newsletter 02/24

n

Die Unschuldsvermutung, das Vielfaltsgebot und die Auslegung des Begriffs «Gaga-Rechtsextremist»

Liebe Leserin, lieber Leser In Medienberichten über Straffälle findet sich heute häufig irgendwo die Formulierung «Es gilt die Unschuldsvermutung». Doch diese Floskel allein hilft nicht, wenn der mediale Inhalt vorverurteilend ist. Rechtsanwalt Manuel Bertschi beleuchtet im Beitrag «Die unschuldigen Schuldigen» die Auswirkungen der Unschuldsvermutung auf die journalistische Praxis und gelangt zur Auffassung, dass das Verbot der Vorverurteilung den Medienschaffenden zwar viel abverlangt, es aber mit sprachlicher Kompetenz und Sinn für Semantik durchaus zu schaffen ist, ohne Überschreitung des rechtlichen Rahmens zu berichten. Ende letzten Jahres befasste sich das Bundesgericht wieder einmal mit dem Vielfaltsgebot nach Art. 4 Abs. 4 RTVG. Es hatte im Entscheid 2C_859/2022 eine vom Fernsehen RTS ausgestrahlte Reportage zum vergifteten Klima im Vorfeld der Abstimmung vom November 2021 zum Covid-19-Gesetz zu beurteilen. Dabei hielt es fest, dass die Form der Sendung oder die eigene Einschätzung des Senders über den Zweck seiner Ausstrahlung zur Prüfung des Vielfaltsgebot vor Wahlen und Abstimmungen nicht massgebend seien. Rechtsanwalt Oliver Sidler bespricht unter dem Titel «Kurz vor einem Urnengang gilt ein sehr strenger Massstab» das Lausanner Urteil, das hohe Anforderungen an die journalistische Sorgfaltspflicht im Vorfeld von Urnengängen stellt. Im Februar hat erneut Nationalrat Andreas Glarner (SVP/AG) für ein medienrechtlich interessantes Urteil gesorgt, im Gegensatz zum Fall Arslan (siehe Newsletter 01/24) war er diesmal nicht Beklagter, sondern trat als Auskunftsperson in einem Ehrverletzungsverfahren auf, in welchem der «Watson»-Gründer Hansi Voigt angeklagt war. Voigt hatte Glarner 2022 auf Twitter als «Gaga-Rechtsextremist» bezeichnet. Der für das erstinstanzliche Urteil zuständige Präsident des Bezirksgerichts Bremgarten sprach Voigt vom Vorwurf der üblen Nachrede frei, denn dieser habe mit seinem Tweet lediglich «die politische Erscheinung» von Glarner beschrieben, ihn auf der Links-rechts-Achse eingeordnet und sich zum Politstil des streitbaren Nationalrats geäussert. Glarner erklärte, den Entscheid ans Aargauer Obergericht weiterzuziehen – «medialex» wird den Fall weiterverfolgen.Wie üblich finden Sie unter «Aktuelle Entscheide» die Liste mit neu publizierten medienrechtlich relevanten Urteilen der Bundesgerichte, mit UBI-Entscheiden und den jüngsten Stellungnahmen des Presserats. Und «Neue Literatur» bietet Ihnen einen Überblick über neu erschienene wissenschaftliche Publikationen zum Medienrecht.  Der nächste Newsletter erscheint Anfang April 2024. Simon CanonicaRedaktor «Medialex» 

Werden Sie Mitglied!Um langfristig zu leben, ist Medialex auf Unterstützung von interessierten Bürgerinnen und Bürgern angewiesen. Wir haben keine zahlenden Abonnentinnen und Abonnenten, keine Werbung und keinen Verlag im Hintergrund, die uns finanzieren. Unterstützen Sie uns, indem sie Mitglied der Community werden und jährlich 100 CHF überweisen (Organisationen 150 CHF, Studierende 50 CHF).

image_print

Kommentar schreiben

9 − 5 =

Über uns

Medialex ist die schweizerische Fachzeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht. Sie erscheint als Newsletter im Monatsrhythmus (10x jährlich), open access, und enthält Untersuchungen und Brennpunkte zu medienrechtlichen Themen, aktuelle Urteile mit Anmerkungen, Hinweise auf neue medien- und kommunikationsrechtliche Urteile, UBI-Entscheide und Presseratsstellungnahmen sowie auf neue wissenschaftliche Publikationen und Entwicklungen in der Rechtsetzung.

Vernetzen