Verdachtsberichterstattung: Eine risikoreiche Erleichterung für die Medien

V

Das Bundesgericht verpasst im Urteil 5A_56/2024 vom 14. Januar 2025 die Gelegenheit zu einer Klärung

Christoph Born, Dr. iur., Rechtsanwalt, Zumikon

Résumé: Au lieu de saisir l’opportunité d’examiner le traitement journalistique de soupçons concernant des dysfonctionnements au sein d’une entreprise, le Tribunal fédéral a rejeté un recours en raison de ses exigences strictes en matière de motivation d’une plainte. Dans les décisions des instances précédentes, la pratique concernant des comptes-rendus médiatiques sur des soupçons liés à des infractions pénales avait été reprise sans distinction pour un article traitant de dysfonctionnements au sein d’une chaîne de crèches. Pour les médias, cela signifie, certes, un assouplissement dans la publication d’articles sur des sujets d’intérêt public. Toutefois, un risque important subsiste, d’autant plus que les tribunaux évaluent les comptes-rendus journalistiques du point de vue d’un – fictif – lectorat moyen.

Zusammenfassung: Anstatt die Gelegenheit zu nutzen, sich mit der Verdachtsberichterstattung über Missstände in einem Unternehmen auseinanderzusetzen, weist das Bundesgericht eine Beschwerde auf Grund seiner strengen Anforderungen an die Begründungspflicht ab. In den vorinstanzlichen Urteilen wurde die geltende Praxis zur Verdachtsberichterstattung im Zusammenhang mit Straftaten undifferenziert auf einen Artikel über Missstände in einer Kita-Kette ausgedehnt. Für die Medien bedeutet dies im Ergebnis eine Erleichterung bei Beiträgen über Angelegenheiten im öffentlichen Interesse. Es bleibt aber ein erhebliches Risiko, zumal die Gerichte die Medienberichte aus der Sicht einer fiktiven Durchschnittsleserschaft beurteilen.

 

I. Sachverhalt in Kürze

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Am 29. März 2021 erschien in der Printausgabe der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) ein Artikel mit dem Titel «Was Eltern in Kitas nicht mitbekommen». Der gleiche Artikel wurde auch auf nzz.ch publiziert – mit dem Titel «Kinderkrippen haben bei Verstössen kaum etwas zu befürchten. Warum daran auch die Krippenaufsicht nichts ändern kann». In diesem Artikel wurden verschiedene Vorwürfe wiedergegeben, welche damalige und frühere Angestellte sowie «zwei externe Expertinnen» im Gespräch mit der NZZ an die Adresse eines namentlich genannten Vereins, der sieben Kindertagesstätten im Raum Zürich betreibt, erhoben hatten – u.a. die folgenden:

  • Die jetzigen und ehemalige Mitarbeiterinnen hätten «zahlreiche Missstände zu beklagen. Sie berichten einstimmig von Stress, Frust, Überstunden und Personalmangel. Schon Jugendlichen in Ausbildung werde mehr Verantwortung übertragen, als sie überhaupt tragen dürften. Das alles wirke sich negativ auf die Kinder aus. Eine ehemalige Mitarbeiterin erzählt, dass sie allein mit einer Praktikantin auf 20 Kinder habe aufpassen müssen. Eine andere Betreuerin sei mit sieben Babys allein gelassen worden und habe stundenlang nicht auf die Toilette gekonnt. Eine Lernende sagt, dass sie zusammen mit einer Praktikantin für 17 Kinder verantwortlich gewesen sei, als diese draussen im Garten gespielt hätten.»
  • «Mehrere Mitarbeiterinnen sagen unabhängig voneinander, dass sie von der Betriebsleitung dazu aufgefordert worden seien, die Arbeitspläne oder Stundentafeln zu frisieren, damit bei einer allfälligen Kontrolle kein Verstoss gegen den Betreuungsschlüssel bemerkt werde.»
  • «Eine ehemalige Kita-Leiterin sagt, am Ende litten die Kinder. Denn Personalmangel bedeute immer schlechte Qualität.»
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Demgegenüber wird im Artikel u.a. ausgeführt: «Die harten Vorwürfe sind allerdings nicht schriftlich festgehalten. Somit steht in einigen Punkten dieser Recherche Aussage gegen Aussage.» – «Überprüfen lassen sich die Aussagen nicht, die Ereignisse wurden in keinen Protokollen schriftlich festhalten.» Unter dem Zwischentitel «Kita-Leiter weist Vorwürfe zurück» wird dessen Stellungnahme zu den Vorwürfen wiedergegeben, u.a. wie folgt:

  • «Von Personalmangel kann aus seiner Sicht keine Rede sein. Die Betriebsleiterinnen überprüften die Arbeitspläne laufend. Falls jemand ausfalle, gebe es einen Pool von Springerinnen. ‹Uns ist es wichtig, den Betreuungsschlüssel einzuhalten›, sagt M…. ‹Wir haben immer genügend Personal in den Kitas.› Mehr noch: Man sei so aufgestellt, dass die Anforderungen mehr als erfüllt seien.»
  • «Die grosse Personalfluktuation sieht er nicht als Folge der Arbeitsverhältnisse. Das sei ein Problem der gesamten Branche. ‹In den Kinderkrippen arbeiten vor allem junge Leute, die auch einmal reisen, eine Familie gründen oder den Job wechseln wollen. Sie sind nicht so sesshaft.› Dass es in den letzten zwei Jahren zahlreiche Abgänge gegeben habe, liege an der ‹mangelnden Leistung› und der ‹betriebsfremden Einstellung› der entsprechenden Mitarbeiterinnen.»
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Am 31. Januar 2022 reichte der Verein, der die Kita-Kette betreibt, beim Bezirksgericht Zürich Klage gegen die Neue Zürcher Zeitung AG sowie die zwei Autoren des Artikels ein und beantragte u.a. die Feststellung, dass die Vorwürfe seine Persönlichkeitsrechte widerrechtlich verletzten, sowie deren Löschung. Mit Urteil vom 13. September 2023 wies die 4. Abteilung des Bezirksgerichts die Klage vollumfänglich ab (Geschäfts-Nr. CG220008-L/U).

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Der Verein focht dieses Urteil mit Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich an. Mit Urteil vom 12. Dezember 2023 wies dieses die Berufung ab und bestätigte das Urteil des Bezirksgerichts (https://www.gerichte-zh.ch/fileadmin/user_upload/entscheide/oeffentlich/LB230039-O2.pdf).

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Gegen dieses Urteil erhob die Aktiengesellschaft, in die der Verein in der Zwischenzeit umgewandelt worden war, Beschwerde an das Bundesgericht, welches die Beschwerde mit Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung vom 14. Januar 2025 abwies (5A_56/2024).

II. Vorinstanzliche Urteile

A. Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 12. September 2023

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Massgebend bei der Beurteilung war für das Bezirksgericht Zürich der Gesamteindruck, der durch die streitgegenständlichen Passagen «der Durchschnittsleserschaft vermittelt wird» (Erwägung V/C 3, S. 16). Zur Durchschnittsleserschaft stellte es fest, dass diesbezüglich von den Parteien keine Behauptungen aufgestellt worden waren. Selber beschrieb es die NZZ als «eine klassische Tagespresse, die sich mit einem breiten Themenspektrum an ein breit gestreutes und interessiertes, tendenziell gebildetes und sprachlich versiertes Publikum richtet» (E. V/B 2, S. 15). Im Ergebnis kam das Bezirksgericht zum Schluss, der Durchschnittsleserschaft der NZZ werde durch die inkriminierten Passagen «klar ein Bild von einer unseriös geführten Kita-Kette aufgezeichnet, in der die Betreuung der Kinder gewissenlos ausgeführt wird und zweitrangig zu sein scheint.» Die Durchschnittsleserschaft gehe zwar beim Vorwurf des Frisierens von Arbeitsplänen oder Stundentafeln nicht von einer strafrechtlich relevanten Fälschung aus, dennoch werde dem Kläger damit «unehrliches und verantwortungsloses Geschäftsgebaren vorgeworfen. Die inkriminierten Passagen sind gesamtheitlich klar geeignet, das berufliche Ansehen des Klägers empfindlich herabzusetzen» (Erwägung V/C 3, S. 16 f.).

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Die Nennung des Namens des Vereins qualifizierte das Bezirksgericht als gerechtfertigt, denn an der Berichterstattung über dessen berufliche Tätigkeit habe ein öffentliches Interesse bestanden. Die Thematik «betreffend (Nicht-)Funktionieren der Krippenaufsicht bei Verfehlungen von Kitas ist für eine breite Öffentlichkeit von grossem Interesse. Unzählige Familien sind auf die Fremdbetreuung ihrer Kinder im Vorschulalter durch teils private Organisationen angewiesen. Die Krippen unterstehen dabei einer staatlichen Bewilligungspflicht und der Krippenaufsicht. Es liegt in der öffentlichen Informationsaufgabe der Medien, über allfällige diesbezügliche Missstände zu berichten. (…) Die Nennung des Namens stillt hier nicht ein blosses Unterhaltungsbedürfnis, sondern vermittelt der Leserschaft Informationen im Allgemeininteresse. Die identifizierende Berichterstattung lag auch deshalb im Interesse der Öffentlichkeit, damit nicht sämtliche vereinsbetriebene Krippen im Raum Zürich unter Generalverdacht fielen» (E. V/D 1.4, S. 18).

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Unter dem Zwischentitel «Wahrheitsgehalt der Berichterstattung / Verdachtsberichterstattung» (E. V D 2, S. 18 ff.) kam das Bezirksgericht zu folgendem Schluss: «Die Beklagten berichten über Missstände, die sie jedoch nicht als wahre Tatsachen dargestellt haben. Sie haben für die Durchschnittsleserschaft ohne weiteres erkennbar deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es sich um Behauptungen von Mitarbeitenden handelte und nicht um harte Fakten. Der Wahrheitsbeweis der behaupteten Missstände muss somit nicht erbracht werden» (E. V D 2.3.2, S. 26). Diese Feststellung begründete das Gericht wie folgt: Die Verfasser hätten die indirekte Rede verwendet. Für die Durchschnittsleserschaft werde «aufgrund der Einleitung vorab klar, dass es sich hier um von jetzigen und ehemaligen Mitarbeiterinnen der Kita-Kette vorgetragene Vorwürfe handelt.» Im Anschluss an den Abschnitt, in dem der Vorwurf des «Frisierens» wiedergegeben werde, werde festgehalten, «dass sich diese Aussagen nicht überprüfen liessen, die Ereignisse seien in keinen Protokollen schriftlich festgehalten worden. Etwas später im Text wird erneut postuliert, dass die harten Vorwürfe nicht schriftlich festgehalten worden seien und in einigen Punkte dieser Recherche Aussage gegen Aussage stehe» (E. V/D 2.3.1, S. 25 f.).

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In E. V/D 2.3.2, S. 26 f. brachte das Bezirksgericht den Begriff «Verdachtsberichterstattung» ins Spiel. Bei dieser «darf indes nur eine Formulierung gewählt werden, die hinreichend deutlich macht, dass einstweilen nur ein Verdacht oder eine Vermutung besteht» (BGE 116 IV 31 E. 5b, BGE 126 III 305 E. 4). Mit derselben Begründung, weshalb die Missstände im Artikel nicht als wahre Tatsachen dargestellt worden seien (N 7 vorne), gelangte das Bezirksgericht zur Feststellung, der Durchschnittsleserschaft sei «ohne Weiteres klar gemacht» worden, «dass es sich lediglich um Vermutungen handelt». Was die von ihm herangezogenen Bundesgerichtsurteile betraf, erkannte das Bezirksgericht, dass diese die Verdachtsberichterstattung im Zusammenhang mit einer Straftat zum Gegenstand hatten – und nicht behauptete Missstände in einem Betrieb. Der Vorwurf einer Straftat wiege jedoch ungleich schwerer, «weshalb bei einer solchen Berichterstattung strengere Regeln zu gelten haben. Es würde dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit widersprechen, wenn nur über beweisbare Tatsachen berichtet werden könnte. Vermutete Missstände dürfen thematisiert werden, jeweils bevor ihr Bestehen hieb- und stichfest bewiesen ist, sofern die Regeln der Fairness eingehalten werden, besonders das Gebot der Sachlichkeit».

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Des Weiteren zog das Bezirksgericht die bundesgerichtliche Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Berichterstattung bei Straffällen heran, wonach von der Veröffentlichung eines blossen Verdachts oder einer Vermutung abzusehen ist, «wenn die Quelle der Information Zurückhaltung gebieten muss, und zwar umso eher, je schwerwiegender sich die darauf resultierende Beeinträchtigung in den persönlichen Verhältnissen des Verletzten erweisen könnte, sofern sich die Vermutung später nicht bestätigen sollte (BGE 126 III 305 E. 4 f.)». Was die Glaubwürdigkeit ihrer Quellen anbetreffe, habe sich die NZZ unbestrittenermassen insbesondere auf Aussagen von drei ehemaligen Arbeitnehmenden des Klägers gestützt und habe somit davon ausgehen können, dass die Informantinnen «über das für den Artikel notwendige Wissen über den Kläger verfügten» (E. V/D 2.3.3, S. 27).

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Zusammenfassend hielt das Bezirksgericht fest, «dass das Gebot der Sachlichkeit … eingehalten wurde. Die gegen den Kläger erhobene Vorwürfe sind klar als Behauptungen von (ehemaligen) Arbeitnehmenden und nicht als Tatsachen bezeichnet worden. Die Beklagten durften sich bei ihrem Bericht auf die ihnen bekannten Quellen stützen. Auch die Regeln der Fairness wurden eingehalten. Dem Kläger wurde ausführlich Gelegenheit geboten, sich zu den Vorwürfen zu äussern (…). Die Leserschaft hat dadurch entgegen seinen Behauptungen eine Gelegenheit für eine korrigierende Einordnung sämtlicher Vorwürfe erhalten» (E. V/D 2.4, S. 28).

B. Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 12. Dezember 2023

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In seinem Urteil vom 12. Dezember 2023 (vgl. N 4 vorne) schützte das Obergericht des Kantons Zürich die Erwägungen des Bezirksgerichts Zürich. Die identifizierende Berichterstattung erweise sich als verhältnismässig und vom überwiegenden öffentlichen Interesse getragen» (E. 5.4.3, S. 16).

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Auch das Obergericht stellte auf die vom Bundesgericht aufgestellten Kriterien betreffend die Berichterstattung bei Verdacht auf strafbares Verhalten ab, und es statuierte, diese liessen sich «auf die Berichterstattung über den Verdacht rechtswidriger Verhältnisse in einer privat-rechtlichen Organisation, welche eine bewilligungspflichtige Tätigkeit ausübt, sinngemäss anwenden» (E. 5.5.2, S. 17).

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Das Obergericht kam zum Schluss, der Artikel erfülle «durch die ausgewogene Darstellung der gegensätzlichen Meinungen die Kriterien der zulässigen Berichterstattung über einen blossen Verdacht» (E. 5.5.4, S. 19). Nicht zu verlangen sei, dass die Verdachtsgründe als wahr zu beweisen seien (E. 5.5.5, S. 19 f.). Es sei nicht erkennbar, weshalb die Durchschnittsleserschaft der NZZ die Kriterien einer zulässigen Berichterstattung über einen blossen Verdacht übersehen und den Artikel als Tatsachenbericht auffassen solle (E. 5.5.6, S. 21). Auch unter dem Aspekt der Berichterstattung über einen blossen Verdacht und dem Blickwinkel der Durchschnittsleserschaft liege der Artikel im überwiegenden öffentlichen Interesse (E. 5.5.7, S. 21).

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Zur Glaubwürdigkeit der Quellen hielt das Obergericht fest, dass sich der Artikel «weder auf verpönte anonyme Quellen noch auf vage Beschreibungen» stütze. «Es besteht insoweit kein Anlass, an der Seriosität und Geeignetheit der Quellen zu zweifeln» (E. 5.6.4, S. 22).

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Dem Fairnessgebot, so das Obergericht, sei genügend Rechnung getragen worden, «indem der Kläger über die Vorwürfe vor der Veröffentlichung informiert und seiner Gegendarstellung im Artikel ausreichend Platz eingeräumt wurde. Der Gesamteindruck, er bestreite die Vorwürfe seiner Mitarbeiterinnen, wird nicht dadurch geschmälert, dass der Kläger im Artikel zum (unspezifischen) Vorwurf des Frisierens von Arbeitsplänen und Stundentafeln nicht explizit Stellung nehmen konnte. Seiner im Artikel wiedergegebenen Schilderung ist zu entnehmen, dass von Personalmangel keine Rede sein könne und die Betriebsleiterinnen die Arbeitspläne laufend überprüften (…). Mit diesem Statement tritt der Kläger dem Vorwurf des Frisierens von Arbeitstabellen für die Leserschaft erkennbar entgegen». Schliesslich pflichtete das Obergericht der Vorinstanz darin bei, der Artikel sei «sachlich und in seiner Aufmachung nicht reisserisch abgefasst» (E. 5.7, S. 23).

III. Urteil des Bundesgerichts vom 14. Januar 2025

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Das Urteil des Bundesgerichts vom 14. Januar 2025 (5A_56/2024) enthält keine materiellrechtliche Beurteilung des streitgegenständlichen NZZ-Artikels. Zwar fasste das Bundesgericht in E. 3 seine bisherigen Grundsätze zur Äusserung des Verdachts einer Straftat oder einer Vermutung zusammen. Es äusserte sich aber nicht zur Frage, wie die Durchschnittsleserschaft die Wiedergabe der Vorwürfe der Mitarbeiterinnen im NZZ-Artikel interpretiert hat bzw. ob sie die Schilderungen als Wiedergabe eines Verdachts und die beschriebenen Missstände somit nicht als wahre Begebenheiten, sondern als bestrittene Behauptungen erkennen konnte. Ebenso wenig äussert sich das Bundesgericht konkret zu Frage, ob im Artikel die Kriterien einer zulässigen Berichterstattung über einen blossen Verdacht erfüllt wurden oder nicht.

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Vielmehr wies das Bundesgericht die Beschwerde hauptsächlich deswegen ab, weil die Beschwerdeführerin (der Verein war in der Zwischenzeit in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden) den Begründungsanforderungen nicht genügt habe. Wiederholt stellte es fest, dass die Beschwerdeführerin ihre Rügen nicht näher erklärt oder zu den vorinstanzlichen Erwägungen nichts gesagt bzw. sich damit nicht auseinandersetzt habe. So sei (u.a.) der Beschwerde nicht zu entnehmen, weshalb die «derart befähigte Durchschnittsleserschaft» der NZZ den Artikel insgesamt oder in Teilen als Tatsachenbericht auffassen solle (E. 5.3). Auch tue die Beschwerdeführerin nicht dar, und es sei auch nicht ersichtlich, inwiefern sich die von ihr angerufenen Grundsätze des deutschen Bundesgerichtshofs (BGH) zur Verdachtsberichterstattung massgeblich von den Vorgaben der bundesgerichtlichen Rechtsprechung unterscheiden würden (E. 5.3).

IV. Anmerkungen

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Anders als in Deutschland (vgl. zum Beispiel das Urteil des BGH vom 20. Juni 2023, VI ZR 262/21) hat der Begriff «Verdachtsberichterstattung» bzw. «identifizierende Verdachtsberichterstattung» in der schweizerischen Lehre und Rechtsprechung bislang praktisch keine Bedeutung erlangt. In den genannten Urteilen des Bezirks- und Obergerichts wurde der Begriff zwar verwendet. Die beiden Instanzen haben es aber versäumt, die Verdachtsberichterstattung zu umschrieben oder zu definieren – womit dieser Ausdruck für das schweizerischen Recht konturlos bleibt. Das Bundesgericht verwendete den Begriff zwar auch, jedoch nur in Bezug auf die Rechtsprechung des BGH (Urteil Bundesgericht, E. 5.3). Es gebrauchte die Wendung «Veröffentlichung eines blossen Verdachts oder einer Vermutung» (Urteil Bundesgericht, E. 3.2 und E. 4.4), die etwas deutlicher macht, worum es geht.

20

Das Bezirksgericht stützte seine Erwägungen zur Verdachtsberichterstattung auf BGE 116 IV 31 E. 5 b und BGE 126 III 305 E. 4 ab, beides Entscheide, in denen es um Berichterstattungen im Zusammenhang mit Straftaten ging. Da der Vorwurf einer Straftat «ungleich schwerer» wiege als behauptete Missstände in einem Betrieb, gelangte das Bezirksgericht zu Auffassung, dass bei einer Berichterstattung bezüglich einer Straftat «strengere Regeln» zu gelten hätten als bei einer solchen über Missstände in einem Betrieb (Urteil Bezirksgericht, E. V/ D 2.3.2, S. 27). Damit redete das Gericht in Bezug auf Medienberichte über betriebliche Missstände weniger strengen Kriterien das Wort. Eine Begründung dafür lieferte es nicht – und eine solche ist auch nicht ersichtlich. Denn der Vorwurf, eine Kita-Kette sei unseriös geführt und führe die Betreuung der Kinder gewissenlos aus (vgl. Urteil Bezirksgericht, E. V/C 3, S. 16), wiegt sehr schwer und ist geeignet, deren Existenz zu gefährden. Das Obergericht nahm keine Differenzierung vor. Es bezog sich auf BGer 5A_658/2014 (Hirschmann I), E. 7.2.2, wo die Kriterien von BGE 126 III 305 E. 4 bestätigt werden; dazu hielt das Obergericht fest: «Die vorstehenden Kriterien betreffen die Berichterstattung bei Verdacht auf strafbares Verhalten; sie lassen sich auf die Berichterstattung über den Verdacht rechtswidriger Verhältnisse in einer privat-rechtlichen Organisation, welche eine bewilligungspflichtige Tätigkeit ausübt, sinngemäss anwenden, (…)» (Urteil Obergericht, E. 5.5.2). Eine Begründung fehlt auch hier.

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Erstaunlich ist, dass weder das Bezirksgericht noch das Obergericht das unveröffentlichte Bundesgerichtsurteil 5C.46/1995/ma vom 7. Juni 1995 (auszugsweise wiedergegeben in Medialex 1/96 S. 41 ff.) erwähnt. In diesem Fall ging es um einen Artikel in der «Berner Zeitung» vom 3. August 1992, durch den sich der Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM) in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt fühlte. Soweit den bundesgerichtlichen Erwägungen zu entnehmen ist, enthielten die eingeklagten Textstellen keine Vorwürfe strafbaren Verhaltens. Der Rüge des Klägers, die Vorinstanz habe nicht dargelegt, warum bestimmte Klagepunkte nicht persönlichkeitsverletzend seien, hielt das Bundesgericht entgegen, von einer Ausnahme abgesehen habe die Vorinstanz die aufgeworfene Frage deshalb nicht überprüft, «weil demjenigen, der einen fremden Text zitiert, dies aber erkennbar ohne Unterstützung der dort erfolgten negativen Beurteilung und Tatsachenschilderung getan habe, keine Persönlichkeitsverletzung vorgeworfen werden könne.» Im Ergebnis sei es richtig, dass dem Verfasser des Artikels auch in diesem Punkt keine widerrechtliche Verletzung der klägerischen Persönlichkeit vorgehalten werden könne. «Denn die Verbreitung einer widerrechtlichen persönlichkeitsverletzenden Presseäusserung kann unter bestimmten Voraussetzungen rechtmässig sein. Sie ist es zumindest dann, wenn die fremde Äusserung vollständig und wahrheitsgetreu dargestellt wird (objektiv richtige Wiedergabe), als solche gekennzeichnet ist und nicht als Originalmeldung des Verbreiters, gewissermassen die eigene Sicht aufzeigend, erscheint (erkennbare Distanzierung) und die Kenntnis davon für den Leser von Wert (Informationsinteresse) ist» (Medialex 1/96, S. 43 f. mit zahlreichen Hinweisen auf Literaturstellen). M.E. hat es das Bundesgericht mit dem Kriterium der erkennbaren Distanzierung auf den Punkt gebracht – unabhängig davon, ob die Vorwürfe eine Straftat oder andere Gegebenheiten betreffen. Nur wenn die Leserschaft erkennt, dass sich die Medienschaffenden den publizierten widerrechtlichen Vorwürfen selber nicht anschliessen bzw. diese selber nicht unterstützen, sollen sie nicht für deren Verbreitung haften.

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Jedoch macht auch das Kriterium der erkennbaren Distanzierung die Beantwortung der Frage, ob die Durchschnittsleserschaft bemerkt, dass es sich bei den publizierten Vorwürfen nicht um bewiesene Tatsachenbehauptungen handelt, sondern um solche, deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, nicht einfach. Das liegt daran, dass das Bundesgericht die Frage, wie die Durchschnittsleserschaft eine Äusserung versteht, nicht als Tatsachenfeststellung, sondern als Rechtsfrage «bzw. als ihr gleichgestellte Folgerung aus der allgemeinen Lebenserfahrung» behandelt (BGE 147 III 185 E. 4.2.3). Immerhin ist dabei zu berücksichtigen, an wen sich ein Artikel richtet. So geht das Bundesgericht zum Beispiel davon aus, dass ein Konsumentenmagazin wie der «K-Tipp» «als spezialisierte Zeitschrift über eine sachthemenbezogen interessierte und damit über eine aufmerksamere und kritischere Leserschaft als eine gewöhnliche Tageszeitung» verfügt (BGE 137 III 433 E. 6.2). So betrachtet lag das Bezirksgeericht richtig, als es die Leserschaft der NZZ berücksichtigte. Allerdings hängt seine Feststellung, die NZZ richte sich «an ein breit gestreutes und interessiertes, tendenziell gebildetes und sprachlich versiertes Publikum», völlig in der Luft, zumal die Parteien zur Durchschnittsleserschaft nicht einmal Behauptungen aufgestellt hatten und das Bezirksgericht in keiner Weise darlegt, wie es zu dieser Tatsachenfeststellung gelangte (Urteil Bezirksgericht, E. V/B 2, S. 15).

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Es ist bedauerlich, dass das Bundesgericht es im vorliegenden Fall vorgezogen hat, die Beschwerde auf Grund seiner gefürchteten strengen Anforderungen an die Begründungspflicht abzuschmettern, anstatt die Gelegenheit zu nutzen, seine Erwägungen im unveröffentlichten Entscheid 5C.46/1995/ma vom 7. Juni 1995 aufzugreifen und sie zu bestätigen oder zu präzisieren – und damit Klarheit darüber zu schaffen, wann eine Verdachtsberichterstattung, die nicht eine Straftat betrifft, zulässig ist. So bleiben denn als unbefriedigende Ergebnisse die Urteile des Obergerichts- und des Bezirksgerichts Zürich bestehen, in denen die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Verdachtsberichterstattungen bezüglich Straftaten undifferenziert auf die Berichterstattung über Missstände in einem Unternehmen angewandt wurden.

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Für die Medien bedeuten die beiden Urteile zwar eine gewisse Erleichterung in der Berichterstattung über Themen von öffentlichem Interesse: Sie dürfen unter bestimmten Voraussetzungen widerrechtliche Tatsachenschilderungen Dritter wiedergeben, ohne im Streitfall dafür den Beweis antreten zu müssen. Sie gehen dabei aber nach wie vor ein grosses Risiko ein, denn die Gerichte verfügen über einen – m.E. erheblichen – Ermessenspielraum bei der Beurteilung der (Rechts-)Frage, ob die Durchschnittsleserschaft erkennt, dass lediglich ein Verdacht und nicht beweisbare Tatsachenbehauptungen wiedergegeben werden (vgl. dazu Urteil Obergericht, E. 5.5.2, S. 17 und BGer 5A_658/2014 E. 7.2.2). Dazu kommt, dass sich die übergeordneten Instanzen bei der Beurteilung von Ermessensentscheiden eine Zurückhaltung auferlegen und ihr Ermessen nicht einfach anstelle derjenigen der Vorinstanz setzen (Urteil Obergericht, E. 5.3, S. 13) bzw. nur einschreiten, wenn strenge Voraussetzungen erfüllt sind (BGer 5A_56/2024 E. 2.2).

 

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