«Arbeit mit versteckter Kamera braucht einen strikten Rahmen»

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Der Journalist Jean-Philippe Ceppi hat die Regelungen in vier verschiedenen Ländern untersucht

Résumé: Il n’y a pas qu’en Suisse que l’utilisation de caméras cachées pour des enquêtes journalistiques est soumise à des conditions très restrictives. L’auteur a – pour sa thèse – enquêté sur les règlements en vigueur aux Etats-Unis, en Grande-Bretagne, en France et, bien sûr, en Suisse également. Il peut ainsi révéler qu’en Suisse, contrairement à ce qui prévaut dans les pays anglo-saxons, c’est la protection des droits de la personnalité, comme par exemple l’article 179quater du Code pénal (qui interdit notamment l’usage du téléobjectif à l’insu d’une personne, quelles que soient les circonstances) qui explique les « restrictions drastiques » à l’utilisation des caméras cachées.

Zusammenfassung: Der Einsatz einer «versteckten» Kamera hat nicht bloss im Schweizer Journalismus einen schweren Stand. Der beim Westschweizer Fernsehen tätige Journalist Jean-Philippe Ceppi hat für seine historische Dissertation die diesbezüglichen Regelungen in den USA, Grossbritannien, Frankreich und in der Schweiz untersucht. Er kommt zum Schluss, dass in der Schweiz im Unterschied zu angelsächsischen Staaten investigativer Journalismus aufgrund von Bestimmungen zum Schutz von Persönlichkeitsrechten wie z.B. Art. 179quater StGB «drastische Einschränkungen» erfahre.

Dieses Interview, geführt von Gilles Labarthe, erschien in der Ausgabe 1/2023 des Schweizer Medienmagazins Edito (Orginalversion in französischer Sprache).

EDITO: Ihre 673 Seiten dicke Dissertation «Glisser sur une glace dangereusement fine – La caméra cachée en journalisme de télévision, en France, aux Etats-Unis, en Grande-Bretagne et en Suisse (1960–2015)» beleuchtet den Einsatz versteckter Kameras im Fernsehjournalismus in Frankreich, den USA, Grossbritannien und in der Schweiz zwischen 1960 und 2015. Was hat Sie dazu motiviert?

Jean-Philippe Ceppi: Der Ausgangspunkt sind Vorfälle, mit ­denen wir vor rund zehn Jahren bei RTS konfrontiert waren und die zu einem Quasi-Arbeitsverbot mit versteckter Kamera geführt haben. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Bei ­mehreren Themen, die wir mit «Temps présent» beackern wollten, stiessen wir auf Widerstand,  ja gar Verbote. Sie stützten sich auf den Entscheid 6B_225/2008 des Bundesgerichts vom 7. 10. 2008 gegen die Sendung ­«Kassensturz» des Schweizer Fernsehens (Anm. der Redaktion: Vier Mitarbeitende des Senders wurden wegen des Einsatzes einer versteckten Kamera verurteilt; sie hatten einen Versicherungsmakler «hereingelegt»; der Entscheid diente bis 2015 als Präzedenzfall). Der Einsatz der versteckten Kamera fiel danach bei uns ganz aus der journalistischen Praxis.

Gab es andere Ereignisse, welche die umfassende Recherche auslösten?

2012 hatten wir bei RTS eine heftige Auseinandersetzung ­wegen eines Beitrags über Auftragskiller in Genf. Wir hatten im Quartier Les Pâquis mit versteckter Kamera gedreht und fanden heraus, dass man einen Auftragskiller für 15 000 Franken anheuern konnte. Noch bevor diese Reportage ausgestrahlt werden konnte, wurde ich von RTS formell abgemahnt, weil ich die versteckte Kamera «unangemessen» und «ohne Genehmigung» eingesetzt haben soll. Das habe ich angefochten. Ich war betroffen und begann, mir Fragen zu stellen. Umso mehr, weil wir im Jahr 2010 in Genf die Global Investigative Journalism Conference (GIJC) organisierten und dabei sahen, wie Kolleginnen und Kollegen aus Afrika, China oder Indien die versteckte Kamera einsetzten. Das war beeindruckend! Wie war es möglich, dass die versteckte ­Kamera in diesen Ländern so breit eingesetzt wurde, während sie bei uns praktisch verboten war? Dazu kommt eine Inkohärenz: Bei «Temps présent» sind nämlich etwa ein Drittel der ausgestrahlten Beiträge auf dem internationalen Markt gekaufte Reportagen; bei einem Grossteil dieser investigativen Beiträge wird mit versteckten Kameras ­gearbeitet. Das hat mich bewogen, mich in die Recherche zu stürzen – eine Recherche, die, zugegeben, anfangs etwas «aktivistisch» motiviert war. Ich war, wie meine Kolleginnen und Kollegen vom «Kassensturz», davon überzeugt, dass die Praxis in der Schweiz «fehl am Platz» war. Deswegen legte die SRG gegen den Bundesgerichtsentscheid von 2008 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg Beschwerde ein – mit Erfolg (Entscheid des EGMR vom 24.2.2015 i.S. Haldimann c. Schweiz, Nr. 21830/09). Glücklicherweise hat der positive Entscheid aus dem Jahr 2015 dazu beige­tragen, die Situation in der Schweiz zu korrigieren.

Ihre Dissertation fusst auf beachtlich viel Archivmaterial, das Sie in vier verschiedenen Rechtssystemen untersucht haben.

Ich wollte die historischen Gründe der Sachlage in der Schweiz recherchieren, die Tradition des Undercover-Journalismus verstehen und die Erkenntnisse mit den USA, England und Frankreich vergleichen. Dank dieser vergleichenden Analyse versteht man besser, warum die Schweiz dort steht, wo sie zurzeit ist. Deontologische und rechtliche Regeln etablierten sich im Laufe der Zeit, Krisen mussten überwunden werden, sodass heute niemand mehr infrage stellt, dass die versteckte Kamera ein unverzicht­bares Recherche-Instrument ist, das einen sehr strikten Rahmen benötigt – einen Rahmen, den wir hier bei der SRG haben.

Die Erklärung der Pflichten und Rechte von Journalistinnen und Journalisten besagt, dass «unlautere» Methoden die Ausnahme sein sollten und nur dann eingesetzt werden sollten, wenn es sich um Infor­mationen handelt, die «nicht auf eine andere Weise beschafft werden können» und die von «überwiegendem öffentlichem Interesse» sind. Das gilt auch für die versteckte Kamera.

Ja, das ist grundlegend, selbst wenn die versteckte Kamera beispielsweise auch zu Testzwecken verwendet wird. Gerade in Konsumentensendungen kommt dies sehr häufig vor. Das überwiegende öffentliche Interesse ist dort zwar nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich, doch gewisse Informationen, die im Interesse der Konsumentinnen und Konsumenten sind, sind nur ohne das Wissen der gefilmten Personen zu erhalten. Das entspricht der journalistischen Tradition des «Mystery Shopping», das es seit Beginn des Konsumentenschutzes gibt. Man gibt sich als Kunde beziehungsweise Kundin aus, obwohl man in Wirklichkeit Produkte testen oder Preise vergleichen will. Für das Fernsehen ist man gezwungen, dies mit versteckter Kamera zu tun. Dasselbe gilt auch für Problematiken, die einzig durch Beobachten aufgedeckt beziehungsweise gezeigt werden können, so etwa Rassismus. Wir haben den Test mit einem afrikanischen Journalisten gemacht, der mit versteckter Kamera filmte: Er suchte einen Job, eine Wohnung und testete den Zugang in einen Nachtclub. Er wurde abgewiesen, während das europäische, «weisse» Team den Zugang ­zum Club erhielt.

Ein überwiegend öffentliches Interesse ist zwar nicht immer gegeben, die BBC drückt es aber wie folgt aus: Es wird eine soziale Fehlfunktion aufgedeckt – nicht in strafrechtlicher, sondern in sozialer Hinsicht. Meiner Meinung nach können wir auch in diesem Bereich den Einsatz der versteckten Kamera ausbauen.

Warum hinkt die Schweiz hinterher?

Der rechtliche und deontologische Rahmen hat sich in den USA und in Grossbritannien ganz anders entwickelt als im französischsprachigen Raum. Der erste Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung («First Amendment») verbietet Zensur mit all ihren Ausprägungen bereits in den 60er- und 70er-Jahren. Er erklärt die Rechte von investigativem Journalismus für unantastbar. In England spielte der ungebremste wirtschaftliche Wettbewerb eine wichtige Rolle. Er förderte die Kreativität und zwang die Justiz, Fernsehjournalistinnen mit Printjournalisten gleichzustellen. Letztere praktizierten den Undercover-Journalismus schon sehr lange. In den englischsprachigen Ländern hat er seit dem 19. Jahrhundert und den Recherchen der Amerikanerin Nellie Bly Tradition. Relativ schnell haben sie die gleichen Rechte eingefordert. Das Publikum ist auch sehr versessen auf diese Art von Journalismus. Der Bezug zu Intimität, zu Persönlichkeitsrechten und zur Informationsbeschaffung ist im Vergleich zum französischsprachigen Raum ganz anders.

Sie verweisen auf einen historischen Wendepunkt.

Zwischen 1967 und 1970 kristallisiert sich dieser grundlegende Scheideweg heraus: Die USA und Grossbritannien erleben, auch im Fernsehen, ein goldenes Zeitalter des investigativen Journalismus. Gleichzeitig setzen Frankreich und die Schweiz sehr starke Einschränkungen im Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte um, wodurch der investigative Journalismus und insbesondere der Fernsehjournalismus drastische Einschränkungen erfahren. In Frankreich gründet dies auf Affären in der Sensationspresse. In der Schweiz erschien ab 1959 der Blick, der die politische Klasse in Angst und Schrecken versetzte. So beeilte man sich hierzulande, den Journalistinnen und Journalisten eine «prophylaktische Behandlung» in Form des Artikels 179quater des Strafgesetzbuches zu verabreichen. Dieser verbietet unter anderem die Verwendung von Teleobjektiven ohne das Wissen der Person, egal unter welchen Umständen. Stellen Sie sich einmal vor: Sie beobachten live ­einen Mord und dürfen nicht fotografieren! Ein weiterer Aspekt ist, dass wir uns damals mitten im Kalten Krieg befanden. In der Politik wurden Horrorszenarien entworfen, wonach alle einander ausspionieren würden.

In Frankreich wie in der Schweiz verabschiedeten die Parlamente im Eiltempo Gesetze, die extrem repressive Regeln hinsichtlich der Recherchemöglichkeiten von Journalistinnen und Journalisten enthalten. Auffallend dabei ist, dass in keiner dieser parlamentarischen Diskussionen die Begriffe des Rechts der Öffentlichkeit auf Information, die Informations­beschaffung oder die Wächterfunktion der Medien auftauchen usw., Begriffe, die für eine demokratische Gesellschaft grundlegend sind!

Welcher Dokumentarfilm von «Temps présent» kann als gutes Bei­spiel herangezogen werden, um zu zeigen, dass dank der versteckten Kamera und im öffentlichen Interesse Missstände aufgedeckt werden können?

Der Dokumentarfilm über Misshandlungen in Pflegeheimen aus dem Jahr 1997. Seine Bilder schlugen ein wie eine Bombe, denn der Film zeigte Bilder von Misshandlungen. Ich möchte aber auch einen unserer letzten Dokumentarfilme erwähnen, der meiner Meinung nach ein gutes Beispiel dafür ist, was eine versteckte ­Kamera alles möglich macht: Es handelt sich um eine Reportage über den sogenannten Voluntourismus – eine Reiseform, zwischen Urlaubsreise und Freiwilligendienst («Tourisme humanitaire, le business de la honte», 2021). Er zeigt, dass die Erfahrungen, die junge Menschen im Ausland machen, grosse Probleme mit sich bringen. Beispielsweise hinsichtlich ihrer Sicherheit in Ländern, in denen die Situation ganz anders ist als in der Schweiz, aber auch betreffend Inkompetenz oder Aus­beutung von Frei­willigen im Rahmen eines lukrativen Geschäfts.

Um mit versteckter Kamera zu arbeiten, benötigt man eine Aus­bildung, eine journalistische Kultur, eine klare Vorstellung der journalistischen Pflichten und Rechte usw. Welche Leitlinien empfehlen Sie?

Die versteckte Kamera bleibt ein aussergewöhnliches Instrument der Ermittlung, das in einem sehr strengen ethischen, deonto­logischen und rechtlichen Rahmen eingesetzt werden muss. Bei RTS haben wir viele Regeln, angefangen bei einem internen Rahmen und Richtlinien, welche die allgemeinen Grundsätze festlegen und die sich aus dem Recht oder den Richtlinien des Presserats ableiten. Bei «Temps présent» haben wir eine extrem strenge Einsatzvereinbarung mit einer Checkliste, die ich von der BBC übernommen habe. So darf beispielsweise nicht willkürlich nach Bildern «gefischt» werden, alle Gesichter müssen systematisch verschwommen gezeigt werden und für die Sicherheit des Teams muss gesorgt sein usw. Man muss sehr professionell sein, um mit versteckter Kamera recherchieren zu können – von der Auswahl des Themas bis zur Ausstrahlung der Bilder.

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