Soll nach dem Urteil des Bundesgerichts wirklich alles beim alten bleiben?
Roger Blum, Prof. Dr. phil., Kommunikationswissenschaftler, Köln*
I. Was bisher geschah
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Als Bundesrat Adolf Ogi für die NEAT kämpfte, hielt er seine Fernsehansprache vor der Kulisse der Kirche und Kehrschlaufen von Wassen. Als Bundesrat Arnold Koller das bäuerliche Bodenrecht vertrat, stellte er sich vor ein schmuckes Emmentaler Bauernhaus. Die Regierungsmitglieder zogen alle Register. Heute treten sie jeweils vor dem Hintergrund blauer Berghorizonte an ein weisses Pult neben einer Schweizerfahne, immer gleich. Das Format kurzer Bundesratsansprachen gehört zum Ritual vor eidgenössischen Volksabstimmungen.
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Doch es ist ein Fremdkörper in den Programmen der SRG. Es stützt sich auf keine gesetzliche Grundlage. Es ist nicht journalistisch gestaltet, nicht unabhängig journalistisch geprüft. Man könnte die Reden als politische Werbung bezeichnen, aber das geht nicht, denn politische Werbung ist am Fernsehen verboten; das Radio der SRG ist überhaupt werbefrei. Die SRG übernimmt die Reden seit 1971 tel quel von der Bundeskanzlei und strahlt sie in Radio und Fernsehen deutsch, französisch und italienisch aus.
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Hin und wieder stört sich jemand daran, dass der Bundesrat unwidersprochen seine Sicht der Dinge darlegen darf. Ein solcher Einspruch gelangte kürzlich durch den Weiterzug der SRG bis vor Bundesgericht (BGer 2C_871/2022; vgl. dazu die Besprechung von Oliver Sidler in Medialex 09/24). Das Bundesgericht stiess dabei den Entscheid der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) um, die den Einspruch gutgeheissen und argumentiert hatte, solche Bundesratsreden ohne Gegenrede verstiessen gegen das Vielfaltsgebot, das vor Volksabstimmungen besonders streng beachtet werden müsse. Das Bundesgericht hingegen entschied pragmatisch und berief sich auf die lange Übung: Das Publikum sei an diese Ansprachen gewohnt und könne sie einordnen. Ausserdem könne das Vielfaltsgebot auf Ansprachen, auf die die SRG journalistisch keinen Einfluss habe, nicht so streng angewendet werden. Es bleibt also alles wie bisher.
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Hinter diesen beiden Positionen stecken – bewusst oder unbewusst – zwei demokratiepolitische Thesen: Die These vom „armen Bundesrat“ und die These vom „privilegierten Bundesrat“.
II. Im Spiel bleiben
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Die These vom „armen Bundesrat“ geht davon aus, dass die Spiesse in Abstimmungskämpfen nicht gleich lang wären, wenn der Bundesrat nicht bis am Schluss mit im Spiel wäre. Analog zum Gemeindepräsidenten an der Gemeindeversammlung und zum Landammann an der Landsgemeinde, die beide die Vorlagen nicht nur erläutern, sondern auch auf Gegenargumente replizieren und so während der ganzen Dauer der Diskussion mitwirken, sollten auch die Mitglieder des Bundesrates nicht schweigen, sondern sich an der Debatte vor der Volksabstimmung beteiligen (mit der Medienkonferenz zu Beginn, mit dem „Bundesbüchlein“, mit Interviews, Parteitagsreden, Auftritten in der „Arena“ oder in „Infrarouge“ und schliesslich mit der Radio- und Fernsehansprache). Neben den Abstimmungskomitees, den Parteien und den Verbänden soll auch der Bundesrat während der ganzen Kampagne ein Diskurspartner sein. Nur so sind die Anforderungen der Diskurstheorie von Jürgen Habermas erfüllt.
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Das hat auch der Schweizer Souverän so gesehen, als er im Juni 2008 die Volksinitiative „für Volkssouveränität und Behördenpropaganda“ („Maulkorbinitiative“) wuchtig verwarf und dem Bundesrat genau diese freie Bahn gewährte, die die Diskurstheorie verlangt. Soll also der „arme Bundesrat“ weiterhin vermieden werden, muss die Schlussansprache auf den Kanälen der SRG bleiben.
III. Beide Seiten spiegeln
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Die These vom „privilegierten Bundesrat“ hingegen geht von der Sicht der jeweiligen Gegenposition in Abstimmungskämpfen aus, also der Initiativkomitees, Referendumskomitees oder der eine Verfassungsvorlage bekämpfenden Parteien. Diese betrachten den Bundesrat als bevorzugt und sich selber als benachteiligt, denn ihnen steht kein Schlusswort an Radio und Fernsehen zu. Anders ist es bei den Abstimmungserläuterungen („Bundesbüchlein“), die an alle Stimmberechtigten verschickt werden: Dort gelang es 1977, auch der jeweiligen Gegenposition Platz für eine Stellungnahme zu verschaffen. Um dem Prinzip der Gleichheit und dem Vielfaltsgebot gerecht zu werden, müsste analog zum Bundesrat auch die jeweilige Gegenposition in einem kurzen Schluss-Statement an Radio und Fernsehen der SRG zum Zug kommen. Indirekt hat die UBI genau dies gefordert. Denn in der Tat stört die einseitige Bundesratsrede das strenge Vielfaltsgebot vor Volksabstimmungen.
IV. Der mögliche Kompromiss
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Die beiden Positionen können aber auch zusammengeführt werden. Dadurch, dass es die Schlussansprachen des Bundesrates gibt, ist die Landesregierung während der ganzen Kampagne als Diskurspartner im Spiel. Und dadurch, dass auch die jeweiligen Gegenpositionen in einer kurzen Radio- und Fernsehansprache deutlich würden, könnte die SRG dem Vielfaltsgebot gerecht werden. Fraglich ist allerdings, ob das eidgenössische Parlament der SRG solche zusätzlichen Schluss-Statements aufzwingen und das Problem im Radio- und Fernsehgesetz regeln will. Denn erst 2018 hat der Nationalrat eine Motion des Genfer SVP-Vertreters Roger Golay, der genau dies wollte, mit 109:79 Stimmen abgelehnt. Das Parlament sollte aber das Problem aus demokratiepolitischen und diskurstheoretischen Überlegungen neu aufgreifen und einen Kompromiss ansteuern: eine „längere“ Ansprache des Bundesrats kombiniert mit einer „kürzeren“ des jeweiligen Komitees. Die Mitglieder des Bundesrates könnten beispielsweise sechs Minuten reden, das dem Bundesrat und dem Parlament gegenüberstehenden Komitee drei Minuten, und falls es Gegenpositionen von zwei Seiten gibt, zweimal drei Minuten.
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Und warum reicht der Einbezug von Gegenpositionen im „Bundesbüchlein“ nicht? Weil es lesende Stimmberechtigte gibt und solche, die lieber hören und sehen. Und weil sich das Vielfaltsgebot auf alle Sendungen der SRG in den letzten Wochen vor Volksabstimmungen beziehen sollte.
*Dieser Text ist eine erweiterte Fassung eines Artikels, der am 8. Oktober 2024 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (S. 8) erschien. Der Autor war 1991-2001 Präsident des Schweizer Presserates und 2008-2015 Präsident der UBI.