Erwerb, Besitz und Transport einer Waffe ohne Bewilligung durch eine RTS-Journalistin
Célian Hirsch, Dr. iur., Postdoc-Mobility-Stipendiat der SNF, Forscher am Centre de droit bancaire et financier der Universität Genf und Rock Center Fellow am Rock Center for Corporate Governance an der Stanford Law School
Sébastien Picard, BLaw, Autor bei LawInside.ch
Eine französischsprachige Besprechung dieser Urteile haben die Autoren auf dem Portal Lawinside.ch publiziert.
I. Das Urteil
TF 6B_650/2022, 664/2022
II. Sachverhalt
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Eine Journalistin der RTS bestellt online 19 im 3D-Druck hergestellte Teile, die für die Herstellung einer Waffe notwendig sind, ohne eine Waffenerwerbsbewilligung zu besitzen. Sie will die Öffentlichkeit auf die Gefahren von 3D-gedruckten Waffen aufmerksam machen und die Sensibilität von Westschweizer Unternehmen testen, die diese Dienste anbieten. Nach dem Erhalt der Teile in den Genfer RTS-Räumlichkeiten baut sie zusammen mit einem Kollegen die Waffe zusammen. Sie verzichtet dabei bewusst auf das Einsetzen des Schlagbolzens und fügt ein Metallteil hinzu, um die Waffe funktionsuntüchtig und erkennbar zu machen.
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Die Journalistin transportiert die Waffe mit dem Zug von Genf zur École des sciences criminelles der Universität Lausanne, ohne im Besitz einer Waffentragbewilligung zu sein. Während des Transports befindet sich die Waffe ohne Schlagbolzen und ohne Munition in ihrer Kameratasche. In der übrigen Zeit wird sie in einer verschlossenen Schublade im gesicherten RTS-Gebäude aufbewahrt.
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Das Polizeigericht spricht die Journalistin zwar des Transports und Besitzes der Waffe schuldig, verzichtet jedoch auf eine Strafe (Art. 52 StGB). Das Genfer Berufungsgericht verurteilt sie zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen mit bedingtem Vollzug über 3 Jahre sowie zu einer Busse von CHF 1’200. Diese Verurteilung bezieht sich allein auf den Transport der Waffe; im Hinblick auf Erwerb und Besitz wird sie freigesprochen. Alle drei Anklagepunkte fallen unter Art. 33 Abs. 1 lit. a WG.
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Sowohl die Journalistin als auch die Genfer Staatsanwaltschaft erheben Beschwerde beim Bundesgericht. Die Staatsanwaltschaft beantragt eine Verurteilung in allen Punkten. Die Journalistin verlangt einen vollständigen Freispruch. Das Bundesgericht hat zu beurteilen, ob eine im 3D-Druck hergestellte Waffe unter das WG fällt und ob Journalistin/-innen ihr Verhalten unter Berufung auf Art. 14 StGB und Art. 10 EMRK rechtfertigen können.
III. Rechtliches[1]
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Zuerst prüft das Bundesgericht, ob das Verhalten unter das WG fällt. Dieses Gesetz schützt die öffentliche Ordnung und bekämpft den Missbrauch von Waffen, Zubehör und Munition. Art. 4 Abs. 1 lit. a WG definiert Waffen als „Geräte, mit denen durch Treibladung Geschosse abgegeben werden können und die eine einzige Person tragen und bedienen kann, oder Gegenstände, die zu solchen Geräten umgebaut werden können”. Wesentliche Waffenteile sind bei Pistolen: Griffstück, Verschluss und Lauf (Art. 3 lit. a WV). Der Erwerb solcher Teile erfordert einen Waffenerwerbsschein (Art. 8 Abs. 1 WG), das Tragen eine Waffentragbewilligung (Art. 27 Abs. 1 WG). Art. 33 Abs. 1 lit. a WG sanktioniert vorsätzlichen und unrechtmässigen Erwerb, Besitz, Herstellung oder Tragen solcher Teile. Es handelt sich um abstrakte Gefährdungsdelikte.
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Im vorliegenden Fall ist die Pistole eine Schusswaffe, die eine Bewilligung voraussetzt. Die Journalistin ist sich dessen bewusst und handelt somit vorsätzlich widerrechtlich im Sinne von Art. 33 Abs. 1 lit. a WG.
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Zweitens prüft das Bundesgericht, ob eine Journalistin sich zur Rechtfertigung auf Art. 14 StGB i.V.m. Art. 10 EMRK berufen kann. Art. 14 StGB besagt: „Wer handelt, wie es das Gesetz gebietet oder erlaubt, verhält sich rechtmässig, auch wenn die Tat nach diesem oder einem andern Gesetz mit Strafe bedroht ist.“ Diese Norm verweist auf externe Rechtfertigungsgründe. Bislang hat das Bundesgericht nicht geklärt, ob verfassungs- oder konventionsrechtliche Normen als „Gesetze“ im Sinne von Art. 14 StGB gelten.
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Hier erkennt das Bundesgericht an, dass eine Journalistin die Meinungsfreiheit gemäss Art. 10 EMRK – besonders geschützt im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit – als Rechtfertigungsgrund anführen kann. Es stützt sich dabei auf zwei Urteile des EGMR (Dammann vs. Schweiz; Haldimann u.a. vs. Schweiz), in denen die Schweiz wegen Verletzung von Art. 10 EMRK verurteilt wurde.
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Drittens prüft das Bundesgericht, ob der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, einem öffentlichen Interesse dient und verhältnismässig ist. Das Erfordernis der Verhältnismässigkeit im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK setzt voraus, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist und einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht
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Im vorliegenden Fall sind die gesetzliche Grundlage und das öffentliche Interesse gegeben. Art. 33 WG ist eine formell genügende gesetzliche Grundlage mit dem Ziel, die Bevölkerung zu schützen. Die Verurteilung der Journalistin entspricht keinem dringenden sozialen Bedürfnis, das als dringend bezeichnet werden kann. Die Gefährdung war äusserst abstrakt und gering – die Waffe war unbrauchbar, versteckt transportiert und sicher gelagert. Zudem wären die Voraussetzungen für eine Ausnahmebewilligung gemäss Art. 28c WG wohl erfüllt gewesen. Das Verhalten war rein journalistisch motiviert. Mildere Massnahmen wie eine Verwarnung oder Verfahrenseinstellung hätten genügt.
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Daher waren die Handlungen der Journalistin rechtmässig und ihre Beschwerde ist gutzuheissen.
IV. Anmerkungen
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Der Supreme Court der USA hat am 26. März 2025 im Fall Bondi v. Vanderstok ebenfalls ein Urteil zu Waffen gefällt (604 U.S. ____ 2025). Im Unterschied zum Bundesgerichtsurteil wurde dort die Definition von „firearm“ eingehend geprüft. Auch dort ging es um „weapon parts kits“, die zu einer Schusswaffe zusammengesetzt werden können. Ein UN-Bericht vom April 2024 betont die Notwendigkeit nationaler Anpassungen, damit auch 3D-gedruckte Waffen erfasst werden.
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Der Gun Control Act (GCA) wurde 1968 nach den Morden an Präsident Kennedy, Robert Kennedy und Dr. King verabschiedet. Er verhängt strengere Vorschriften über die Waffenindustrie, führt neue waffenbezogene Straftatbestände ein und verbietet den Verkauf von Waffen und Munition an Straftäter und andere verbotene Personengruppen. Der GCA definiert eine „firearm“ insbesondere als „any weapon (…) which will or is designed to or may readily be converted to expel a projectile by the action of an explosive“. Diese Definition entspricht unserem Art. 4 Abs. 1 lit. a WG, der Schusswaffen als „Geräte, mit denen durch Treibladung Geschosse abgegeben werden können und die eine einzige Person tragen und bedienen kann, oder Gegenstände, die zu solchen Geräten umgebaut werden können“ definiert. Nach unserer Meinung lässt sich die Ähnlichkeit zwischen der amerikanischen und der schweizerischen Definition durch zwei Schlüsselelemente erklären. Zum einen hat die Annahme des Zusatzprotokolls gegen die unerlaubte Herstellung von Schusswaffen der Vereinten Nationen im Jahr 2001 in Art. 3 lit. a eine harmonisierte Definition von Schusswaffen eingeführt. Diese Definition, die in zahlreichen Gesetzgebungen übernommen wurde, könnte durch den GCA beeinflusst worden sein, der diese wesentlichen Begriffe bereits formulierte. Zum anderen hat auf EU-Ebene die Richtlinie 2008/51/EG zur Kontrolle des Erwerbs und Besitzes von Waffen, die von der Schweiz im Rahmen des Schengen-Besitzstands übernommen wurde, ebenfalls zur Vereinheitlichung der Vorschriften in diesem Bereich beigetragen. Auch hier ist es möglich, dass die Definition des GCA als Referenz diente.
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Neue Technologien wie 3D-Druck erleichtern Herstellung und Verkauf von Waffenbestandteilen. In den USA ist deren Zahl gestiegen. Die ATF (Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives) erliess deshalb eine Regel, die auch Bausätze dem GCA unterstellt. Obwohl untere Instanzen dies aufhoben, hielt der Supreme Court mit 7:2 Stimmen daran fest. Als Beispiel diente ein „Buy Build Shoot“-Set, das in 21 Minuten montiert werden kann. Wie ein Ikea-Tisch eine fertige Funktion hat, so stellt ein Waffenbausatz eine Schusswaffe dar.
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Für eine eingehende Analyse der Interpretation von Artefakt, insbesondere des Begriffs „firearm“, siehe Waldon Brandon, Condoravdi Cleo, Pustejovsky James, Schneider Nathan, Tobia Kevin: Reading Law with Linguistics: The Statutory Interpretation of Artifact Nouns (1. Juli 2024). Erscheint in: Harvard Journal on Legislation, Band 62 (bevorstehend 2025).
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Zum Schluss ist beruhigend, dass viele Schweizer 3D-Druckunternehmen die Anfrage der Journalistin ablehnten, weil sie sofort den Waffencharakter der Teile erkannten und teils sogar die Polizei benachrichtigen wollten (Sachverhalt B.b.b). Dennoch konnte sie relativ leicht eine funktionstüchtige Waffe beschaffen. Ein Interviewangebot an die Genfer Waffenbrigade wurde abgelehnt, da „das Thema für sie kein Problem darstelle“ (Sachverhalt B.c.a).
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Siehe zudem die RTS-Dokumentation, die diesem Fall zugrunde liegt.
Fussnote:
1) Für eine vertiefte Analyse siehe Stoll Jean-Pascal, Meinungsäusserungs- und Medienfreiheit contra Waffengesetz. Anmerkungen zum Urteil des Bundesgerichts 6B_650/2022, 6B_665/2022 vom 12. Dezember 2024, in: Jusletter vom 28. April 2025, ↑

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