam Fuller aus dem Jahr 1952, wird an den mit der Hilfe von Skandalen geführten Krieg unter den populären Zeitungen von New York erinnert, «Ace in the hole» von Billy Wilder beschreibt die rücksichtslosen Mechanismen des Wettbewerbs anhand eines tragischen Vorkommnisses , «Citizen Kane» von Orson Welles erzählt vom skrupellosen Journalismus des Tycoons William Randolph Hearst, «Shubun» von Akira Kurosawa vom verzweifelten Zustand des Journalisten als Nachrichten-«Proletarier». In Europa verteidigte nach dem Zweiten Weltkrieg Heinrich Böll (1917-1985) die Opfer des Klatschjournalismus in «Die verlorene Ehre der Katharina Blum» und Günter Wallraff (1942) beschrieb in «Der Aufmacher – Der Mann, der bei ,Bild› Hans Esser war» den Zustand des Journalismus, der den Gipfel des wirtschaftlichen Erfolgs und den Tiefpunkt der Moral erreicht hat.

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Niklas Luhmann ist ein Soziologe, der 1996 Jahre mit «Die Realität der Massenmedien» einen kurzen, aber dichten Aufsatz dem Thema gewidmet hat. Seine Beschreibung fasst die Logik am besten zusammen, welche die Berufe der Massenmedien wie eine Zwangsjacke einschnürt. Der Kontext, in dem sie agieren, ist eine Gesellschaft, die sich in viele autonome «Systemen» und «Subsystemen» aufteilt, auf die allgemeine Funktionsregeln nicht anwendbar sind. Jedes System und Subsystem passt sich seinen eigenen, unabhängig festgelegten Zielen an. Es gibt keine gemeinsame Moral: Die «Moral» eines jeden entspricht den Ergebnissen, die er erreichen möchte. Es gibt keine universellen Werte: Das politische System strebt nach Macht, das Wirtschaftssystem nach Profit, das Mediensystem verfolgt einen einzigen Zweck: die Gesellschaft wach zu halten, mit einem Wechsel von Überraschungen und Beruhigung zu reizen und so wach zu halten. Die Themen werden der Realität entnommen, aber das System wählt sie aus, verarbeitet sie, modelliert sie um und akzeptiert sie schliesslich oder verwirft sie auf der Grundlage seines eigenen binären «Codes»: Information / Nicht-Information; Neuheit / Nicht-Neuheit; Relevanz / Nicht-Relevanz. Dieser Journalismus hat kein politisches Ideal wie den Dienst an der Demokratie, sondern folgt nur seiner eigenen Funktionslogik.

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Luhmann zieht aus seinen Beobachtungen eine fatalistische Schlussfolgerung: Wir wissen genug über die Massenmedien, um ihnen zu misstrauen und wir wehren uns mit dem Verdacht der Manipulation. Dies hat aber keine nennenswerte Konsequenzen, weil sich das Wissen, das aus ihnen kommt, auf sich selbst bezieht und sich selbst bekräftigt. Mit anderen Worten: Wir wissen, dass das Medienprodukt das Ergebnis einer Strategie ist, der unsere wahren Interessen fremd sind, aber da wir darauf nicht verzichten können, nehmen wir es mit einer Art geistiger Zurückhaltung hin.

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Das 1962 erschienene Buch des jungen Jürgen Habermas «Strukturwandel der Öffentlichkeit» warf der Presse vor, ihre Herkunft verraten zu haben, sich von einer Instanz der Emanzipation in ein Instrument einer von der Macht des Geldes versklavten Gesellschaft verwandelt zu haben. Der Band war einer der Referenztexte der Jugendaufstände von 1968, die Studenten trugen ihn in ihren Taschen mit sich. Das Modell schien sich mindestens zwei Jahrzehnte lang zu halten. Habermas selbst war es, der an der Schwelle zu den Neunzigern den Diskurs umkehrte und die Medien als Instrument seiner «Diskursethik» rehabilitierte. Die Verurteilung der Massenmedien ist nicht mehr unvermeidlich, im Gegenteil: der Autor bewertet ihre Fähigkeit, die Gesellschaft durch die Reinigung der Sprache positiv zu beeinflussen, neu. Innerhalb einer durch den richtigen Einsatz von Kommunikationsmitteln «gereinigten» öffentlichen Meinung werden die Medien von Habermas als das wesentliche Instrument angesehen, mit dem die Zivilgesellschaft wieder das Wort ergreifen kann. In Krisenzeiten werden sie sogar dazu gebracht, kommerzielle Gründe zu überwinden und ihrer eigentlichen Funktion gerecht zu werden, nämlich Politik und Markt zu zwingen, auf Kritik zu reagieren und sich selbst in Frage zu stellen. In der Ausgabe von 1993 schrieb der Philosoph die Einführung in den Strukturwandel neu und entschuldigte sich dafür, dass er nicht das ganze Buch neu schreiben könne. Dies war auch gar nicht mehr nötig: Die neue Rolle der Massenmedien wurde in den Gründungsbänden seiner «Diskursethik» beschrieben.

2. Freikauf dank der Objektivität?

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Michael Schudson («Discovering the News: A Social History of American Newspapers») und Giovanni Gozzini («Storia del giornalismo») zeigen, dass in den Städten, in denen sich die rasantesten und skandalösesten Entwicklungen in den Medien vollzogen (New York, London, Paris), die aufmerksamsten Praktiker relativ früh – noch in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – erkannten, wie viele negative Aspekte das Universum der freien Presse annahm. «Gerade die quantitative Entwicklung des Berufsstandes und die Zunahme seiner öffentlichen Macht untergruben die Vision des Berufsstandes als ‹Handwerk’», schreibt der italienische Soziologe Giovanni Bechelloni in seinem Buch «Giornalismo o postgiornalismo». 1884 wurde an der Universität Basel der erste europäische Studiengang für «Druckwissenschaft» eingerichtet. Im Jahr 1903 wurde durch eine Vereinbarung zwischen der Columbia University in New York und dem Pressemagnaten Joseph Pulitzer (1847-1911) die Columbia School of Journalism ins Leben gerufen.

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Der Ausweg schien in einer Definition zu liegen, die für die Gesellschaft und die nach Seriosität strebenden Journalisten akzeptabel war: objektive Berichterstattung. Der Schreibende gehört zu der letzten Generation, der das Prinzip der Objektivität als Allheilmittel eingeimpft wurde. Die öffentliche Moral war davon durchdrungen. In der Schweiz wurde 1976 beim zweiten Versuch, das Radio- und Fernsehregime auf eine Verfassungsgrundlage zu stellen, das heilige Wort kodifiziert: «Die Programme müssen insbesondere: (a) eine objektive und ausgewogene Information gewährleisten (…)» . Das negative Ergebnis von zwei Volksabstimmungen machte den Versuch zunichte. Im Text des 1984 endgültig verabschiedeten Verfassungsartikels wurde der gestrichene Begriff durch ein Adverb ersetzt: «(Radio und Fernsehen) stellen die Ereignisse sachgerecht dar». Die neue Bundesverfassung, die 1998 verabschiedet wurde, würde den Begriff genauer definieren: «Sie stellen die Ereignisse sachgerecht dar und bringen die Vielfalt der Ansichten angemessen zum Ausdruck».

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Was um alles in der Welt ist mit einem so massgeblichen Begriff wie «Objektivität» geschehen? Zusammenfassend könnte man sagen, dass die Routine dessen idealen Sinn pervertiert und den Weg für einen schalen und unkritischen Journalismus geebnet hat, in dem die Abhängigkeit und die Ehrfurcht – wenn nicht gar die Unterwürfigkeit – gegenüber politischer oder wirtschaftlicher Macht in anderer und aktualisierter Form wieder die Oberhand gewinnen. Es handelt sich schlicht und um einen Verzicht auf den Mut zur Freiheit, der von einer Art Neutralismus überdeckt wird: Man glaubt, dass es ausreicht, das Wort unparteiisch diesem und jenem zu geben, um korrekt und glaubwürdig zu sein. In Wirklichkeit waren es die Mächtigen, die sich dies zunutze machten. Das berühmteste Opfer dieser Entwicklung war der Verzicht auf die emanzipatorische Funktion, die dem Journalismus seit Jeffersons Zeiten zugeschrieben wurde.

3. Etwas von der «objektiven Berichterstattung» retten

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Die Krise erreichte ihren Höhepunkt, als die Reaktion der amerikanischen Medien auf den Angriff auf die Zwillingstürme am 11. September 2001 und auf den Beschluss der Bush-Regierung, den Irak anzugreifen, kritisch diskutiert wurde. Dies ist nicht der Ort, auf diese schmerzhafte Überprüfung zurückzukommen, die Brent Cunningham 2003 in der Zeitschrift «Columbia Journalism Review» versucht hat. Schlüssig (sofern man diesen Begriff in einem Bereich verwenden kann, der so sehr dem Wandel unterworfen ist wie die Information) ist die Folgerung, die Peter Studer, Präsident des Schweizer Presserats von 2000 bis 2007, in einem Aufsatz von 2004 gezogen hat, der im Band «Wahrhaftigkeit in Politik, Recht, Wirtschaft und Medien», herausgegeben von A. Riklin publiziert wurde:

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(a) «Die Suche (nach der Wahrheit) erreicht ihr Ziel kaum oder nur vorläufig erreichen: sie ist falsifizierbar durch neue Erkenntnisse; aber unterwegs kann sie Unklarheiten erhellen und Irrtümer aufdecken». Dies ist eine typische Situation für journalistische Recherchen, deren Status aufgrund der Zwänge, denen sie unterworfen sind, immer vorläufig ist: Dringlichkeit der Veröffentlichung, unzureichende oder ungeeignete Kontrollinstrumente, Druck von aussen, Nachlässigkeit. Aber das System kennt seine Grenzen und akzeptiert es, sich selbst zu korrigieren, indem es seine Schritte zurückverfolgt.

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(b) «Wahrheitssuche visiert nicht mehr – wie die tradierte Wahrheitsdefinition des Thomas von Aquin – die Übereinstimmung von Gegenstand und Aussage an, sondern die intersubjektive Nachprüfbarkeit von Aussagen. Intersubjektiv ist eine Aussage, die von ihrer Ausgangslage her in den wichtigsten Schritten des Zustandekommens nachvollzogen werden kann. Für jeden, der denselben Weg beschreitet, müsste dann in etwa dasselbe Ergebnis herauskommen.» In den Begriffen der Moralphilosophie beschreibt das Prinzip den Übergang vom monologischen Bewusstsein des Individuums zum intersubjektiven Bewusstsein einer Kollektivität, auf das der Berufsstand reagiert.

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(c) «Objektivität wird damit nicht am journalistischen Endprodukt gemessen, sondern ist Merkmal der Vorgehensweise bei der Erkenntnisgewinnung.» Die angewandte Ethik schlägt Kriterien zur Überprüfung der Qualität eines Prozesses vor. Die Standesregeln wiederum präzisieren die grundlegenden Anforderungen an die journalistische Tätigkeit, indem sie beispielsweise festlegen (Richtlinie 1.1. im Anhang der in der Schweiz geltenden «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten»), dass die Suche nach der Wahrheit «die sorgfältige Prüfung zugänglicher und verfügbarer Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild) sowie die Überprüfung und Korrektur von Fehlern voraus(setzt)». Die Berufsordnung schreibt Fairness und Transparenz bei den Untersuchungsmethoden vor. Auf die Verletzung dieser präzisen Anforderungen – und nicht auf einen abstrakten Grundsatz der «Objektivität» – stützen sich die Ethikgremien, die das Gewissen der Beteiligten leiten.

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Peter Studers Position deckt sich mit dem Perspektivenwechsel, den der Semiotiker Umberto Eco vollzog, indem er seine frühere, radikal negative Haltung korrigierte. Objektivität sei ein Mythos, sagte er in den 1960er Jahren, eine «Manifestation des falschen Bewusstseins, der Ideologie». Umberto Eco akzeptierte nun jedoch einen praktischen Ansatz für dieses Problem. Objektivität ist eine Illusion, wenn sie als theoretischer Begriff verstanden wird, aber sie wird wahr, wenn sie als empirisches Kriterium herangezogen wird. Neben der (unerreichbaren) «Obergrenze» der Objektivität gibt es eine «Untergrenze», die darin besteht, dass man Nachrichten und Kommentare trennt, dass man zumindest die Nachrichten wiedergibt, die von den Nachrichtenagentur verbreitet werden, dass man klarstellt, wenn es widersprüchliche Bewertungen einer Nachricht gibt, dass man Nachrichten, die unbequem erscheinen, nicht weglässt, dass man in der Zeitung zumindest für die auffälligsten Vorkommnisse Kommentare unterbringt, die nicht mit der Linie der Zeitung übereinstimmen, dass man den Mut hat, zwei gegensätzliche Kommentare nebeneinander zu stellen, um die Intensität einer Kontroverse wiederzugeben, und so weiter. Es handelt sich um empirische Kriterien, die die Zeitung nicht ihres Charakters einer von einer bestimmten Weltanschauung abhängigen Botschaft berauben, die aber den Leser zumindest vermuten lassen, dass es mehr als eine Weltanschauung gibt.

4. Die Zeit des Kodizes

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Wenn man sich zumindest auf die Spielregeln geeinigt hat, ist es möglich, bei den Teilnehmern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sie sich nicht mehr mit dem Mittelmass abfinden müssen, sondern es als kleinsten gemeinsamen Nenner annehmen können. Dies ist die Bedeutung der «Chartas», die sich die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat, beginnend mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris verabschiedet wurde und in der die Pressefreiheit als menschliches Grundrecht bezeichnet wird:

Artikel 19 - «Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäusserung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.»
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In der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates von 1950 wird dies bekräftigt:

Artikel 10 – Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäusserung. Dieses Recht schliesst die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. (…) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.
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Im Jahr 1983 gab auch die UNESCO eine «Erklärung zu den Medien» ab. Daniel Cornu bezeichnet sie als «den jüngsten und ehrgeizigsten deontologischen Text, da er der einzige ist, der wirklich international ausgerichtet ist. Sie ist jedoch nicht für die direkte Anwendung gedacht, sondern soll vielmehr die deontologischen Formulierungen der Berufsgemeinschaften leiten».

5. Ein korporatistisches Konzept der Selbstregulierung

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Am Ende des Zweiten Weltkriegs fanden sich die europäischen Journalisten in zwei konkurrierenden Verbänden zusammen: die Internationale Journalistenföderation mit Sitz in Brüssel, in der die nationalen Verbände der so genannten «freien Welt» (einschliesslich der Schweiz) zusammengeschlossen waren, und die Weltorganisation der Journalisten mit Sitz in Prag, die die Journalisten Osteuropas (ohne die Sowjetunion) vertrat. Aufgrund der hegemonialen Stellung der Kommunistischen Partei in der wichtigsten Gewerkschaft gehörten die italienischen Journalisten keinem der beiden Verbände an, sie befanden sich sozusagen zwischen den Stühlen. Ihr Verband beschränkte sich auf die Organisation von Jahreskongressen auf der Insel Capri, die sehr beliebt waren. Es war die Krise in der kommunistischen Welt, die die Italiener 1984 schliesslich dazu veranlasste, der «westlichen» Föderation beizutreten. Für ethische Fragen ist jedoch nach wie vor der gesetzlich verankerte «Ordine dei giornalisti» zuständig, der auch den Berufsausweis ausstellt.

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Auf dem internationalen Kongress, der vom 25. bis 28. April 1954 in Bordeaux stattfand, verabschiedete die westliche Föderation (IFJ) eine Erklärung, welche «die Arbeitsweise von Journalisten, die Nachrichten und Informationen sammeln, übermitteln, verbreiten oder kommentieren und über Ereignisse berichten» festlegte. Das Dokument ist relativ kurz, aber reich an Inhalten: Achtung der Wahrheit und des Rechts der Öffentlichkeit, sie zu erfahren; Freiheit der Recherche, der Veröffentlichung, der Kritik und der Stellungnahme; Achtung der Tatsachen, Nichtunterdrückung wesentlicher Informationen, Korrektheit bei der Informationsbeschaffung; Pflicht zur Richtigstellung, Berufsgeheimnis, Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht, Moral, Sprache, Religion und Meinungen. Die Erklärung betrachtet Plagiat, böswillige Verzerrung, Verleumdung, üble Nachrede, Diffamierung und unbegründete Anschuldigungen als schwere berufliche Verfehlungen. Die Annahme einer Belohnung für die Veröffentlichung bestimmter Informationen gilt als berufliches Fehlverhalten. Die Charta schliesst mit einer wichtigen Klarstellung: «Unter Berücksichtigung der Gesetzesvorschriften in den einzelnen Ländern anerkennt der Journalist in beruflichen Fragen nur das Urteil seiner Kollegen. Das schließt jede Einflussnahme durch Regierungen oder Dritte aus.»

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Ein weiterer Schritt nach vorn wurde von den Journalistenverbänden der sechs Länder der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) am 24. und 25. November 1971 in München unternommen. Die «Münchner Erklärung», die weiter gefasst ist als das Vorbild von Bordeaux, führt ein neues Element ein: Neben der Erklärung der Pflichten gibt es eine Erklärung der Rechte, die den freien Zugang zu Quellen, die Freiheit der Recherche, die Ablehnung jeglichen Zwangs, das Recht auf Information über alle wichtigen Unternehmensentscheidungen (wenn sie die Redaktion betreffen), das Recht auf einen Arbeitsvertrag und das Recht auf Einhaltung eines Tarifvertrags sowie das Recht auf ein angemessenes Gehalt zur Sicherstellung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Journalisten anerkennt.

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Diese ganze Entwicklung wird von Jürgen Habermas in seinem Werk «Faktizität und Geltung» von 1992 gewürdigt: «An solchen Grundsätzen orientieren sich einerseits der journalistische Berufskodex und das standesethische Selbstverständnis der Profession, andererseits die medienrechtliche Organisation eines freien Pressewesens. In Übereinstimmung mit dem Konzept deliberativer Politik bringen sie eine einfache regulative Idee zum Ausdruck: Die Massenmedien sollen sich als Mandatar eines aufgeklärten Publikums verstehen, dessen Lernbereitschaft und Kritikfähigkeit sie zugleich voraussetzen, beanspruchen und bestärken (…); sie sollen sich unparteilich der Anliegen und Anregungen des Publikums annehmen und den politischen Prozess im Lichte dieser Themen und Beiträge einem Legitimationszwang und verstärkter Kritik aussetzen.» Den Skeptikern, die ihm eine übertrieben optimistische Sicht auf die Funktion der Medien vorwerfen, entgegnet Habermas: «Wenn man sich das wie immer auch diffus bleibende Bild der vermachteten , massenmedial beherrschten Öffentlichkeit , das uns die Soziologie der Massenkommunikation vermittelt, vor dem Hintergrund dieser normativen Erwartungen in Erinnerung ruft, wird man die Chancen einer Einflussnahme von Seiten der Zivilgesellschaft auf das politische System zurückhaltend einschätzen. Allerdings bezieht sich diese Einschätzung nur auf eine Öffentlichkeit im Ruhezustand. Im Augenblick der Mobilisierung beginnen die Strukturen, auf die sich die Autorität eines stellungnehmenden Publikums eigentlich stützt, zu vibrieren. Dann verändern sich die Kräfteverhältnisse zwischen Zivilgesellschaft und politischem System (…). Trotz geringer organisatorischer Komplexität, schwacher Handlungsfähigkeit und struktureller Benachteiligung erhalten (zivilgesellschaftliche Akteure) dann nämlich, für die kritischen Augenblicke einer beschleunigten Geschichte, die Chance, die Richtung der konventionellen eingespielten Kommunikationskreisläufe in der Öffentlichkeit und im politischen System umzukehren und damit den Problemlösungsmodus des Systems zu verändern.»

6. Modelle der Selbstregulierung

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Wo stehen wir heute im Prozess, der 1954 begann? Die Studie «Comparing Media Systems» von D. C. Hallin und P. Mancini (2000) beschreibt drei Modelle der Selbstregulierung, welche die Medienszene charakterisieren: (1) ein «mediterranes oder pluralistisches und polarisiertes Modell», (2) ein mittel- und nordeuropäisches oder «demokratisch-korporatistisches» Modell und (3) ein «nordatlantisches oder liberales» Modell.

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Nach dem ersten Modell – pluralistisch und polarisiert – richten sich Griechenland, Spanien und Portugal, Italien und in gewissem Masse auch Frankreich. Italien überträgt die Aufsicht über die Deontologie einem vom Staat unabhängigen Berufsverband, der auch die Berufsbezeichnung vergibt. Dies ist ein Erbe des Faschismus, und es gibt eine offene Debatte über seine Wirksamkeit. In Frankreich haben die bewusstesten Medien eine «redaktionelle Charta» aufgestellt. Ein sehr ausgeklügeltes Instrument ist Le Style du «Monde», das erstmals im Jahr 2000 von der Zeitung veröffentlicht wurde; die schwere Krise von 2008 hat aber seine Grenzen und Schwächen aufgezeigt. Im Dezember 2019 wurde in Frankreich ein Conseil de déontologie journalistique et de médiation (CDJM) eingerichtet: «eine Vermittlungsinstanz zwischen Journalisten, Medien, Nachrichtenagenturen und der Öffentlichkeit in allen Fragen der journalistischen Deontologie». Die ersten «Empfehlungen» wurden im Frühjahr 2021 veröffentlicht, und das Interesse der Öffentlichkeit hat sich in der Einreichung mehrerer hundert Eingaben gezeigt. Es ist eindeutig zu früh, um den Nutzen und die Wirksamkeit des neuen Instruments zu beurteilen.

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Das «demokratisch-korporatistische» Modell wenden die Medien in Belgien, Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Norwegen, Finnland, Dänemark, Schweden und der Schweiz an. Die Journalisten erteilen einem repräsentativen Gremium die Befugnis zur Überwachung, zur Kontrolle und in einigen Fällen auch zu Sanktionen. In den letzten Jahren hat sich dieses Modell, das man als «Presseräte» bezeichnen könnte, weit über die Grenzen des alten Europas hinaus verbreitet, obwohl es zweifelhaft ist, ob der Grad an Freiheit und Autonomie, der den Medien gewährt wird, überall gleich ist.

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Das dritte Modell, das dem Vereinigten Königreich, Irland, Kanada und den Vereinigten Staaten eigen ist, wird als «liberal» bezeichnet, weil es sich nicht auf eine zentralisierte Regulierung oder Struktur stützt. Das Gleichgewicht soll sich aus der Effektivität informeller «Infrastrukturen» der Kontrolle ergeben, deren Wirksamkeit Stephan Russ-Mohl in seinem Buch «Der I-Faktor» lobt: «Gemeint ist mit Infrastrukturen jene Vielzahl von Initiativen und Institutionen, die mit ihren Aktivitäten qualitätssichernd den Journalismus prägen – also auf Journalismus Einfluss nehmen , in der Regel ohne selbst zur Erstellung von Medienprodukten etwas beizutragen. Beispielsweise sind dies Aus- und Weiterbildungsinstitutionen, Selbstkontrollorgane und andere media watchdogs, Journalistenverbände, aber insbesondere auch die Medienforschung und der Medienjournalismus». Neuere soziologische Untersuchungen scheinen leider eine eklatante Kluft zwischen den Medien und der amerikanischen Gesellschaft aufzuzeigen; wie eine im Jahr 2021 vom American Press Institute der Columbia University veröffentlichte Studie zeigt, ist das Vertrauen in die Medien beim amerikanischen Publikum zwischen 1970 und heute von 70 auf 40 % gefallen.

7. Eine erste Reihe von Schlussfolgerungen

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An dieser Stelle scheint es möglich, eine erste Reihe von Schlussfolgerungen zu ziehen.

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(1) Die Behauptung, dass eine Zeitung der alleinige Richter im eigenen Haus sein muss, abgesehen von dem Gehorsam, der den Gesetzen des Staates gebührt, ist unhaltbar. Der Begriff «Vertrag» zwischen der Redaktion und ihren Lesern, den «Le Monde» verwendet, um das Vertrauensverhältnis zwischen der Zeitung und ihrem Publikum zu definieren, ist faktisch ungenau und erweist sich in rechtlicher Hinsicht als widersprüchlich.

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(2) Gesetze reichen nicht aus, um die Qualität von Informationen zu schützen, wenn es kein professionelles Gremium gibt, das diese überprüft und beurteilt. In diesem Punkt hat die Episode um das Buch von Péan und Cohen gegen «Le Monde» den Beweis erbracht. Die Zeitung tat so, als ob sie die Konfrontation vor dem Zivilrichter gewinnen würde, zog dann aber die Klage wegen Verleumdung im Austausch für den Rückzug des anklägerischen Buches (das in der Zwischenzeit Tausende von Bürgern gelesen hatten) aus den Buchhandlungen. Die Kontroverse wurde durch eine aussergerichtliche Einigung beendet: wer und bei welchen Punkten der Anklagen von Péan und Cohen Recht hatte, wurde nicht festgestellt.

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(3) Selbst ein so wertvolles Instrument wie der Ombudsmann (oder Lesermediator), dessen sich «Le Monde» rühmte, ging verloren. Im Feuer der Kontroverse griff der Chefredakteur in einen Text des Ombudsmannes ein, der Gipfel professionellen Fehlverhaltens. Die aussergerichtliche Einigung verdeckte alles, selbst die Gewalt, die dem Schiedsrichter angetan wurde. Dies zeigte, dass die Garantien für die Unabhängigkeit dieser Funktion auf null reduziert werden können, wenn der Inhaber ein Angestellter auf der Gehaltsliste des Unternehmens ist. Wenn wirklich ein «Vermittler» benötigt wird, dann führt die Erfahrung zu dem Schluss, dass eine externe Bewertungs- und Urteilsinstanz nötig ist.



* Enrico Morresi
war von 1969 bis 1981 Chefredaktor des «Corriere del Ticino». Er ist Autor von Dokumentarfilmen und Produzent des Wochenmagazins «Centro» beim Fernsehen der italienischen Schweiz (1982-1992) und war Leiter der journalistischen Dienste bei Rete Due des Radio della Svizzera italiana (1993-1999). Er präsidierte den Tessiner Journalistenverband (1975-77), den Schweizerischen Journalistenverband (1980-82) und vertrat die Schweiz im Präsidium der Internationalen Föderation mit Sitz in Brüssel (1982-1986). Er war Mitglied des Schweizer Presserats (1984-1998) und präsidierte von 1998 bis 2011 die Stiftung des Rats. Zum Thema Ethik und Deontologie hat er zwei Aufsätze veröffentlicht: «Etica della notizia» (Casagrande, Bellinzona, 2003) und «L’onore della cronaca» (Casagrande, Bellinzona, 2008), «Giornalismo nella Svizzera italiana 1950-2000» (Dadò, Locarno, 1. Band 2014, 2. Band 2017). Für seine Studien zur Medienethik erhielt er 2020 den Preis der Dr. J.E. Brandenberger Nationalstiftung.

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