Demonstrierende im Scheinwerferlicht, Schleichwerbung, streitende Ärzte und andere Episoden

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Übersicht zur Praxis des Schweizer Presserats der Jahre 2021 und 2022

Michael Schweizer, Dr. iur., Rechtsanwalt[1]

Résumé: Après le record de 2020, le Conseil suisse de la presse avait à nouveau enregistré un impressionnant nombre de plaintes en 2021. L’année suivante, le bilan a retrouvé le niveau d’avant pandémie. Toutes ces plaintes témoignent d’un intérêt constant pour le travail d’éthique journalistique du Conseil de la presse. Le survol des années 2021 et 2022 révèle l’infinie diversité des cas traités: le corona occupe une place importante, mais aussi des commentaires journalistiques, des manifestations et de la publicité cachée. Des cas ont aussi concerné des conflits entre médecins, des professeurs controversés ou encore des entreprises dépassées par une situation et des journalistes manquant de collégialité. 

Zusammenfassung: Nach dem Rekordjahr 2020 ging beim Presserat im 2021 erneut eine beeindruckende Anzahl Beschwerden ein. Im 2022 sank die Zahl wieder auf das durchschnittliche Niveau der Jahre vor Ausbruch der Pandemie. Die zahlreichen Beschwerden zeugen vom ungebrochenen Interesse an einer medienethischen Beurteilung von Medienbeiträgen durch den Presserat. Die Praxisübersicht für die Jahre 2021 und 2022 gibt einen praktischen Einblick in die schier endlose thematische Vielfalt der behandelten Fälle: Vom Evergreen «schwerer Vorwurf oder nicht?» oder Dauerbrenner Corona über unbeliebte journalistische Kommentare, Demonstrierende im Scheinwerferlicht und indiskrete Schleichwerbung bis hin zu streitenden Ärzten, streitbaren Professoren, überrumpelten Unternehmen oder unkollegialem Verhalten unter Medienschaffenden.

I. Einleitung

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Mehr als 150 neue Beschwerden gingen 2021 beim Presserat ein. Unter Berücksichtigung bereits hängiger Verfahren erledigte der Presserat insgesamt 197 Verfahren, wovon 81 mit Stellungnahmen.[2] Die Zahlen sind ähnlich hoch wie im Rekordjahr 2020, in welchem die Anzahl eingegangener Beschwerden gegenüber dem Vorjahr um fast 50% angestiegen war.[3] Das hohe Interesse steht etwas im Widerspruch zum bisweilen erhobenen Vorwurf – er ist fast so alt wie der Presserat selbst –, Medienhäuser würden sich für die Stellungnahmen nur interessieren, wenn sie zu ihren Gunsten ausfallen. Das grosse Interesse an einer Beurteilung zeigt: Der Presserat wird durchaus als qualifizierte, unabhängige berufs- und medienethische Beschwerdeinstanz wahrgenommen.

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Den zusätzlichen Anstieg der Beschwerden ab 2020 führt der Presserat allerdings auch auf das anspruchsvolle Pandemiejahr zurück.[4] Damit ist er nicht allein. So verzeichneten etwa die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI, verantwortlich für die programmrechtliche Beurteilung der Sendungen schweizerischer Programmveranstalter, sowie die ihr vorgelagerten Ombudsstellen, aufgrund der Corona-Situation Rekordwerte.[5] Diese Annahme bestätigt die Entwicklung im 2022: Die Anzahl neuer Beschwerden beim Presserat sinkt auf den langjährigen Durchschnitt vor dem ersten Pandemiejahr.[6] Das Thema Corona bildete zu Jahresbeginn 2022 vereinzelt noch Gegenstand von Beschwerden und rückte danach in den Hintergrund.

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Auch bei der Anwaltschaft erfreuen sich die Beschwerden an den Presserat an wachsender Beliebtheit. Damit hält unweigerlich eine Unsitte aus der Rechtspraxis Einzug: 50 bis 100-seitige Eingaben. Im Jahrheft 2022 konnte sich der Presserat einen Hinweis auf Überlängen nicht verkneifen. Wieso auch? Gerichte ärgern sich darüber ebenso. Abhilfe schafft die per 1. Mai 2021 neu redigierte Regelung für mangelhafte Eingaben im Geschäftsreglement des Presserats. Demnach gelten weitschweifige, d.h. 20 Seiten überschreitende Eingaben als mangelhaft.[7] Hierfür kann der Presserat, wie bei unverständlichen oder offensichtlich unsachlichen Eingaben, innert Nachfrist Verbesserung verlangen.

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Nicht nur die Zahl der Beschwerden ist eindrücklich, auch die Vielfalt der behandelten Themen. Dabei prüft der Presserat im Rahmen einer Beschwerde regelmässig die Verletzung mehrerer berufsethischer Pflichten. 34 Verstösse zu konkreten Pflichten hat der Presserat im 2021 festgestellt; im 2022 deren 20. Angesichts der Vielzahl von Beschwerden und gerügten Pflichtverletzungen erschöpfen sich die Stellungnahmen oft mehrheitlich darin, die bisherige Praxis zu wiederholen und zu bestätigen.

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Vor diesem Hintergrund erhebt die nachfolgende Übersicht keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie ist vielmehr eine Annäherung an die Vielfalt der in den Jahren 2021 und 2022 behandelten Fälle. Die Übersicht gibt einen Einblick in die vielschichtige Praxis und soll die Konsultation derselben fördern. Hierzu gruppiert der Artikel jeweils eine Auswahl von Stellungnahmen unter ausgesuchte Sachthemen (II) und berufsethische Rechte und Pflichten (III). Dabei wird regelmässig auf einzelne berufsethische Aspekte einer Stellungnahme fokussiert.

II. Ausgesuchte Sachthemen

1. Corona: Von Leugnern, Skeptikern und redaktionellen Fehlschlüssen

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Im Jahr 2021 steckte die Schweiz noch in der Pandemie. Sinnigerweise beschäftigte sich der Presserat gleich in seinem ersten Entscheid und danach mehrfach mit dem Begriff «Coronaleugner» – namentlich unter dem Titel der Wahrheitspflicht, aber auch unter Aspekten wie der Trennung von Fakten und Kommentar oder des Diskriminierungsverbots. Als offensichtlich unbegründet beurteilte der Presserat in 1/2021 die erste Beschwerde. Die Bezeichnung Coronaleugner sei wahrheitsgetreu für einen Demonstrationszug, dessen Teilnehmende offensichtlich und mehrheitlich davon ausgehen, dass «Covid-19» keine wirkliche Gefahr darstelle und die Pandemie eine Erfindung sei.

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Auch liess sich der Presserat in 3/2021 nicht auf die wortklauberische Argumentation ein, dass kein Coronaleugner sei, wer die Existenz des Virus nicht in Frage stelle. Das Medium durfte einen Arzt als Coronaleugner bezeichnen, der öffentlich in selbsternannten Alternativmedien die Existenz der Pandemie in Frage stellte, weil sie auf falschen Tests und Fallzahlen beruhe. Zudem liess der Presserat die Bezeichnung «Pseudowissenschaft» zu für Ausführungen des Arztes, die nicht nachvollziehbar und belegt seien oder aus unglaubwürdigen Quellen und Portalen stammten.

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Für den Presserat änderte nichts, dass einzelne Wissenschaftler die Gefährlichkeit von Corona bestreiten. Die Wissenschaft komme ganz grossmehrheitlich zu anderen Schlüssen. Deshalb hielt der Presserat in Nr. 7/21 nochmals fest: Der Gebrauch des Begriffs «Leugnen» beim Bestreiten der Corona-Gefahr ist weder ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht noch gegen das Diskriminierungsverbot. Für falsch hält der Presserat den neutraleren Begriff «Coronaskeptiker» für Personen, welche die Gefährlichkeit oder sogar die Existenz von Corona bestreiten.

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Im Oktober 2021 titelten zwei Medien «93% der Verstorbenen nicht geimpft» bzw. «93 Prozent der Covid-Todesfälle sind Ungeimpfte». Sie nahmen Bezug auf Zahlen des Bundesamts für Gesundheit zur Anzahl Menschen, die seit Januar 2021 in der Schweiz verstorben waren oder ins Spital eingewiesen wurden. Die Medien schlossen daraus: Von 1’681 Verstorbenen waren 93 Prozent nicht gegen das Coronavirus geimpft. Nur rund sieben Prozent waren schon zweimal geimpft.

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Ein Beschwerdeführer sieht dadurch die Wahrheitspflicht verletzt. Gemäss Bericht setze sich die Zahl der angeblich Nicht-Geimpften zusammen aus 790 Nicht-Geimpften, 77 teilweise Geimpften und 702 mit unbekanntem Impfstatus. Die Medien anerkannten gleich selbst, dass ihre Berichte auf einem ungenügenden Umkehrschluss beruhten: Aufgrund der Aussage nur 7% seien geimpft, haben sie automatisch den Schluss gezogen, die übrigen Personen seien ungeimpft.

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Der Presserat bestätigte die Verletzung des Wahrheitsgebots und unterstrich: Die Berichte seien in einem sehr zentralen Punkt inhaltlich falsch – und dies in einem gesellschaftlich breit und heftig umstrittenen Thema. Die Redaktionen hätten besondere Sorgfalt im Umgang mit der Materie walten lassen müssen (5/2022).

2. Ukrainekrieg: Kein Dauerbrenner beim Presserat

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Wie in den Jahren zuvor die Pandemie, so beschäftigt der Ukraine-Krieg seit seinem Ausbruch im Februar 2022 die Schweizer Bevölkerung. Anders als Corona bildete die Kriegsberichterstattung aber nicht Gegenstand vieler Beschwerden. Aufgefallen sind zwei:

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Mit Blick auf das Wahrheitsgebot und das Verbot des Entstellens von Tatsachen rügte der Presserat die unmittelbar nach Kriegsausbruch publizierte Einschätzung «Ob SVP oder ‹Weltwoche›, ob Republikaner oder Fox News: Sie alle stehen stramm hinter dem russischen Präsidenten und seinem absurden Krieg.» Das Problem war nicht die Tonalität. Der Presserat betonte diesbezüglich einmal mehr den grossen Spielraum (siehe zur Kommentarfreiheit unten III. Ziff. 1). Fraglich war die Faktenbasis: In den Aussagen von SVP-Exponenten und in «Weltwoche»-Beiträgen lasse sich zwar Verständnis für die Haltung Putins erkennen. Dies würde im Rahmen eines Kommentars den ersten Satzteil rechtfertigen («Sie alle stehen stramm hinter dem russischen Präsidenten») – nicht aber den zweiten Teil. Im Ergebnis sei eine eigentliche Kriegsunterstützung durch SVP oder «Weltwoche» zum Zeitpunkt der Publikation nicht belegt (48/22).

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Eine Nebenbemerkung wert war dem Presserat die (durch die Kommentarfreiheit gedeckte) Kritik eines Journalisten, eine Korrespondentin habe unnötig mit schusssicherer Weste berichtet und so die Situation in der Ukraine dramatisiert. Für bedenklich hielt der Presserat, dass ein Berufskollege «vom Schreibtisch aus» die aus einem Kriegsgebiet berichtende Journalistin für das Tragen der Weste kritisiere. Das Tragen einer schutzsicheren Weste mache nicht nur im Kugelhagel Sinn. Die Kritik sei «zynisch und unangebracht»; in Kriegs- und Konfliktgebieten würden immer wieder Medienschaffende bei der Arbeit getötet (45/22).

3. Israel-Kritik: Von fliessenden Grenzen und Schlagseiten

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Die Grenze zwischen Kritik am israelischen Staat und Antisemitismus ist bekanntlich fliessend. Das illustriert 44/21. Ist die Wahrheitspflicht verletzt durch die Bezeichnung einer Bewegung als antisemitisch, die sich für Boykott, Desinvestition und Sanktionen gegen Israel einsetzt (BDS)? Ein ungutes Gefühl hinterlässt die pauschale Verteidigung der Beschwerdeführerin, Aktionen wie Konsumboykott richteten sich «gegen Institutionen nicht gegen Individuen». Gleichsam ist es just am Presserat, den Hinweis auf die legitime (politische) Meinungsäusserung von BDS mit Bedacht zu prüfen. Der Europäische Gerichtshof für Menschrechte hatte die Boykottaufrufe des BDS in einem Fall als zulässige Meinungsäusserung geschützt.[8]

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Die Umsetzung verläuft harzig: Der Presserat rügte das Medium mit einer Begründung, die scharf kritisiert wird. Ein Revisionsgesuch lehnte der Presserat ab. Er beurteilte den Fall trotzdem neu. Grund: Im Verfahren kritisierte die Beschwerdeführerin die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance. In einem Postulatsbericht hatte der Bundesrat just diese Definition als rechtlich nicht bindender Leitfaden für die Identifikation antisemitischer Vorfälle anerkannt. Der unmittelbar vor der Beratung publizierte Bericht war dem Presserat bei der Beurteilung nicht bekannt. Der Presserat bestätigte die Rüge, überarbeitete aber die Begründung und liess sich nicht (mehr) auf die Äste hinaus. Es sei nicht an ihm, widersprechende Expertenmeinungen zu BDS zu klären. Zu Recht fokussierte er aus medienethischer Sicht auf den Umgang des Mediums mit dem Vorwurf. Dieser wiege besonders schwer, weil der Boykott mit der Judenverfolgung im Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werde. Der Presserat erklärte, welche relativierenden Elemente das Medium hätte vorbringen müssen und – etwas kleinlich – an welcher Stelle im Text. Dafür kritisierte er nur mit einem Halbsatz, was das Medium allem voran hätte tun müssen: den Kritisierten die Möglichkeit zur Stellungnahme geben. Nicht nur ist dies bei schweren Vorwürfen zentrale Pflicht (dazu unten III. Ziff. 2). Der Inhalt einer allfälligen Stellungnahme beeinflusst auch Notwendigkeit und Umfang allfälliger relativierender Elemente.

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In 13/22 bildete das Thema Israel-Palästina allenfalls Hintergrund der behandelten Reportage. Es war aber nicht eigentlicher Gegenstand des Beitrags. Es ging um Anschuldigungen, die zur Demission des Direktors des Palästinenser-Hilfswerks UNRWA geführt hatten. In der Reportage kamen mehrere Hauptakteure und Kommentatoren zu Wort. Ein Beschwerdeführer kritisierte unter anderem, die Reportage zeige drei vermeintlich unabhängige und neutrale Protagonisten, darunter einen SP-Ständerat. Das Publikum erfahre aber nichts über deren antiisraelische Agenden und Publikationen oder Funktionen bei antiisraelischen Organisationen. Gleichzeitig prangere der Beitrag die frühere Mitgliedschaft von Bundesrat Cassis in der parlamentarischen Gruppe Schweiz–Israel mit tendenziösem Unterton an und unterstelle ihm eine pro-israelische Tendenz.

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Der Presserat wies die Beschwerde ab und stellte fest: Die unterschiedlichen, sich widersprechenden Auffassungen zum Werdegang und zu den Anschuldigungen des UNRWA-Direktors waren klar dargelegt, ebenso die Schlussfolgerungen des UNO-Untersuchungsberichts. Die Frage, ob die UNRWA insbesondere über den Vertrieb von Schulbüchern Thesen und Politik der «Hamas» weiterverbreite, werde deutlich angesprochen und mit Statements «markiert», sei aber ohnehin nicht das zentrale Thema des Beitrags. Die Frage musste deshalb auch nicht weiter vertieft werden.

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Nach Auffassung des Presserats war auch mehr Hintergrund zu den drei Protagonisten unnötig. Das Publikum habe diese klar einordnen können. Wenn aber der Beitrag schon die Verbindung von Bundesrat Cassis zur parlamentarischen Gruppe Schweiz-Israel thematisiere, wäre auch der Hinweis auf die Rolle des SP-Ständerats in der Gruppe Schweiz-Palästina wünschenswert gewesen.

4. Frustrierte Unternehmen: Schall und Rauch um Interviews

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Gelingt ein Interview nicht wie gewünscht, erheben Unternehmen bisweilen rasch (und laut) den Vorwurf, sie seien von Medienschaffenden «hereingelegt» worden. So auch ein Tabakunternehmen in 30/22. Schlaumeiereien kommen zwar vor. Der Fall zeigt indes das Gegenteil: der Journalist hatte vorgängig präzise über den Gegenstand des Interviews informiert. Für den Presserat war damit dem Vorwurf der Boden entzogen, die Strategie des Unternehmens, namentlich in Bezug auf das breit beworbene Alternativprodukt zur Zigarette, hätte im Gespräch nicht thematisiert werden dürfen. Darüber hinaus bestand keine berufsethische Pflicht des Journalisten, dem Unternehmen vorgängig die Quelle der entsprechenden Fragen mitzuteilen. Konkret ging es um ein unternehmensinternes Strategiepapier, welches dem Medienunternehmen vorlag.

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Auf Druck des Unternehmens hin machte das Medium die Antwort des Mediensprechers zum Strategiepapier mit einem «Beep» unkenntlich und verwies auf den Rückzug der Aussage durch das Unternehmen. Auch dagegen wehrte sich das Unternehmen. Das Vorgehen habe erst recht auf das Strategiepapier aufmerksam gemacht. Der Presserat erinnerte an das Recht der Medienschaffenden, wesentliche Änderungen des Interviews durch den Interviewpartner transparent zu machen. Nichts anderes habe das Medium gemacht. Diese Regel ist Überbleibsel einer älteren und teilweise widersprüchlichen Praxis. Sie nahm ihren Ursprung in medienethischen und praktischen Überlegungen. Demnach wird dem Interviewten zwar ein jederzeitiges, aber letztlich formales Rückzugsrecht betreffend die eigenen Aussagen gewährt. Bei wesentlichen Änderungen machen Medien den Vorgang transparent oder zitieren Äusserungen sogar indirekt. Nach Auffassung des Autors wäre im vorliegenden Fall zumindest persönlichkeitsrechtlich massgeblich, ob der Interviewte die Frage erwarten musste oder nicht. Musste er sie erwarten, bewegte sich das Interview also auch in diesem Punkt im Rahmen der Einwilligung, hätte das Medium die Antwort des Mediensprechers auch ohne «Beep» ausstrahlen können.[9]

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Auch das Wiederholen von Positionen Dritter löst oft Frust bei Befragten aus. «Die Rega und Alpine Air Ambulance ringen um die Vorherrschaft am Zürcher Himmel», so der Untertitel des fraglichen Medienbeitrags in 79/21. Als voreingenommen und unfair taxierte die Alpine Air Ambulance die Autorin. Diese haben zudem ein mehrmonatiges Volontariat bei der Rega verschwiegen (6 Jahre zuvor). Als Beweis für die Voreingenommenheit führte die Beschwerdeführerin an: Die Journalistin habe im Gespräch gesagt, sie frage jetzt «aus der Sicht der Rega», ob die Alpine Air Ambulance nicht Rosinenpickerei betreibe. Der Presserat winkte ab: «Eine in Interviews übliche, Transparenz schaffende Formulierung, die signalisiert, dass man nicht eine eigene, sondern die Position einer anderen Partei zur Diskussion stellt». Der Presserat sprach für einmal an, was dem Frust von Interviewten und Gesprächspartnern oft zu Grunde liegt: Der Artikel mag nicht aussagen, was die Beschwerdeführerin sich gewünscht hat. Das allein macht ihn aber noch nicht unethisch.

5. Whistleblower: Mais im Krankenhaus

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Viel Lärm gab es in Medien rund um den damaligen Leiter der Klinik für Herzchirurgie am Universitätsspital Zürich (USZ). Von ihm trennte sich das USZ einvernehmlich, nachdem Vorwürfe eines (später entlassenen) Whistleblowers und Mitarbeitenden des Spitals öffentlich diskutiert worden waren.

A. Medienkampagne?

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Viel Lärm um wenig gab es dazu in 25/21. Der anwaltschaftlich vertretene Herzchirurg warf dem Medium eine Kampagne vor und wehrte sich gegen eine Reihe von Artikeln. Der Presserat forderte den Beschwerdeführer auf, sich auf wenige repräsentative Artikel zu fokussieren. Offenbar begründete der Beschwerdeführer viele Vorwürfe nur allgemein, mit sich wiederholenden, nicht zuordenbaren Ausführungen. Wer sich im Presseratsverfahren anwaltschaftlich vertreten lässt und kostenbewusst bleiben will, der beschränkt sich also besser von vornherein auf 20 Seiten.[10] Eine Abfuhr erhielt der Versuch, mit dem Argument der Medienkampagne mehrere Artikel als «Tateinheit» anzusehen und so verpasste Beschwerdefristen bezüglich einzelner Artikel zu heilen.

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Der Presserat hielt fest: Er untersucht den pauschalen Vorwurf der Medienkampagne nicht. Entscheidend sei, ob sich Medienschaffende in Zusammenhang mit den konkret zu beurteilenden Artikeln berufsethisch korrekt verhalten. Es wird allerdings nicht das letzte Mal sein, dass Beschwerdeführer eine Medienkampagne kritisieren werden. Der Bundesgerichtsentscheid, der sich zum Schutz der Persönlichkeit eines ehemaligen Clubbesitzers äusserte, mag das vorschnelle Erheben dieses Vorwurfs befeuert haben.[11] Der vage Begriff Medienkampagne ist aber für sich allein auch rechtlich nicht massgeblich. [12] Insofern ist nachvollziehbar, dass sich der Presserat nicht auf den pauschalen Vorwurf der Medienkampagne eingelassen hat.

B. Zu späte Berichtigung nach Publikation des Untersuchungsberichts?

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Der verfahrensgegenständliche Artikel in 77/21 wiederholte schwere Vorwürfe, die gegen den Whistleblower selbst erhoben wurden. Der Presserat sah die Wahrheitspflicht nicht verletzt, obwohl der Whistleblower auf einen bald zu veröffentlichenden Untersuchungsbericht des Universitätsspitals verwies, der die Vorwürfe entkräften sollte. Das Medium machte die Medienmitteilung zum Untersuchungsbericht zum Gegenstand eines neuen, separaten Berichts. Der Presserat kritisierte, dass der ursprüngliche Artikel nicht mit dieser inhaltlich relevanten Ergänzung aktualisiert wurde. Angesichts der Schwere der Vorwürfe rügte der Presserat ebenso die Reaktionsfrist. 9 Tage nach der Publikation der Medienmitteilung sei «deutlich zu spät», weshalb eine Verletzung der Berichtigungspflicht vorliege.[13]

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Weiter rügte der Presserat das Medium, weil es den Whistleblower mit Namen identifiziert hatte; dies trotz seiner wichtigen Funktion im Universitätsspital und seiner aktiven Rolle bei der Informationsvermittlung an Medien (siehe dazu unten, III. Ziff. 4).

C. Berichterstattung über USZ: Medienschaffende vs. Medienschaffende

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In 18/22 beschäftigte sich der Presserat ein letztes Mal mit dem Thema. Medienschaffende eines Rechercheteams beschwerten sich gegen ein anderes Medium: Dieses habe in einer Artikelserie zu den Vorgängen rund um die Herzmedizin schwere Vorwürfe gegen das Rechercheteam erhoben, die Medienschaffenden aber nicht angehört. Parallel dazu zankten sich die Parteien im Zivilverfahren um eine Gegendarstellung.

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Mit Verweis auf 24/2015 erinnerte der Presserat: Auch wenn ein Parallelverfahren läuft, kann der Presserat auf eine Beschwerde eintreten, falls dabei unterschiedliche Fragen behandelt werden. Art. 11 des Geschäftsreglements will «verhindern, dass sich zwei unterschiedliche Instanzen mit der gleichen Frage beschäftigen». Vorliegend ging der Presserat aber von sich überschneidenden Fragestellungen aus: Es gehe in beiden Verfahren darum, ob gegen das Rechercheteam falsche bzw. schwerwiegende Vorwürfe gemacht wurden. Eine allfällige Verletzung der Anhörungspflicht gehe aus diesen Vorwürfen hervor.

III. Ausgesuchte berufsethische Rechte und Pflichten

1. Kommentarfreiheit: Von Medienschaffenden und ihren (unerwünschten) Meinungen

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Zwar kann sich der von sozialen Medien geprägte Alltag vor Meinungsäusserungen kaum retten. Mehr und mehr stören sich Beschwerdeführende daran, wenn dies Medienschaffende tun.

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Es ist grundrechtlich anerkannt: Medienschaffende dürfen neben der Wiedergabe von Tatsachen auch subjektiv kommentieren, werten und kontroverse Meinungen äussern – dies auch pointiert, verkürzt oder überzeichnend, unter Berücksichtigung der Art des Diskurses (z.B. politischer Kontext) und der journalistischen Form (z.B. Kolumne oder Satire). Der Kodex schützt die Kommentarfreiheit der Medienschaffenden ebenso.[14] Für subjektive Einschätzungen postuliert der Presserat praxisgemäss eine besonders grosse inhaltliche Bandbreite. Das wiederholt er in 73/21. Es ist das gute Recht aller, die Meinung von Medienschaffenden nicht zu teilen. Das ändert indes nichts an der grundsätzlichen Zulässigkeit der Meinungsäusserung, so 64/21.

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Aus medienethischer Sicht ist zentral: Das Durchschnittspublikum muss erkennen, ob Medienschaffende Fakten oder Meinungen äussern.[15] Das kann durch formale Elemente erfolgen wie zum Beispiel die gestalterische Trennung, die Bezeichnung oder sonstige Erkennbarkeit als Kommentar, oder das in den Vordergrund rücken der Autorenschaft, zum Beispiel durch das besondere Platzieren des Namens, das Einfügen der Kontaktadresse oder eines Fotos. Unter Umständen kann das Publikum sogar das subjektive Element aufgrund des Inhalts erkennen. Zu denken ist an den offensichtlich polemischen oder hämischen Charakter eines Kommentars (45/22). Den berufsethisch korrekten Mix gibt es nicht. Massgeblich ist die Wahrnehmung des Publikums.

  • Kein Zweifel offen lässt die Einleitung eines Texts als «Gastkommentar» (64/21).
  • Klar ist die Betitelung einer Kolumne als «Dinos Check»: Die Identifikation des Autors stelle den Bezug zum Namen «Dino» im Titel her. Weil diese Identifikation online fehlte, beurteilte der Presserat die Betitelung «Dinos Check» in der online-Version als ungenügend. Nicht alle, die online einem Text begegnen, seien geübte oder langjährige Lesende des Printtitels. Die Formulierung wirft eine Frage auf. Massgeblich sind nicht einzelne Lesende. Abzustellen ist praxisgemäss auf die Wahrnehmung der durchschnittlichen Leserschaft. Ging der Presserat somit selbstredend davon aus, im konkreten Fall kenne die durchschnittliche Online-Leserschaft die Print-Ausgabe bzw. die Kolumne nicht? Die Frage muss offen bleiben. Die Annahme ist im Entscheid nicht substantiiert (41/21).
  • Ein Text ist für die Leserschaft nicht hinreichend als Kommentar erkennbar: Ein System, das kommentierende Medienschaffende zu Beginn des Texts nennt, bei einer Berichterstattung dagegen am Ende des Texts (31/22).
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Ein Artikel kann sowohl berichtende wie kommentierende Elemente enthalten. Dies ist regelmässig bei Berichten von Korrespondentinnen und Korrespondenten der Fall. So kam der Presserat in 55/21 zum Schluss: Die Feststellung «Begnadigungen sind für Trump vor allem Freundschaftsdienste» ist eine erkennbar einordnende Beurteilung des Korrespondenten. Der Wert von Korrespondenten liege darin, dass die Leserschaft von ihnen Fakten und Einordnungen erhalte – und zwar von jemandem, der die Geschehnisse und deren Wirkungen vor Ort miterlebe und diese entsprechend besser beurteilen könne als die Redaktion oder die Leserschaft zu Hause.

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Eine für die Leserschaft nicht erkennbare Vermischung behandelt 31/22: Der Artikel kritisiert einen Gerichtsentscheid als behördenfreundlich. Nach Auffassung des Presserats erkennt die Leserschaft nicht, wo die Wiedergabe des Inhalts des Entscheids aufhört und die kritische Kommentierung beginnt. Dies gelte in diesem Fall umso mehr, weil dem Artikel eine ausdrücklich als Kommentar bezeichnete Passage folge.

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Anders 71/21: Die ein Interview begleitenden Textelemente seien klar als Meinung des Interviewers erkennbar. Deshalb sah der Presserat keine Verletzung der Trennung von Fakten und Kommentaren, auch wenn der Interviewer selbst anonym blieb – ein Umstand, welcher dem Presserat eine rare Klammerbemerkung mit Ausrufezeichen wert war.

2. Anhörungspflicht: Von mehr oder weniger schweren Vorwürfen

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Journalistinnen und Journalisten haben die Pflicht, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören.[16] Die zur Publikation vorgesehenen Vorwürfe sind präzis zu benennen. Der Sichtweise der Betroffenen muss im Bericht nicht derselbe Umfang zugestanden werden wie der Kritik. Aber ihre Stellungnahme ist im Bericht fair wiederzugeben. Das ist mit Blick auf das Fairnessprinzip eine bedeutende, praxisrelevante Pflicht. Entsprechend häufig äusserte sich der Presserat dazu. Praxisgemäss gilt als schwerer Vorwurf ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten. Diese Definition bestätigte der Presserat in mehreren Entscheiden.

A. Schwere Vorwürfe

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Ein schwerer Vorwurf liegt in folgenden Fällen vor:

  • Der Titel, eine Person habe «Alte im Stich» gelassen und die damit verbundene Unterstellung an den verantwortlichen Regierungsrat und kantonalen Gesundheitsdirektor, er habe den Tod in Kauf genommen. Der Artikel verfolgte (zulässigerweise) die These, ob Corona-Todesfälle in Altersheimen vermeidbar gewesen wären. Eine besonders betroffene Institution habe beim Gesundheitsdepartement um Hilfe zur Erarbeitung von Schutzkonzepten ersucht, aber zu spät Unterstützung erhalten (Anhörung zu Unrecht nicht erfolgt in 11/21).
  • Der Vorwurf in einem Tatsachenbericht, ein Gutachter stelle überrissene Rechnungen: Ein solcher Vorwurf suggeriere zumindest Unehrlichkeit und potenziell illegales Verhalten – unabhängig davon, ob im Artikel konkret ein strafbares Verhalten erwähnt werde (Anhörung zu Unrecht nicht erfolgt in 70/21).
  • Der Vorwurf an ein Medienunternehmen, es habe mit öffentlichen Geldern indirekt terroristische Aktivitäten finanziert: Das Unternehmen hatte einen Mitarbeitenden beschäftigt, bei dem sich nachträglich eine Verbindung zum Terrorismus ergab und der schliesslich in der Schweiz verhaftet und verurteilt wurde. Damit werde eine Verbindung hergestellt zwischen der Beschäftigung und der Haltung des Unternehmens zu Terrorismus. (Anhörung zu Unrecht nicht erfolgt in 46/2021).
  • Der gegenüber einem Medienunternehmen bzw. einer Journalistin erhobene Verdacht, sie habe im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zum Stand eines umstrittenen Buchprojekts unwahre Angaben gemacht: Vor Gericht die Unwahrheit zu sagen sei «im Moral- und Rechtsverständnis einer durchschnittlichen Leserin oder eines Lesers zweifellos ein gravierendes Fehlverhalten». An der Pflicht zur Anhörung ändere nichts, dass der Verdacht als Frage formuliert ist (Anhörung ungenügend in 28/22, siehe dazu auch unten C).
  • Anhörungspflicht bestätigt gegenüber dem früheren Präsidenten eines Verbands, obwohl die Vorwürfe – fahrlässige Planung, verschwenderischer Umgang mit Verbandsmitteln in Zusammenhang mit einem Museumsprojekt – gegen den Verband «als Ganzes» erhoben wurden. Im fraglichen Artikel werde erwähnt, das aktuelle Verbandspräsidium habe Strafanzeige wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung eingereicht. Zudem werde die Rolle des früheren Präsidenten in Bezug auf spezifische Etappen des Projekts implizit wie explizit thematisiert (abgewiesen, da Anhörung erfolgt in 22/22).

B. Keine schweren Vorwürfe

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Kein schwerer Vorwurf und damit keine Anhörungspflicht ergab sich in folgenden Fällen:

  • Beim Vorwurf der üblen Nachrede, soweit er sich aus einem amtlichen Dokument ergibt (in casu knapp; allerdings suggeriere der Artikel insgesamt eine Verurteilung, obwohl der Strafbefehl noch nicht rechtskräftig war. Das beurteilte der Presserat als Entstellung von Tatsachen; 17/21).
  • Scharfe Kritik an Gerichtsentscheid, die als Kommentar erkennbar ist und schwergewichtig das Handeln des Gerichts betrifft – dies obwohl die Kritik, der Entscheid erlaube «lasches oder gar irreführendes Vorgehen gegen das Stimmvolk» von der Stadtregierung indirekt als schwerer Vorwurf ihr gegenüber interpretiert wurde (31/22).
  • Scharfe Kritik am Management eines Schweizer Fussballklubs betreffend Führungsstil und Politik (18/21).
  • Der Vorwurf, die Kirche würde mit Steuergeldern eine wirtschaftsfeindliche Initiative unterstützen (Konzernverantwortungsinitiative). Der Presserat wies darauf hin: Kritische Äusserungen im politischen Diskurs, die unter das «öffentliche Interesse» fallen, bilden ohnehin eine Ausnahme von der Anhörungspflicht gemäss Richtlinie 3.9 (15/21).
  • Der für Durchschnittslesende auch «zwischen den Zeilen» nicht zwingend lesbare Vorwurf der Amtsgeheimnisverletzung. Dieser Entscheid war nicht unumstritten. Der Presserat unterstrich, der betreffende Punkt sei für das Verständnis des Artikels nicht von zentraler Bedeutung (10/21).
  • Der Vorwurf an eine Person, die sich im Rahmen von Vereinsaktivitäten gegen Gewalt im Netz engagiert, sie habe einen streitbaren redaktionellen Tweet geliked. Zentraler Aussagegehalt des Tweets war ein Meme mit dem durch eine Guillotine abgetrennten Kopf. Über den ursprünglich gezeichneten Kopf war das Foto einer Journalistin montiert. Der satirisch gemeinte Tweet nahm gemäss den Autorinnen Bezug auf Hinrichtungsmetaphern der Journalistin. Eine Anhörung der Vereinsperson war nicht nötig (36/22).
  • Der Vorwurf, eine Journalistin sei voreingenommen, zeige ein anti-israelische Schlagseite und verletze publizistische Leitlinien des eigenen Mediums sowie berufsethische Pflichten. Im Artikel wurde der Journalistin vorgeworfen, sie habe zur Verteidigung des zurückgetretenen Direktors des Palästinenser-Hilfswerks UNRWA in ihrem Beitrag drei Kronzeugen mit anti-israelischer Agenda zu Wort kommen lassen. Dies habe sie nicht transparent gemacht. Ebenso habe die Journalistin Bundesrat Cassis eine pro-israelische Haltung unterstellt. Nach Ansicht des Presserats sind das zwar «fraglos sehr gravierende Vorwürfe an die Adresse der Journalistin, aber sie betreffen nicht illegales oder vergleichbares Verhalten» (14/22). Siehe oben II. Ziff. 3 zur Beschwerde 13/22 gegen den Bericht der Journalistin.

C. Modalitäten der Anhörung

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Liegt ein schwerer Vorwurf vor, ist die Anhörung ausnahmsweise verzichtbar[17]:

  • bei schweren Vorwürfen, die sich auf öffentlich zugängliche amtliche Quellen stützen (z.B. Gerichtsurteile).
  • wenn ein Vorwurf und die zugehörige Stellungnahme bereits früher öffentlich gemacht worden sind. Zusammen mit dem Vorwurf ist die frühere Stellungnahme wiederzugeben.
  • wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist.
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In 28/22 hielt der Presserat fest: Solange keine dieser Ausnahmen vorliegt, ersetzen Zitate aus der anwaltschaftlichen Eingabe der betroffenen Person im Rahmen eines Gerichtsverfahrens die Anhörung nicht. Insbesondere handle es sich dabei nicht um eine «öffentlich zugängliche amtliche Quelle» wie ein Gerichtsurteil.

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Wer wissen möchte, was in einer Anhörung gerade noch so geht, liest die umständlichen Ausführungen in 14/22: Im konkreten Fall habe der Journalist die wichtigsten Vorwürfe effektiv vorgängig unterbreitet «zwar nur in Form einer einzigen Frage mit langem Vorlauf, zwar nicht auf dem eigentlich dafür vorgesehenen Weg, zwar ohne darauf hinzuweisen, dass er einen Artikel (…) plane, zwar mit einer zu kurzen Antwortfrist und zwar mit einer entschieden vorgefassten Meinung (…); und mit unprofessioneller Tonalität. Wichtig war für den Presserat, dass der Journalist sich klar als «solcher zu erkennen gab, der einen Artikel plane». Liess der Presserat Milde walten, weil sich die Anhörung an eine Redaktion richtete? Tatsächlich können sie eine journalistische Anfrage aus eigener Erfahrung gut einordnen, interpretieren und beantworten. Dann müsste diese Überlegung allerdings auch für andere medienerfahrene Personen gelten wie zum Beispiel professionelle Medienbeauftragte von Unternehmen. Falls dem so ist: Es wäre wünschenswert, dass der Presserat solche Überlegungen transparent macht. Andernfalls entstehen falsche Eindrücke über die (im konkreten Fall doch eher tiefen) Anforderungen an eine Anhörung.

3. Schutz der Privatsphäre: Private und ihre öffentlich zur Schau gestellte Meinung

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Namen nennen oder nicht? Die praxisrelevante Frage stellt sich jedes Mal in neuem Kontext und führt immer wieder zu Diskussionen – auch innerhalb des Presserats.

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So rügte der Presserat in 77 /21, ein Medium habe den Namen eines Whistleblowers entgegen den berufsethischen Vorgaben zur Identifikation transparent gemacht. Der Entscheid kam erst nach kontroverser Diskussion zustande. Die Gründe dazu listet der Presserat gleich selbst auf: Die betroffene Person habe eine wichtige Funktion in einem staatlich kontrollierten und von Steuerzahlenden finanzierten Unternehmen. Er sei nicht nur Whistleblower, sondern wichtiger und aktiver Akteur. Seinen Namen habe er zwar lange aus den Medien gehalten, aber diese grosszügig mit seiner Sicht der Dinge beliefert. Für die Mehrheit war letztlich entscheidend: Kein Mehrwert. Die Leserschaft könne sich auch ohne Namen ein geeignetes Bild über die Vorfälle machen. Das Interesse am Schutz der Privatsphäre überwiege deshalb das öffentliche Interesse an der Identifikation.

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In einem anderen Fall beurteilte es der Presserat in Zusammenhang mit Vorwürfen des «autoritären Machismus» als zulässig, einen Universitätsprofessor und Institutsleiter mit Namen und Bild zu identifizieren, der auch regelmässig als Fachexperte in Medien auftritt (38/22).

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Ein Sonderfall sind Demonstrationen: Das sind wesensgemäss öffentliche Veranstaltungen. Deshalb gilt der Schutz der Privatsphäre nur eingeschränkt.[18] Ein Artikel identifizierte zwei Personen, die im Kontext einer Klimademonstration die Eingänge der Credit Suisse besetzten und deswegen gebüsst wurden. Nach Auffassung des Presserats haben die Personen mit der Besetzung einen Polizeieinsatz und strafrechtliche Folgen in Kauf genommen. Schliesslich seien sie wegen Hausfriedensbruch und Nötigung verurteilt worden. Wer auf diese Weise bewusst Öffentlichkeit herstelle, könne sich den Medien gegenüber nicht auf den Schutz der Privatsphäre berufen (52/21).

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So kurz zusammengefasst mag die Feststellung bei der Leserschaft einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. Worin liegt der journalistische Mehrwert, zwei Klima-Demonstrierende gegenüber einem nationalen Publikum namentlich zu identifizieren? Eine Frage, die der Presserat in 65/21 in Zusammenhang mit einer digitalen Demonstration auf Twitter explizit aufgeworfen hat.

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Die Feststellung suggeriert nämlich, dass die Teilnahme an einer Demonstration komme einer impliziten Einwilligung in eine weitergehende Identifikation in nationalen Medien gleich, z.B. durch Namensnennung. Selbstverständlich ist jede Demonstration eine öffentliche Meinungsbekundung. In der Praxis des Presserats zu Demonstrationen steht im Vordergrund: Die Berichterstattung führt zwangsläufig dazu, dass Dritte das Gesicht von Teilnehmenden erkennen und damit die Person identifizieren können. Es ist in der Tat nicht Rolle der Medien, Demonstrierenden eine anonyme Teilnahme zu gewährleisten. Wer sicher nicht erkannt werden will, ist an einer Demonstration fehl am Platz. Das Erfordernis der Namensnennung ist mit Blick auf das Informationsinteresse in der Regel aber nicht zwingend, soweit die Teilnehmenden dazu keinen Anlass geben oder bereits bekannt sind. Zudem finden auch in der Schweiz  Demonstrationen statt, die für Teilnehmende mit indirekten Gefahren verbunden sein können, etwa weil im Falle der Identifikation ihren Familien im Heimatland Repressionen drohen. Hier werden Medien schon bei der Bildauswahl nicht ohne journalistischen Mehrwert Personen unnötig exponieren, die an der Demonstration in der Masse aufgehen. Das gilt mit Blick auf die Unschuldsvermutung auch für Bilder von Festnahmen.

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Tatsächlich erfüllt ein (wie hier sogar provokativer) Auftritt an einer Demonstration die berufsethischen Voraussetzungen für die Identifikation.[19] Aber der Umgang mit dem konkreten Namen ist nach Auffassung des Autors differenziert zu handhaben. Dass sich Teilnehmende einer Demonstration nicht auf die Privatsphäre berufen können, sollte für sich allein nicht Grundlage sein für die unnötige (zusätzliche) Identifikation von Teilnehmenden. Deshalb sei angefügt, was sich erst aus der Lektüre des gesamten Entscheids ergibt: Der fragliche Artikel berichtete nicht generell über die Demonstration. Er thematisierte die Zusammensetzung der Demonstrierenden und beleuchtete deren Hintergrund exemplarisch. Thema waren etwa die Verbindungen zu einer konkreten Umweltschutzorganisation oder der politische Kontext wie zum Beispiel öffentliche Ämter oder Kandidaturen. Das Medienunternehmen wies denn auch darauf hin, dass die Beschwerdeführerinnen sich selber als politische Aktivistinnen bezeichneten und zuvor schon öffentlich aufgetreten waren.

4. Diskriminierungsverbot: Sexismus, Klischees und amtliche Bibelstunden

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In Fall 51/21 rügte der Presserat einen Bericht über das neue Amt von Ngozi Okonjo-Iweala mit dem Titel «Diese Grossmutter wird neue Chefin der Welthandelsorganisation». Nicht der Hinweis auf die Grossmutterschaft per se war problematisch. Diskriminierend sei im Kontext des Berichts die Reduktion der 66-jährigen Frau, Ökonomin, ehemaligen Harvard-Absolventin, Finanz- und Aussenministerin eines grossen Landes und stellvertretende Generaldirektorin der Weltbank auf die Charakterisierung als Grossmutter. Bleibt anzumerken: Das Medium hatte sich aufgrund von Publikumsreaktionen drei Tage später von sich aus  für den unglücklichen Titel entschuldigt. Trotz dieser Korrekturmassnahme trat der Presserat auf die Beschwerde ein; potenziell diskriminierende Berichterstattung sei kein Fall von geringer Relevanz gemäss Art. 11 Abs. 1 des Geschäftsreglements.

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Ab und an verwischen Beschwerdeführende die Grenzen zwischen dem Diskriminierungsverbot und dem Schutz der Privatsphäre. So etwa in 3/22, der zudem zeigt: Auch Ämter gelangen an den Presserat. Das Generalsekretariat des Eidgenössischen Finanzdepartements wehrte sich gegen eine Artikel-Serie, die den Direktor des Bundesamts für Zoll und Grenzsicherheit diskreditiere und diffamiere. Kritisiert wurden nicht nur Darstellungen bezüglich der Amtsführung. Das EFD störte sich auch an «privaten Episoden». Sie hätten mit dem Inhalt der Berichterstattung kaum etwas zu tun. Unter anderem beurteilte das EFD den Hinweis auf die religiöse Zugehörigkeit des Direktors als diskriminierend.

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Der Presserat hatte nicht den geringsten Zweifel, dass die Amtsführung des Direktors, seine Eignung dazu, sein Umgang mit dem Personal und die daraus folgenden Konsequenzen für die Arbeit der Behörde von grossem öffentlichem Interesse sind – auch wenn er das umfangreiche Serien-Format nicht als zwingend beurteilte. Ebenso sei der Direktor des Bundesamts mit 4’500 Mitarbeitenden eine Person des öffentlichen Interesses; die Schwelle zur Wahrung der Privatsphäre sei entsprechend tiefer anzusetzen als bei Privatpersonen. An der Erwähnung der religiösen Zugehörigkeit bestehe dann ein öffentliches Interesse, wenn diese sich in seiner beruflichen Tätigkeit in problematischer Weise manifestiere. Das sei nicht der Fall. Für den Presserat stellte sich denn auch keine Frage bezüglich der Verletzung des Diskriminierungsverbots. Dieses setze praxisgemäss voraus, dass die fragliche Äusserung negative Vorurteile gegen Minderheiten bestärken könne. Vielmehr stellte der Presserat eine Verletzung des Schutzes der Privatsphäre fest. Dem Presserat fehlte im Übrigen ein plausibilierender Beleg für die (vom Direktor bestrittenen) Bibelstunden im Berufsumfeld. Man darf vermuten: Die Beurteilung wäre sonst anders ausgefallen.

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Von einem «echten» Diskriminierungsvorwurf handelt 49/21: In einem Meinungsbeitrag habe der Autor tatsächliche und vermeintliche diskriminierende Vorgänge thematisiert, denen Jüdinnen und Juden in der Schweiz ausgesetzt sind. Dabei habe er selber Klischees und Stereotype reproduziert und sich nicht davon distanziert. Es sei deshalb der Eindruck entstanden, gewollt oder ungewollt, dass der Autor einige dieser Stereotype teile. Der Presserat stellte jedoch «knapp» keine Verletzung des Diskriminierungsverbots fest. Es fehle die praxisgemäss erforderliche Mindestintensität. Der Presserat schien etwas hin- und her gerissen. Das zeigen zwei Vorbehalte in die entgegengesetzte Richtung. Der Presserat sehe sich nicht als Hüter der politischen Korrektheit; also ein Ja zur Meinungsäusserungsfreiheit. Gleichzeitig mahnte er das Medium an, «bei Artikeln über Diskriminierungserfahrungen von Gruppen oder Individuen in Zukunft erhöhte journalistische Sorgfalt an den Tag zu legen».

5. Wahrheitsgebot: Von Zuspitzung, Verkürzung und Wortklauberei

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Ein Beitrag thematisierte unter dem Titel «Kubanische Ärzte versklavt» die kubanische Ärztebrigade, die um die Welt reise und Länder mit schwachem Gesundheitssystem unterstütze. Dabei handle es sich für die kubanische Regierung vor allem um ein Geschäft. Von dem, was die ausländischen Regierungen für die Einsätze bezahlten, erhielten die Ärzte und Ärztinnen selber nur ein Bruchteil. Deshalb suchten einige Ärzte, die sich ins Ausland abgesetzt hatten, auch einen Rechtsweg.

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Der Presserat sah eine Verletzung des Wahrheitsgebots im Titel «Kubanische Ärzte versklavt». Zwar sei es praxisgemäss zulässig, einen Sachverhalt im Titel stark zuzuspitzen, wenn er dadurch auf den Punkt gebracht werde. Dies aber nur, wenn in unmittelbarer Umgebung, zum Beispiel im Untertitel, eine Präzisierung stattfinde. Der Untertitel «Havanna schickt Mediziner-Brigaden in alle Welt und kassiert dabei ab» relativiere die Schlagzeile nicht. Damit bleibe eine unbelegte Tatsachenbehauptung stehen (02/22).

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Die apodiktische Beurteilung mag auf den ersten Blick erstaunen. Just aus dem Lead ergab sich den Durchschnittslesenden, dass der Begriff Sklaverei primär auf ausbeuterische Konditionen referenzierte («abkassieren»). Das wäre eine Relativierung. Der Artikel konkretisierte zudem verschiedene Aspekte dieser Konditionen. Im Artikel selbst erkannte der Presserat keine Verletzung des Wahrheitsgebots. Auch das Wort «abkassieren» im Lead und dessen pejorative Konnotation sei zulässig. Der kubanische Staat behalte unbestritten den grösseren Teil des Lohnes ein. Letzteres wird aber ebenso erst im Artikel vertieft. Allerdings thematisierte der Beitrag ein hängiges Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Der Vorwurf: Sklaverei. Damit stellte der Artikel selbst den Bezug her zur strafrechtlichen Komponente des Begriffs Sklaverei. Ein Urteil darüber stand aus.

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Sehr genau und unter Berücksichtigung des Sprachgebrauchs prüfte der Presserat die Verwendung des Begriffs «Dutzende» in 21/22. Eine Zeitung publizierte ein Interview mit der Justizministerin. Im Untertitel stand «In der Schweiz werden jährlich Dutzende Frauen von ihren Männern getötet.» Ein Beschwerdeführer kritisierte: Je nach Statistik würden pro Jahr 14 bis 24 Frauen im Rahmen häuslicher Gewalt umgebracht. Der Plural «Dutzende» sei falsch. Für den Presserat hat «Dutzende» im Sprachgebrauch eine doppelte Bedeutung. Erstens: Die Multiplikation von 12. Zweitens: «Eine grosse Menge» oder eine «unbestimmt grosse Anzahl». Daraus kombiniert der Presserat eine Regel. Dutzende bedeute «irgendeine grosse Anzahl, die jedenfalls über 24 liegen sollte». Die durchschnittlich 19 Femizide pro Jahr seien weder zwei Dutzend noch eine grosse Menge. Der Hinweis auf jährlich «Dutzende» getöteter Frauen sei somit irreführend. Die Differenz sei allerdings gering. «Am Problem ändert sich effektiv wenig, ob jährlich durchschnittlich 17, 19 oder 25 Frauen von ihren Partnern ermordet werden». Zudem sei die Anzahl im Artikel von untergeordneter Bedeutung. Fazit: Ein handwerklicher Fehler ja, aber kein medienethischer Verstoss.

6. Trennung zwischen redaktionellem Teil und Werbung: Von wenig diskreter Schleichwerbung

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Für den Presserat ist Ziff. 10 des Kodex eine zentrale Säule des unabhängigen, freien Journalismus: Medienschaffende vermeiden in ihrer beruflichen Tätigkeit jede Form von kommerzieller Werbung und akzeptieren keinerlei Bedingungen von Seiten der Inserenten.

58

Namentlich müsse die Leserschaft jederzeit wissen, womit sie es zu tun hat. Werbesendungen und bezahlte oder durch Dritte zur Verfügung gestellte Inhalte sind gestalterisch von redaktionellen Beiträgen klar abzuheben. Sofern sie nicht optisch bzw. akustisch eindeutig als solche erkennbar sind, müssen sie als Werbung deklariert werden. Medienschaffende dürfen diese Abgrenzung nicht durch Schleichwerbung in der redaktionellen Berichterstattung unterlaufen. Wer eine aktuelle Übersicht zu den Vorgaben und Verweise auf die bisherige Praxis sucht, der findet sie in 47/22.

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Die sehr klare und deutliche Kennzeichnung von Werbung ist für den Presserat wesentlich für den Erhalt von journalistischer Qualität und Glaubwürdigkeit. Er sieht sich bestätigt durch eine Untersuchung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft (ZHAW). Demnach realisiere die durchschnittliche Leserschaft selbst bei deutlich gekennzeichneten Formen von «Native Advertising» nicht, dass es sich dabei um bezahlte Inhalte handle (in 7/22).

A. PREMIUM = bezahlter Inhalt oder Qualitätsinhalt?

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«Warum Berner ihr Auto in Frutigen kaufen»; unter diesem Titel thematisierte ein Bericht ein Autohaus inklusive Fotos und Videointerview mit dem Auftraggeber. Die Autorin des Beitrags zeichnete regelmässig als Journalistin im redaktionellen Teil des Mediums. Über dem Titel des Artikels stand in sehr viel kleinerer Schrift das Wort «PREMIUM», gefolgt von der Byline «Frutigen» und Datum. Am Ende des Artikels, nach Adresse und Link zur Website des Autohauses, folgte ein Hinweis in sehr kleiner Schrift: «PREMIUM Informationen zum News Format Premium finden Sie hier». Der Link führte zum kommerziellen Angebot mit den Bedingungen für Werbeformen mit redaktionell unterstütztem Storytelling – gegen Zuschlag mit Beitrag in einer Nachrichtensendung. In 7/22 fand der Presserat klare Worte:

  • Die klein gehaltene Bezeichnung «Premium» zu Beginn des Artikels ist zu klein.
  • «Premium» signalisiert «hochwertig», «von erster Qualität» – nicht «bezahlter Inhalt».
  • Diese Täuschung wird zusätzlich verstärkt: Die Autorin ist der Leserschaft aus ihrer regulären redaktionellen Tätigkeit bekannt.
  • Die Publikation des Artikels in einer separaten Rubrik hilft nur, wenn das Publikum sie als Rubrik für bezahlte Inhalte erkennt.
  • Ein «besonders grober Verstoss» liegt zudem im kommerziellen Angebot, Inhalte in einer Nachrichtensendung zu platzieren.
  • Der Link mit Hinweis zu den Werbeform schafft zwar Transparenz. Der durchschnittlichen Leserschaft ist indes «nicht von Beginn weg» klar, was für eine Art Text vorliegt.

B. Positiver redaktioneller Bericht oder Publireportage?

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In 29/22 behandelte der Presserat einen redaktionellen Artikel über eine Veranstaltung mit einem Unternehmer und Alt-Bundesrat. Veranstalterin des Führungsseminars war das Unternehmen C. Die Beschreibung der Veranstaltung wird ergänzt mit einem Bild, welches die Veranstalterin zur Verfügung gestellt hat. Am Ende des Texts wirbt die Autorin für die nächste Ausgabe der Veranstaltungsreihe und weist auf weitere Angebote von C. hin, inklusive Website.

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Eine Beschwerdeführerin kritisierte, der Artikel sei Werbung für das Unternehmen C. und für den Alt-Bundesrat. Beide würden im besten Licht dargestellt. Zudem fehle der Hinweis, dass der Alt-Bundesrat Eigentümer des verantwortlichen Mediums sei

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Allein in der positiven Darstellung sah der Presserat keine Verletzung berufsethischer Plichten. Er stellte aber fest:

  • Die Autorin arbeitet nicht für das Medium, sondern für die Veranstalterin C.
  • Am Ende des Beitrags erfolgt Werbung für die nächste Veranstaltung und die Website von C.
  • Auf der Website werden Seminare mit dem Alt-Bundesrat zum Kauf angeboten.
  • Die begeisterte Beschreibung des Anlasses erinnert an eine Publireportage.
  • Der Beitrag kommt im üblichen Layout des Mediums in einer redaktionellen Rubrik daher.
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Vor diesem Hintergrund spiele es keine grosse Rolle, ob für den Artikel Geld geflossen sei oder nicht. Der Text habe einen starken Werbeeffekt; er sei aber nicht als Werbung deklariert. Der Benefit für die Redaktion könne auch darin bestehen, dass die Redaktion ohne Aufwand und kostenlos zu einem seitenfüllenden Inhalt mit einer zugkräftigen Persönlichkeit komme. Verdikt: Schleichwerbung.

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Irrelevant für die Beurteilung sei die Eigentümerstellung des Alt-Bundesrats. Es gebe kein Indiz für einen Auftrag an die Redaktion. Angesichts des öffentlichen Interesses am Alt-Bundesrat würden ohne Weiteres rein journalistische Gründe für den Bericht sprechen. Der Hinweis auf die Eigentümerstellung wäre aus Transparenzgründen aber ein nice-to-have.

C. Tipp des Chefredaktors oder Publireportage?

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Der Chefredaktor lobte in seinem Videoblog die finanzielle Lösung einer Investmentgesellschaft inklusive mündlichen Hinweisen auf die Website der Gesellschaft. Der Gründer der Gesellschaft sei ihm «persönlich bestens bekannt»; das sei «der Tipp». Für den Presserat war relevant: Der Bericht über die Investmentgesellschaft ist ausschliesslich positiv und lobend; am Ende des Beitrages erfolgt Werbung für die Webseite der Firma; der Bericht ist ähnlich aufbereitet wie eine Publireportage; der Beitrag hat einen starken Werbeeffekt, ist aber nicht als Werbung deklariert; der Bericht unterscheidet sich gestalterisch nicht vom restlichen (redaktionellen) Inhalt. Die Täuschung des Publikums werde zudem verstärkt: Die Äusserung erfolge durch eine Person, die der Leserschaft aus ihrer üblichen redaktionellen Tätigkeit als Chefredaktor bekannt sei. Fazit: Der Bericht verletzt Ziffer 10 des Kodex (47/22).


Fussnoten:

  1. Dr. Michael Schweizer, Rechtsanwalt, ist Inhaber der Schweizer recht AG in Bern und spezialisiert in Fragen des Medien- und Kommunikationsrechts.

  2. Siehe Jahrheft Presserat 2022, Presseratsstatistik 2021 S. 16, auffindbar unter https://presserat.ch/wp-content/uploads/2022/06/20_PR_jahrheft_2022_DE.pdf ; der Presserat stützt seine Entscheidungen auf die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» oder kurz «Journalistenkodex» (nachfolgend: Erklärung) sowie auf die von ihm erlassenen Richtlinien (nachfolgend: Richtlinien).

  3. Jahrheft Presserat 2022, a.a.O., Statistik 2011-2021, S. 17.

  4. Jahrheft Presserat 2021, a.a.O., S. 7, auffindbar unter: https://presserat.ch/wp-content/uploads/2021/06/SPR_Jahrheft_2021_DE-1.pdf

  5. Jahresbericht 2020 der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen, S. 2, auffindbar unter: https://www.ubi.admin.ch/inhalte/pdf/Dokumentation/Jahresberichte/Jahresberichte_DE/jb2020.pdf; Jahresbericht 2021, S. 2, auffindbar unter: https://www.ubi.admin.ch/inhalte/pdf/Dokumentation/Jahresberichte/Jahresberichte_DE/jb2021.pdf

  6. Einschätzung auf Basis vorläufiger Zahlen des Presserats. Die offiziellen Zahlen erscheinen erst im Verlauf des Jahres im Jahrheft 2023.

  7. Art. 9a Geschäftsreglement des Schweizer Presserats, abrufbar unter https://presserat.ch/der-presserat/geschaeftsreglement/

  8. Siehe zum Urteil Baldassi u.a. gegen Frankreich und zum Urteil Willem gegen Frankreich, mit gegenteiligem Schluss bezüglich des Aufrufs zum Boykott israelischer Produkte durch einen Amtsträger, Franz Zeller, Entscheidübersicht Verfassungsrecht und EMRK: Medienrelevante Rechtsprechung 2020, medialex 10/21, 7. Dezember 2021. ↑

  9. Siehe zum Recht am Wort Michael Schweizer, «Das Recht am Wort nach Art. 28 ZGB», medialex 4, 2011.

  10. Siehe zur entsprechenden Vorgabe des Presserats vorne, I. Einleitung.

  11. BGE 143 III 297.

  12. BGer 5A_658/2014 vom 6. Mai 2015, E. 9.3.

  13. Erklärung Ziff. 5; gemäss Richtlinien Ziff. 5.1 muss die Berichtigung «unverzüglich von sich aus wahrgenommen» werden.

  14. Ziff. 2 des Journalistenkodex.

  15. Ziff. 2.3 Richtlinie zum Journalistenkodex.

  16. Ziff. 3.8 der Richtlinie.

  17. Richtlinien Ziff. 3.9. ↑

  18. Richtlinien Ziff. 7.2.

  19. Richtlinie Ziff. 7.2: «Sofern die betroffene Person im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Medienberichts öffentlich auftritt oder auf andere Weise in die Veröffentlichung einwilligt».

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