Genfer Cour de Justice befürchtet einen «chilling effect», wenn zu Unrecht beschuldigten Medienschaffenden droht, auf Verteidigungskosten sitzen zu bleiben
Matthias Schwaibold, Dr. iur, Rechtsanwalt, Zürich
https://medialex.ch/cour-de-justice-geneve-arret-du-13-juin-2025/
Anmerkungen:
a) Sachverhalt
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Die Genfer Cour de Justice hat einen bemerkenswerten Entscheid zur Tragweite von Art. 10 EMRK gefällt. Die Ausgangslage war (zusammengefasst) folgende: Zwei Journalisten wurden vom Vorwurf der Ehrverletzung zum Nachteil von E. freigesprochen. Aus dem hier anzuzeigenden Berufungsentscheid geht nicht hervor, was sie über E. gesagt hatten, der Freispruch der ersten Instanz beruhte auf dem erfolgreich erbrachten Gutglaubensbeweis, weshalb sie auch die Frage des Wahrheitsbeweises ausdrücklich offen gelassen hatte. Die Verteidigungskosten auferlegte sie der unterlegenen Antragstellerin E.
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Die beiden Journalisten erklärten Berufung und verlangten, dass ihre Verteidigungskosten dem Staat aufzuerlegen seien, denn E. sei insolvent. Ihre Berufung war erfolgreich, und die zweite Instanz verpflichtete antragsgemäss den Kanton Genf, die Verteidigungskosten der ersten Instanz (zusammen fast 23’000 CHF) zu tragen, wenn auch unter Einräumung des Rückgriffsrechts auf E. Zudem muss der Kanton die Anwaltskosten der zweiten Instanz (zusammen 5’000 CHF) bezahlen, dies allerdings definitiv und ohne Rückgriff auf E.: Da sie sich im Berufungsverfahren nicht hat vernehmen lassen, konnten ihr auch keine Kosten- und Entschädigungsfolgen auferlegt werden. Bezüglich der erstinstanzlichen Verteidigungskosten hielt das Berufungsgericht fest, dass sich durch seine Anordnung (Verpflichtung des Staates, aber Einräumung des Rückgriffsrechts) nichts an der wirtschaftlichen Situation der E. geändert habe, denn es läge ja nur ein Gläubigerwechsel vor, während die Schuld unverändert dieselbe geblieben sei.
b) Besprechung des Urteils
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Die Frage, ob die Verteidigungskosten der Freigesprochenen dem insoweit unterliegenden Antragsteller überbunden werden können, ist in der StPO nicht allgemeint geregelt. Das Genfer Gericht legt ausführlich dar, welche Bestimmungen für welchen Fall im Gesetz aufgestellt sind und kommt zum Schluss, dass es an einer eindeutigen Regelung für den Fall des Freispruchs bei Antragsdelikten fehle: Schon das Bundesgericht habe in BGE 145 IV 90 festgestellt, dass es keine gesetzliche Grundlage dafür gäbe, die Kosten der amtlichen Verteidigung dem Antragsteller aufzuerlegen.
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Auf einem ziemlich überraschenden Umweg kommt die zweite Instanz allerdings zum Schluss, dass die Berufung gutgeheissen werden müsse: Zuerst folgt der Hinweis auf Art. 125 Abs. 1 StPO. Demgemäss müsse der Antragsteller auf Antrag des Beschuldigten Sicherheit für die Kosten der adhäsionsweise anhängig gemachten Zivilforderung leisten, wenn er (u.a.) insolvent erscheine; leiste er sie nicht, werde der Kläger auf den Zivilweg verwiesen. Warum diese der ZPO nachgebildete Regelung auf den vorliegend allein zu entscheidenden Strafpunkt anwendbar sein soll, ist weder zu sehen noch wird es erklärt.
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Sodann erinnert das Gericht an die Medienfreiheit (Art. 17 BV), die Drittwirkung (Art. 35 BV) und die EMRK (Art. 10). Im Lichte dieses übergeordneten Rechts müsse man auch die Bestimmungen über die Kostentragung der StPO auslegen. Der EMRG hatte in einem Fall, den er zulasten der Schweiz entschieden hatte (GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus gegen die Schweiz, Urteil 18597/13 vom 9. Januar 2018), festgestellt, dass die Überbindung von Gerichts- und Anwaltskosten in einem Persönlichkeitsschutzprozess einen «chilling effect» haben könne und auch insoweit eine Verletzung der Meinungsfreiheit gemäss Art. 10 EMRK vorliege. Dies dreht das Genfer Gericht zugunsten der Berufungskläger und kommt zum Schluss, dass es vorliegend deshalb gerechtfertigt sei, die Verteidigungskosten dem Staat aufzuerlegen. Denn er habe ja (qua Anklage und erstinstanzliches Strafverfahren) die Kosten verursacht und müsse sie deshalb tragen. Zusätzlich erwähnt das Gericht ausdrücklich die bekannten, wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Presse und hält dafür, dass Medienschaffenden und ihren Arbeitgebern auch deshalb nicht das Insolvenzrisiko einer unterliegenden Gegenpartei aufgebürdet werden dürfe, ansonsten eine (mittelbare) Gefährdung der Medienfreiheit gegeben sei.
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Soweit, so gut für die Journalisten, die auf dem Weg zu einem solventen Schuldner kamen.
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Bleibt noch anzumerken, dass die Antragstellerin E. vermutlich einen Fehler begangen hat, dass sie die Kostenauferlegung der ersten Instanz nicht angefochten und sich auch nicht im Berufungsverfahren hat vernehmen lassen. So wurde ihr nämlich vorgehalten, sie habe eine bestehende Schuld gar nicht bestritten; überdies dürfe die Gutheissung der Berufung nicht zu einer «Verarmung» der öffentlichen Hand führen, weshalb dieser nunmehr das Rückgriffsrecht auf die E. eingeräumt wurde, was – wie erwähnt – ja ihre bestehende wirtschaftliche Situation nicht weiter verschlechtere. Mir scheint, dass hier etwas «schlaumeierisch» eine von der StPO gerade nicht gedeckte Kostenverlegung erfolgt, die ihrerseits geeignet ist, auf potentielle Antragsteller eine abschreckende Wirkung zu haben: Art. 427 Abs. 2 und Art. 432 Abs. 2 StPO sehen die Auferlegung von Kosten- und Entschädigungsfolgen nur vor, wenn der Antragsteller mutwillig gehandelt oder den ordentlichen Prozessgang gestört hat; dass man dies E. vorwerfen könne, ist dem Entscheid indessen nicht zu entnehmen. Dass Art. 432 Abs. 2 StPO dem Richter ein weites Ermessen bei der Kostenverlegung einräume, trifft meines Erachtens angesichts des klaren Wortlauts dieser Bestimmung gerade auch nicht zu.
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Der Entscheid ist aus Mediensicht erfreulich. Löst man sich dagegen von der dem Verfasser vollkommen zu Recht in derlei Zusammenhängen zu unterstellenden Parteilichkeit, muss man aber einräumen, dass er das ohnehin schwierige Gleichgewicht bei Antragsdelikten empfindlich zu stören geeignet ist: Denn auch derjenige, der sich in guten Treuen zu einem Strafantrag veranlasst sieht und den Prozessgang nicht in vorwerfbarer Weise stört, sieht sich nunmehr unerwartet einem Kostenrisiko ausgesetzt, vor dem ihn der insoweit klare Wortlaut der StPO doch eigentlich schützt.