Die unschuldigen Schuldigen

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Von den Tücken im Umgang mit der Unschuldsvermutung

Manuel Bertschi, Rechtsanwalt, Zürich

Résumé: Dans les comptes-rendus journalistiques d’affaires criminelles, la phrase «la présomption d’innocence s’applique» est aujourd’hui incontournable. Mais lorsque toute la contribution va dans le sens d’une pré-condamnation, cette formule ne suffit pas. Dans l’analyse qui suit, l’auteur met en lumière les effets de la présomption d’innocence sur la pratique journalistique. Il arrive à la conclusion que ce principe représente certes un défi pour les journalistes, mais que son application est tout à fait possible, pour autant que les professionnelles et professionnels des médias usent de la langue et de la sémantique avec compétence.

Zusammenfassung: In Medienberichten über Straffälle findet sich heute häufig irgendwo die Formulierung «Es gilt die Unschuldsvermutung». Doch diese Floskel allein hilft nicht, wenn der mediale Inhalt vorverurteilend ist. Der Autor beleuchtet die Auswirkungen der Unschuldsvermutung auf die journalistische Praxis und gelangt zur Auffassung, dass die Unschuldsvermutung an Medienschaffende zwar hohe Anforderungen stellt, es aber mit sprachlicher Kompetenz und Sinn für Semantik durchaus zu schaffen ist, diesen gerecht zu werden.

1. Verdachtsberichterstattung erfordert Geschick

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Mit einer aufwändigen Recherche gelang es dem Tages-Anzeiger unlängst, die Überlastung des Schweizer Strafjustizsystems aufzuzeigen.[1] Eine der Ursachen für diesen Missstand ist offenbar die steigende Anzahl der Strafanzeigen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Medien künftig entsprechend häufiger über Straffälle berichten werden. Bevor ein Urteil gefallen ist, geht es dabei um die Berichterstattung über den blossen Verdacht, dass eine Person eine Straftat begangen hat. Diese sogenannte Verdachtsberichterstattung erfordert journalistisches Geschick. Die grosse Herausforderung ist der Umgang mit der Unschuldsvermutung.

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Jede Person gilt bis zum Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Auch Medien müssen dieser Unschuldsvermutung Rechnung tragen. Das ist bundesgerichtlich[2] längst anerkannt und auch explizit den Richtlinien des Presserats[3] zu entnehmen. Medien müssen also öffentliche Vorverurteilungen unterlassen, damit ein zumindest indirekter Druck auf die verantwortlichen Justizbehörden vermieden und der Persönlichkeitsschutz der Betroffenen gewahrt wird. So selbstverständlich dies klingen mag, so häufig ist bei der Verdachtsberichterstattung ein unzureichender Umgang mit der Unschuldsvermutung zu beobachten. Prominente Beispiele, die diesbezüglich häufig ins Feld geführt werden, sind etwa die damaligen Berichterstattungen über Carl Hirschmann[4], Jürg Kachelmann oder Pierin Vincenz.[5] Öffentliche Vorverurteilungen, also Verletzungen der Unschuldsvermutung durch Medien, können sich unter Umständen sogar strafmindernd auf die Strafverdächtigen bzw. -täter auswirken.[6]

2. Blosse Floskel genügt nicht

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Das Bundesgericht setzt hinsichtlich des medialen Umgangs mit der Unschuldsvermutung hohe Hürden. Konkret wird verlangt, «dass auch im Rahmen eines grösseren Artikels stets, d.h. an jeder Stelle, wo der Verdacht einer Straftat erwähnt wird, nur eine Formulierung zulässig sein kann, die hinreichend deutlich macht, dass es sich einstweilen nur um einen Verdacht handelt und dass eine abweichende Entscheidung des zuständigen Strafgerichts durchaus noch offen ist.»[7] Der vorzitierte Bundesgerichtsentscheid hisst im Ergebnis auch eine Warnflagge bezüglich des häufig verwendeten und bloss floskelartigen Hinweises auf die Unschuldsvermutung («Es gilt die Unschuldsvermutung»). Die Floskel ist ungenügend, wenn der mediale Inhalt vorverurteilend und die beschuldigte Person erkennbar ist. Dies gilt selbst im Falle eines Geständnisses des Strafverdächtigen: Zwar darf ein Geständnis als solches benannt werden, es befreit Medienschaffende aber nicht von der Pflicht, der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen, da ein Geständnis der richterlichen Beweiswürdigung unterliegt und deshalb nicht automatisch einen Schuldspruch zur Folge hat.

3. Unschuldsvermutung und Namensnennung

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Weitaus weniger scharf verläuft die Linie zwischen erlaubter und unerlaubter Namensnennung der beschuldigten Person. Im Grundsatz gilt, dass eine Namensnennung – und in der Konsequenz eine identifizierende Berichterstattung – zu unterlassen ist.[8] Auch damit soll der Unschuldsvermutung und insbesondere der Privatsphäre des Beschuldigten Rechnung getragen werden. Als knifflig erweist sich die Rechtslage dort, wo Personen des öffentlichen Interesses betroffen sind. In derartigen Konstellationen ist eine Namensnennung entgegen landläufiger Meinung nicht per se zulässig, sondern nur sofern ein legitimes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit besteht.[9] Und selbst wenn, ist dieses Informationsbedürfnis mit dem Recht des Betroffenen auf Achtung seiner Privatsphäre abzuwägen. Überwiegt ersteres, kann eine Namensnennung im Rahmen einer Verdachtsberichterstattung gerechtfertigt sein. Etwa dann, wenn ein Verdacht auf eine Straftat im Zusammenhang mit der Amtstätigkeit eines Politikers oder einer Politikerin aufkommt.

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Doch der Teufel liegt im Einzelfall: Da offenbaren sich regelmässig komplexe Abgrenzungsfragen. Wann ist eine Beschuldigte, ein Beschuldigter eine öffentliche Person? Überwiegt das Informationsinteresse der Öffentlichkeit oder wiegt der Persönlichkeitsschutz des Betroffenen schwerer? Diese und weitere Fragen lassen Ermessensspielraum. Häufig erweist sich deshalb die Namensnennung als Zankapfel im Verhältnis zwischen Medienschaffenden und den Betroffenen der Berichterstattung. Auch bei der Kombination von anderen Identitätsmerkmalen wie Alter und Wohnort oder bei Fotos der Beschuldigten ist Vorsicht geboten. So entspricht es etwa einer weit verbreiteten Irrmeinung, dass ein die Augen verdeckender Balken der Anonymisierung genügend Rechnung trägt. Sicher ist: Die Unschuldsvermutung wiegt in der Regel schwerer als der Wunsch, die Neugier des Publikums zu befriedigen.

4. Erweiterte Anwendung der Unschuldsvermutung

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Die Vorgaben zum korrekten medialen Umgang mit der Unschuldsvermutung sind also streng. Die sprachliche Begabung und der Sinn für Semantik sollten es Medienschaffenden dennoch ermöglichen, sich im aufgezeigten Rahmen souverän(er) zu bewegen. Und dies nicht bloss im Zusammenhang mit einer klassischen Verdachtsberichterstattung, d.h. in einem strafrechtlichen Kontext, sondern auch dann, wenn Verdachtsmeldungen über strafrechtlich nicht relevantes Fehlverhalten verbreitet werden. So hat das Obergericht des Kantons Zürichs unlängst festgehalten, dass die Kriterien der Verdachtsberichterstattung, wozu insbesondere der rechtsgenügliche Umgang mit der Unschuldsvermutung zählt, sinngemäss auch auf angeblich rechtswidrige Verhältnisse in einer privat-rechtlichen Organisation anzuwenden sind.[10]

5. Fazit

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Der rechtsgenügliche Umgang mit der Unschuldsvermutung ist also für Medienschaffende von erheblicher Relevanz. Im Spannungsfeld zwischen der Medienfreiheit, der Befriedigung der MedienkonsumentInnen und der Achtung der Betroffenenrechte bedarf es einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit dieser Thematik, damit aus möglicherweise Unschuldigen keine Schuldigen herbeigeschrieben werden.


Fussnoten:

  1. https://www.tagesanzeiger.ch/schweizer-justiz-vor-dem-kollaps-ueber-100000-offene-faelle-925595145105.

  2. BGE 116 IV 31.

  3. https://presserat.ch/journalistenkodex/richtlinien/.

  4. BGE 143 III 297.

  5. https://www.nzz.ch/feuilleton/es-gilt-die-unschuldsvermutung-schreiben-journalisten-nur-wirkt-das-oft-wie-ein-hohn-ld.1710558.

  6. BGE 128 IV 97.

  7. BGE 116 IV 31.

  8. BGE 129 III 529; Hausheer/Aebi-Müller, Das Personenrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 2020, S. 219.

  9. BGE 129 III 529.; Hausheer/Aebi-Müller, Das Personenrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 2020, S. 219.

  10. OGer ZH, Urteil vom 12.12.2023 (LB230039).

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