Anmerkungen zur akademisch prämierten Skandalisierung *
Henriette Haas, Prof. Dr. phil., Universität Zürich, https://www.geschichts-validitaet.com
Inhaltsübersicht:
I. Der Zerfall methodischer Standards in den Kulturfächern Rn 1
1. Hofers Geschichtsklitterungen als «Vermächtnis» 2
2. «Ethik» und «Grundsätze» der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte 4
3. Die Indoktrination Studierender mit Denkfehlern unter neuer Etikette 5
4. Verhaltene Gegenbewegung 6
II. Belastbare Hermeneutik
1. Das Demarkationsproblem in der Text und Bildauslegung 8
2. Text- und Bildverständnis: vom Substrat zum Resultat 9
3. «Wahrheit» versus Belastbarkeit von Erzählungen (Validität) 13
4. Sorgfaltspflicht bei der Recherche 19
III. Leserrezeption: «Thinking fast or slow»?
1. Eine verbale Fata Morgana über die Gründung der Julius Klaus Stiftung 21
2. Unbefangene Leserrezeption der Textprobe im schnellen Denken 23
3. Interpretation der Textprobe im langsamen, analytischen Studium 29
4. Bilanz zur oberflächlichen versus der vertieften Lesart 33
IV. Bildauslegung nach Augenschein und Kontextualisierung 34
1. Technische und politisch-soziale Bedingungen der Herstellung von Fotos 35
2. Fotoauslegung anhand von Kommentaren der Hersteller 42
3. Bilanz zur Bildanalyse 51
V. Fazit: Geschichte im Würgegriff ihrer selbst 53
* Die Universität Zürich weist darauf hin, dass die in Abschnitt III. kritisierte Studie von Pascal Germann, welche sich zu Alfred Ernst äussert, schon Gegenstand eines lauterkeitsrechtlichen Verfahrens an der Universität Zürich war. Ein Gutachten stellte fest, dass keinerlei Anhaltspunkte für ein wissenschaftlich unlauteres Verhalten von Dr. Germann bestanden.
Stellungnahme von Frau Prof. Dr. Henriette Haas:
Ich halte an dieser Stelle fest, dass mir die Universität Zürich schriftlich «für alle Dienste, die Sie für unsere Universität in Forschung und Lehre geleistet haben» gedankt hat. Der Konflikt um die genannte Dissertation dreht sich um die Anwendung spezifischer methodischer Standards in der Geistes- und Geschichtswissenschaft.
I. Der Zerfall methodischer Standards in den Kulturfächern
1
Anlass dieser Ausführungen ist ein Zerfall methodischer Standards in Teilen der Forschung. Namentlich in der Geschichte haben sich Gebräuche eingeschlichen, die im Journalismus untragbar wären und geahndet würden. Sie werfen die Frage nach der Abgrenzung zwischen wissenschaftlichem Vorgehen in der Text- und Bildauslegung und dem unwissenschaftlichen Obskurantismus auf.
1. Hofers Geschichtsklitterungen als «Vermächtnis»
2
Die Tautologie im Titel nimmt einen Druckfehler in der Neuen Zürcher Zeitung 1987 auf. Gemeint war ein von Historikern lancierter Aufruf: „Zeitgeschichte im Würgegriff der Gerichte“.[1] Als Einer der ihren wegen Ehrverletzung verurteilt wurde, sahen sie schon das Ende ihrer Disziplin nahen. Scheibler hat als Jurist und Historiker ein lesenswertes Buch über diesen Zwist verfasst (2014). Am Anfang stand ein Zeitungsartikel des Berner Professors Walther Hofer, der die Dissertation über die Fröntlerbewegung 1930-45 von Wolf (1969, S. 43 f.) zitierte. Es ging um einen deutschfreundlichen, antisemitischen, und rechtsextremen Juristen und Offizier, der aber nicht soweit ging, den Hitlerismus kopieren zu wollen (Scheibler S. 38f). Der streitauslösende Text lautete: „Schliesslich gehörte Dr. Wilhelm Frick im Zweiten Weltkrieg zu den Vertrauensanwälten […] einer Gestapo-Abteilung in Feldkirch.“ Hofer hat ihn unkritisch übernommen. Innerhalb der ansonsten sorgfältigen Arbeit Wolfs stellte er sich jedoch als unzureichend belegt heraus. Fricks Sohn ging gerichtlich gegen die Unterstellung vor. Die Primärquelle nennt nur eine Zollfahndungsstelle, wobei der Zoll 1936 tatsächlich der Gestapo unterstellt wurde (Scheibler, S. 45). Was die damaligen Akteure davon wussten, ist unklar, denn die Gestapo war ja „geheim“ und operierte in einem Dickicht von Ämtern (Scheibler, S. 62).
3
Wolf bedauerte seinen Lapsus und die Parteien einigten sich mit einem Vergleich (Scheibler S. 72-75). Später beteiligte Wolf sich selbstlos an der Aufklärung der damaligen Ereignisse (Scheibler S. 11, 36-39, 153 f., 156). Vorbildlich stärkt er damit das Vertrauen in sein Werk und seine Zunft. Anders verhielt sich der rechtskräftig verurteilte Hofer (BGer 118 IV 153), obwohl auch sein Verschulden nur gering war. Hätte er sich seinem Versehen gestellt, wäre die Sache heute vergessen. Er wehrte sich jahrzehntelang gegen das Urteil, denn seine Glaubwürdigkeit stand noch in einem bedeutenderen Konflikt auf dem Spiel. Hofer war seit 1979 im Streit mit deutschen Kollegen, die ihm vorwarfen, er hätte seine Position in der Reichstagsbrands-Debatte mit (erkennbar) gefälschten Dokumenten untermauert (Scheibler S. 43, 154f). In einem Rundschreiben liessen Hofers Doktorierende den Professor als Opfer einer schreienden Ungerechtigkeit erscheinen. Die Schweizer Gerichte – so «urteilten» die Aktivisten – würden „offiziell Verschleierungspraktiken“ decken, „wie sie insbesondere für totalitäre Regimes charakteristisch sind“, wenn sie „über den Wortlaut der Quelle hinausgehende Plausibilitätsschlüsse“ in Frage stellten (Scheibler, S. 79). Bezeichnenderweise verschwiegen sie den Gutglaubensnachweis (Art. 173 StGB Ziff. 2), welcher historische Indizienbeweise sehr wohl zulässt.
2. „Ethik“ und „Grundsätze“ der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte
4
Die angeblich inakzeptable Rechtsprechung beeinflusste die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG), die 2004 einen „Ethik Kodex“ verabschiedete und ihn 2012 durch „Grundsätze zur Freiheit der wissenschaftlichen historischen Forschung und Lehre“ ergänzte.[2] Der Kodex wendet sich an alle, die über die Vergangenheit forschen. Er statuiert einige hehre Vorsätze, die aber letztlich schwammig bleiben. Die „Grundsätze“ sind mehrheitlich „Postulate“ an die Öffentlichkeit. Insgesamt nehmen Vorschriften an die eigene Zunft („Ethik Kodex“) 3.5 Seiten ein, wohingegen die Ansprüche an Recht und Politik, die sich ändern müssten, ganze 17 Seiten bedecken. Die SGG fordert (S. 6, Ziff. 2): „Der zunehmenden Verrechtlichung der geschichtswissenschaftlichen Forschung muss Einhalt geboten werden“. Dazu zitiert sie aus dem Medienrecht, was ihr gefällt, ignoriert aber die massgeblichen konkreten Gebote und Verbote zur Sorgfaltspflicht. Die SGG-„Grundsätze“ stecken voller Bezüge zum schwelenden Konflikt (S. 6: „Die Zeitgeschichte gehört nicht in den Würgegriff der Gerichte“), verschweigen aber sachdienliche Informationen dazu. Mehrfach fehlen Quellenangaben (S. 6 Fn 8,[3] S. 12 Fn 16, S. 19 Fn 31) – kein Vorbild für den Nachwuchs. Die Richtigkeit der Vorwürfe bezüglich des angeblichen Missbrauchs von Persönlichkeitsschutzargumenten, um „geschichtswissenschaftliche Forschung in eine bestimmte Richtung zu lenken“ (S. 17) lässt sich so nicht überprüfen. Demgegenüber präsentierten Kohtz & Kraus (2012, S. 260) Umfragen unter HistorikerInnen (N = 13), die unisono behaupteten, sie hätten „ein starkes Bewusstsein für die eigene Sorgfaltspflicht im Umgang mit den Quellen“. Wo ist es hier geblieben?
3. Die Indoktrination Studierender mit Denkfehlern unter neuer Etikette
5
Zum schweizerischen Fatum kommt der Einfluss populärer Sophisten wie Michel Foucault, Paul Feyerabend, u.a. hinzu, die eine willkürliche Verdachts-Hermeneutik vorantrieben (Breeze 2011, Haas 2019b, 2021). Die Gegenaufklärung benutzt Skandalisierungstechniken und versieht sie mit einer neuen Legitimation, die unter wechselnden Flaggen wie Postmodernismus, Konstruktivismus, Poststrukturalismus und Relativismus segelt. Dieser «Werkzeugkasten» voller Biases und Denkfehler umgeht die Vorgaben seriöser Wissenschaft (z.B. die von Seiffert 2006 oder Kosellek 1977). Dreiste Tricks füllen das methodische Vakuum aus (Vasquez 2020, S. 938): „we can identify across Foucault’s body of work an extensive and seemingly strategic use of free indirect discourse, a style of writing through which the place of the subject and/or author in a text is destabilized or obscured. This technique is notable ‘for its rhetorical capacity to produce in the reader a felt experience of cognitive and ethical dis-orientation.’ Free indirect discourse is at work when a narrator’s descriptions of a character’s thoughts come to be subtly replaced by the narrator’s own thoughts through the gradual disappearance of that character as the syntactic subject of the sentence.“
4. Verhaltene Gegenbewegung
6
Dagegen mahnen nachdenkliche Stimmen (Dommann & Gugerli 2011, S. 158): „Die Frage nach der Methode ist die ganz gefährliche Frage, die jedem Historiker den Angstschweiss auf die Stirne treibt. Ja, natürlich sind das Methoden, ganz viele sogar, mehr, als uns lieb ist, und die meisten haben wir mit guten Gründen schon lange entsorgt. Nach wie vor werden in den Proseminaren und in textlich greifbaren Einführungen in die Geschichtswissenschaft die Novizen mit den Standards der Geschichtswissenschaft vertraut gemacht. Aber es lässt sich eine eigentümliche didaktische Scheu feststellen, wenn es um Methodik geht. Der Begriff wird sicherheitshalber kaum verwendet. […] Die Geschichtswissenschaft ist eine Wissenschaft, die Methoden ungern expliziert und sie im handwerklichen Stil vermittelt“.
7
Die seltsame Methodik Foucaults erntete schon bald Kritik (vgl. Haas 2021). Daher bekennen sich nicht alle Anwendenden offen dazu. Umgekehrt gibt es auch methodisch korrekte AnhängerInnen von Foucault, die sehr wohl Spreu und Weizen trennen und den sog. «Pseudo-Foucault» als obsolete und gescheiterte Arbeitsweise kritisieren. Speich Chassé & Gugerli (2012, S. 90) meinen: „In Zürich wiederum bleibt die fruchtbare Polemik zwischen dem Konstruktivismus der Historiker […] und den normativen Interessen der Philosophen unübersehbar […]. Sie kristallisiert sich immer wieder in lebhaften Debatten über die Bedeutung des Foucaultschen Werks für das wissenshistorische Projekt. Während die Zürcher Philosophen fast schon um ihren Ruf fürchten, wenn sie Foucault zitieren oder gar lesen, nehmen die Zürcher Historiker die empirische Schwäche der Foucaultschen Exempelwirtschaft auf die leichte Schulter und freuen sich über eine reiche Reflexionsquelle zur Klärung der Ordnung der Dinge und zu den Formatierungsbedingungen diskursiver Dispositive (Sarasin 2005).“ Den Euphemismus „Empirische Schwäche“ könnte man auch direkt benennen, etwa «unhaltbare Behauptungen» oder «reine Spekulation». Gleichzeitig mildern die Autoren die – in der Sache scharfe – Kritik zu einer „fruchtbaren Polemik“ herab, in welcher sie ostentativ für ihre Berufsgruppe eintreten und angebliche „normative Interessen“ kritisieren. Welche Vorteile die Philosophen sich damit verschaffen würden, bleibt unerklärt. Der Text von Speich Chassé & Gugerli zeugt auch vom „Angstschweiss“ derer, die etwas verändern möchten, die aber im akademischen Wettbewerb schweren Nachteilen ausgesetzt wären, wenn sie ihre Kollegen durch offene Kritik verärgern würden.
II. Belastbare Hermeneutik
1. Das Demarkationsproblem in der Text und Bildauslegung
8
Journalistische und historische Erzählungen beruhen auf einer Serie von Entscheiden bezüglich der Recherche und bezüglich des Zusammensetzens des Indizien-Mosaiks zur Rekonstruktion der mutmasslichen Ereignisse. Ein fachlich korrekter Bericht erzählt – wenn möglich – auch Intentionen der Akteure und Ursachen der Ereignisse. Reine Erfindungen im Stil von Claas Relotius spielen hier keine Rolle. Viel häufiger sind umstrittene Narrative, die wohl Belege für ihre Behauptungen vorweisen können, aber nur punktuell. Was unterscheidet ein beweistaugliches Mosaik vom Obskurantismus? Die Frage ist von grosser Aktualität. Sie wird in der Wissenschaftsphilosophie als das Demarkationsproblem bezeichnet: Wo liegt die Grenze zwischen unwissenschaftlichem und wissenschaftlichem Denken? Einige Aspekte des Grenzziehens zwischen der faktengesättigten und semantisch korrekten Interpretation und einer an den Haaren herbeigezogenen Rhetorik werden mit Beispielen zur Diskussion gestellt.
2. Text- und Bildverständnis: vom Substrat zum Resultat
9
Textverständnis im Alltag: Das Sprachverständnis vertraut darauf, dass der beschriebene Kontext exakt auf die genannten Akteure und Ereignisse zutreffe, ohne dass dies explizit gesagt werden müsste (Sperber & Wilson 1995, S. 56 f., 142-151, 247-254). Dies wurde im Experiment als sog. Erwähnungsbias bestätigt (engl. matching bias). Selbst kluge und gebildete Köpfe können sich der Priorität des Gesagten nicht entziehen und ignorieren die Möglichkeit ungesagter Alternativhypothesen, ohne ihren Denkfehler zu bemerken (Newstead & Evans 1995, S. 148, 154-169).
10
Die Kluft zwischen Logik und Glaube an die sprachliche Konvention wird von Skandalierern ausgebeutet, um dem Vorwurf des Lügens auszuweichen. Wenn die Täuschung auffliegt, schieben sie die Schuld dem Publikum zu, das zu wenig aufmerksam gewesen sei, wohl wissend, dass niemand jeden Satz hundertmal prüfen kann, nur um jedes Hintertürchen zu entdecken. Das Bundesgericht trägt diesem Umstand umfassend Rechnung. „Behauptungen, die zwar nicht unwahr sind, aber beim Empfänger eine unrichtige Vorstellung hervorrufen“ gelten als widerrechtlich (Bacher 2017, Rz 34).
11
Fotos: Die Bildinterpretation scheint einfacher als die der Texte – sofern die Fotos nicht zurechtgeschnitten sind – und sofern es sich nicht um Kleinstdetails oder Verschwommenes handelt. Hingegen kann der von Asch (1951) experimentell untersuchte Konformitätsdruck einer falschen Bild-Auslegung zu unverdienter Akzeptanz verhelfen. Bei drei Vierteln der Versuchspersonen vermochte eine offensichtlich falsche Mehrheitsmeinung über die Länge von Strichen, deren eigene richtige Wahrnehmung auszuhebeln (teils häufig, teils nur sporadisch). Nur ein Viertel konnte dem Druck der (falschen) Mehrheitsmeinung länger widerstehen.
12
Bildauslegung steht und fällt mit den Legenden zu den Fotos, den Erklärungen zu ihrem Zustandekommen, dem Gesamtkontext und dem nötigen Abgleich zur gesamten publizierten und unpublizierten Fotodokumentation. Bildauslegung ist daher immer mit Textinterpretation verbunden. So berücksichtigt BGE B_610/2016 (E 3.1) die grafische Gestaltung, den Unterschied zwischen Gross- und Kleingedrucktem, die Reihenfolge der Leser-Wahrnehmung, sowie den Gesamteindruck, den die Kombination von Wort und Bild eines Dokuments hinterlässt.
3. «Wahrheit» versus Belastbarkeit von Erzählungen (Validität)
13
Die Idee einer objektiv feststellbaren, umfassenden und präzise abgrenzbaren «Wahrheit» sollte besser durch den Begriff der Belastbarkeit oder Validität ersetzt werden. Das Bundesgericht trägt der graduellen Belastbarkeit Rechnung, auch wenn es sie nicht so nennt (BGE 138 III 641, E. 4.1.2). Die Herleitung der fünf Dimensionen wurde bereits anderweitig publiziert (Haas 2017, 2019c). Sie dürften Medienschaffenden und -rechtlern ohnehin vertraut vorkommen:
14
a) Die Belastbarkeit der Quellenangaben versteht sich von selbst (Dim. I). Umgangen wird sie zuweilen, indem Quellen genannt werden, welche die Behauptung nur in einem höchst vagen oder abwegigen Sinne oder nur als ein angebliches «Missverständnis» belegen.
15
b) Die formell-sprachliche Verbindlichkeit und Klarheit besteht darin (Dim. II), dass Begriffe definiert und die Sätze verständlich und rein theoretisch auch widerlegbar sind. Willkürliche Darstellungen verstecken sich oft hinter rhetorischen Zwickmühlen.
16
c) Innere Belastbarkeit der Erzählung: Konsistenz, Stringenz (Dim. III): Eine schlüssige Erzählung deklariert auch Widersprüche im Substrat. Bei widersprüchlichen Aussagen von Akteuren ist zu eruieren, ob sie ev. nur widersprüchlich scheinen, weil ihnen eine widersprüchliche Realität zugrunde liegt. Bei Geständnissen nach vorigem Leugnen ist aus dem Kontext heraus zu erschliessen, welche Teile einer Aussage glaubhaft sind und welche nicht. Kohtz & Kraus (S. 260) meinen: „Um den Absturz zu vermeiden, müssen verschiedene, auch miteinander konkurrierende Formen geschichtlicher Wirklichkeit in die Darstellung mit einfließen.“
17
d) Die äussere Belastbarkeit der Erzählung, Faktizität (Dim. IV):
Die Erzählung stimmt mit den Naturgesetzen und mit den Quellen überein nach dem Satz von Tarski (1977, S. 143-145). Seiffert (S. 79 f.): „Auch in der Geschichtswissenschaft gilt das Gebot, dass Forschungsergebnisse intersubjektiv überprüfbar sein müssen. […] Denn das Prinzip der Intersubjektivität verlangt ja, dass der Benutzer sich auf die Quellenedition verlassen können muss. Er muss mit der Edition in gewisser Hinsicht so arbeiten können wie mit dem Original, das irgendwo in einer Bibliothek, einem Archiv oder einem Privathaushalt liegt.“ Kosellek bringt diesen Grundsatz auf einen Nenner (S. 45 f.): „Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert Sie uns, Aussagen zu machen, die wir aufgrund der Quellen nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder aus nicht zulässig durchschaut werden können. Falsche Daten, falsche Zahlenreihen, falsche Motiv Erklärungen, falsche Bewusstseinsanalysen: all das und vieles mehr lässt sich durch Quellenkritik aufdecken. Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen Sie uns, was wir sagen sollen.“ Dazu ist dann eben die Abduktion einer Idee nötig, welche versucht zu erklären, was hinter den Fakten steht.
18
e) Die kausale und intentionale Validität (Dim. V): Erzählungen sollen offenlegen, ob es sich um eine belegte Intention, Emotion oder Gesinnung, respektive um einen Kausalzusammenhang handelt, oder ob es um den Zufall, um blosse Korrelationen und Assoziationen. Interpretationen, die über die Fakten hinausgehen, sollten für die Leserschaft von der reinen Zusammenfassung der Fakten erkennbar unterschieden werden. Beliebt ist das Unterstellen von «Verwicklungen» mit inkriminierten Akteuren (guilty by association), um nahe an den Fakten zu bleiben und gleichwohl eine nicht beweisbare moralische Schuld zu insinuieren. Zu ihrer Legitimität lässt sich keine generelle Auslegungsregel etablieren, es kommt auf den Kontext an (BGer 118 IV 153, E.3b).
4. Sorgfaltspflicht bei der Recherche
19
Der Satz von Tarski über die Faktizität von Behauptungen, die als belastbar («wahr») gelten können, besagt nichts über die Wahl der Faktenbasis. Wie frei sind Autoren diesbezüglich? Der notwendige Recherche-Rahmen wird unter den Begriffen Sorgfaltspflicht und Gutglaubensbeweis abgehandelt (z.B. BGE 116 IV 205, E.3). Kohtz & Kraus (S. 261) schreiben: „Die Entscheidung etwa, welche Quellen als relevant in den entstehenden Text eingehen, welches Narrativ sich aus ihnen fügt oder in welches sie eingepasst werden, ist letztlich eine einsame. Zwar hat sie den oben skizzierten Idealen wissenschaftlicher Redlichkeit zu folgen. Auch gibt es klare Vorstellungen davon, dass die Zurichtung von Quellen im Forschungsprozess niemals aus Bequemlichkeit oder im Sinne des Verfolgens einer vorgefassten und gegen das Veto der Quellen gerichteten Hypothese geschehen darf.“ Es ist klar, dass man quasi jede willkürliche Behauptung scheinbelegen kann, in dem man das Quellenverzeichnis zurechtschneidert und mit dem sog. cherry-picking nur solche Fakten nennt, welche die Behauptung bestätigen und alle andern verschweigt. Beweisschwierigkeiten machen ehrverletzende Äusserungen natürlich nicht erlaubt (BGE 92 IV 98, E.4).
III. Leserrezeption: «Thinking fast or slow»?
20
Wer noch nie Narrative der Gegenaufklärung gelesen hat, könnte meinen, sie seien leicht zu widerlegen, wenn sie vornehmlich aus Schlagwörtern und Trugschlüssen bestehen. Damit würde man diese Autoren unterschätzen. Ihre Texte sind äusserst durchdacht. Wer versucht, ihren Inhalt in kurzen Worten zusammenzufassen, um sie zu kritisieren, tritt unweigerlich in eine Falle, denn wortwörtlich haben die Schreibenden das jeweils nie genau so aufs Papier gebracht. Kahnemann (2011) unterscheidet zwei Denkmodi: das schnelle, oberflächliche Verständnis, das aus einmaligen Lesen resultiert und die vertiefte Analyse, die Zeit, Konzentration und Nachdenken abverlangt. Die letztere kann verschiedene Tiefen ausloten. Hier stellt sich die Frage, welche Lesart zählt, wenn die verschiedenen Ebenen nicht zum gleichen Ergebnis führen. Indessen verheisst schon die Existenz verschiedener Resultate je nach Analyse-Tiefe nichts Gutes.
1. Eine verbale Fata Morgana über die Gründung der Julius Klaus Stiftung
21
Eine Leseprobe soll einen Eindruck von Inhalt und Stil eines solchen Narratives zu vermitteln. Zuerst fasst Germann (2016) seine Sicht zu Schweizer Wissenschaftlern während der Nazizeit zusammen, dann zur Gründung der Julius Klaus Stiftung 1919-1921. Er betont deren nationale und internationale Wichtigkeit als „Katalysator der Genetik und der Rassenforschung“ (S. 13, 37, 59, 63f) und spricht der Universität Zürich eine „führende Rolle“ zu (S. 16f). Die erwähnten Professoren, den Anthropologen Otto Schlaginhaufen (1879-1973) und den Botaniker Alfred Ernst (1875-1968)[4] nennt er „prägende Figuren“ (S. 409) mit einer „besonderen Machtposition“ (S. 52).
22
Tab. 1: Leseprobe aus Germann (S. 34-43)
«Einerseits fungierten Schweizer Vererbungsforscher auf dem internationalen Terrain der Wissenschaften oftmals als Alliierte der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, indem sie zum Beispiel Bestrebungen untergruben, die deutsche Genetik zu isolieren.» (S. 34) «Paragraph 13 des Reglements hielt den Zweck der Stiftung fest: ‘Als unter den Stiftungszweck fallend sind alle auf wissenschaftlicher Grundlage beruhenden Bestrebungen zu betrachten, deren Endziel auf die Vorbereitung und Durchführung praktischer Reformen zur Verbesserung der weissen Rasse gerichtet ist. Nicht unter den Stiftungszweck fallen Bestrebungen zu Gunsten körperlich und geistig Minderwertiger, sowie Sonderbestrebungen, wie zum Beispiel Abstinenz.’» (S. 37 f.) «Wie der Bezug auf die ‘weisse Rasse’ zeigt, amalgamierten sich eugenische Programmatiken dabei oft mit einem Rassismus, der sich aus europäischen Superioritätsansprüchen und kolonialen Differenzdiskursen speiste. Seit der Krise des Liberalismus am Ende des 19. Jahrhunderts diffundierten solche Diskurse der Ausgrenzung in verschiedene Gesellschafts-, Wissens- und Politikbereiche, radikalisierten Normalitätserwartungen der bürgerlichen Gesellschaft und entfalteten ein Diskriminierungspotenzial, das sich mit zunehmender Schärfe gegen Minderheiten und Aussenseiter richtete. […] die Präsenz aussereuropäischer Kolonialsoldaten in Europa sowie die sozialen Verwerfungen und die Zunahme von Klassenkämpfen gegen Ende des Krieges – verdichteten sich zu einem Wahrnehmungsgefüge, das in Kreisen der bildungsbürgerlichen Elite Untergangsängste schürte. Diese befürchteten die Erosion von als natürlich erachteten Ordnungen und Hierarchien. Rassismus und Eugenik waren in diesem Kontext attraktive Diskurs- und Handlungsangebote.» (S. 38) «Beide [Professoren] hatten sich spätestens während des Ersten Weltkrieges zu überzeugten Eugenikern entwickelt, und beide pflegten nicht zuletzt aufgrund ihrer dezidiert deutschfreundlichen Haltung gute Beziehungen zu führenden Kreisen der deutschen Rassenhygiene, […] » (S. 41) «Auch die Verfassung der Statuten überliess [der Stifter] den beiden Professoren, die damit weitgehend die inhaltliche Ausrichtung und organisatorische Form der Stiftung bestimmen konnten [… Diese] bemühten sich darum, der Stiftung eine möglichst internationale Orientierung zu verleihen. Es ist bemerkenswert, dass sich die eugenischen Zielsetzungen der Zürcher Stiftung keineswegs auf die Schweiz bezogen: […] Wie […] erwähnt, fungiert vielmehr die supranationale und globale Kategorie der ‘weissen Rasse’ als zentraler Bezugspunkt, die ihre Wirk- und Deutungsmacht im transatlantischen Sklavenhandel sowie im Expansionsstreben des europäischen Imperialismus entfaltet hatte. Damit suchten [die beiden] den Anschluss an die internationale eugenische Bewegung, die nach dem Ersten Weltkrieg einen enormen Aufschwung erlebte. […] Die beiden Zürcher Professoren, die während ihrer Südostasienexpeditionen von den kolonialen Machtasymetrien wissenschaftlich profitiert hatten, teilten diese Verbindung zum Rassismus» (S. 42 f.) |
2. Unbefangene Leserrezeption der Textprobe im schnellen Denken
23
Einer von vielen wohlwollenden Rezensenten des Buches wurde stutzig (Hafner 2017): „Neben der inhaltlichen Redundanz (zu oft resümiert er und blickt auf kommende Kapitel) ist zu bemängeln, dass der Autor, wenn er wissenschaftliche Terminologien referiert, davon ausgeht, dass der Leser schon wisse, was gemeint sei. Doch nicht immer wird klar, wie der Biologismus und ‹Rassismus› der Wissenschafter genau aussah; und manchmal liegt vage der Generalverdacht des irgendwie ‹Völkischen› auf den verhandelten Diskursen, ohne dass dieser begründet würde.“ Dieser Beobachtung kann man nun nachgehen.
24
In Vorlesungen zur Aussagen-Validität hat die Schreibende als Referentin eine 12-minütige Umfrage zum Verständnis der Textprobe (Tab. 1) aus der Erinnerung durchgeführt. Nachher konnten die Teilnehmenden damit üben. Die Instruktion lautete, sie sollten beim einmaligen Zuhören und Mitlesen gut aufpassen, es gehe um einen anspruchsvollen Text über die Geschichte einer Stiftung, um die Stiftungsgründung 1921, das Stiftungsreglement (Statuten), den Stifter selbst und zwei Professoren (Vererbungsforscher). Anschliessend mussten die Teilnehmer/innen aus der Erinnerung kennzeichnen, was sinngemäss im Text stehe (Tab. 2).
25
Tab. 2: Textverständnis im schnellen Denken
Fragen |
Antworten |
||
1) Waren die beiden Professoren Rassisten? |
ja: 56% |
nein: 24% |
weiss nicht: 20% |
2) Wollten die beiden Professoren Menschen mit Beeinträchtigungen als „Minderwertige“ diskriminieren? |
ja: 32% |
nein: 42% |
weiss nicht: 26% |
3) Waren die beiden Professoren die Autoren des §13 zur „weissen Rasse“ / „Minderwertigen“? |
ja: 37% |
nein: 27% |
weiss nicht: 37% |
4) Waren die beiden Professoren Opportunisten
|
ja: 31% |
nein: 29% |
weiss nicht: 39% |
5) Auf welcher Seite standen die beiden Professoren während des 2. Weltkriegs (tendenziell)? |
pro Nazi-Deutschland: 79% |
pro Schweiz & Neutralität: 16% |
pro England,
|
6) Welchen allgemeinen Eindruck haben die beiden Professoren bei Ihnen hinterlassen? |
sympathisch, altruistisch: 1% |
neutral: 28% |
unsympathisch, egoistisch: 71% |
7) Welchen allgemeinen Eindruck hat der Autor des Textes zur Stiftung hinterlassen? |
sachlich, objektiv: 29% |
teils-teils: 52% |
tendenziös, polemisch: 18% |
N = 109
n = 40 Studierende, männlich 33%, weiblich 63%, mehrheitlich zwischen 20 und 25 Jahre alt
n = 69 Staatsanwält/innen, männlich 56%, weiblich 44%, mehrheitlich zwischen 25 und 35 Jahre alt
26
In den Fragen 2-4 wurden auf die Schnelle weniger oft Beschuldigungen wahrgenommen und erinnert als in Frage 1. Zusammengenommen hatten 59% der TeilnehmerInnen mindestens eine der Fragen 2-3 bejaht. Sie haben damit die Beschuldigung der Behindertendiskriminierung implizit oder explizit als gegeben angesehen.
27
Im Schnitt wurde rund die Hälfte der vier Beschuldigungen einer angeblichen faschistischen Gesinnung (F1, F2, F3, F5) beider Professoren bejaht (M = 2.0, std = 1.2). Fast alle Teilnehmenden (92%) bejahten mindestens eine der vier Beschuldigungen. Welche davon jedoch in der Erinnerung haften blieben, variierte individuell. Durch den kumulativen Effekt von Verdächtigungen bleibt immer etwas hängen. Kepplinger (2012, S. 39) nennt das „Schuldstapelung“ vieler kleiner Vorwürfe, die: „den Eindruck eines grossen Missstandes hervorrufen, dessen Ursachen im Charakter des Akteurs liegen.“
28
Aufschlussreich sind nun die Antworten auf Frage 7. Über den Autor fanden 29% der TN, dass er „sachlich, objektiv“ bleibe. Eine Mehrheit las ihn eher kritisch: 52% meinten „teils/teils“ und 18% bezeichneten ihn als „tendenziös, polemisch“. Obgleich die meisten ahnten, dass es den Ausführungen an Sachlichkeit fehlt, spielte das für die Akzeptanz der Vorwürfe keine Rolle. Drei Viertel der Befragten fanden die Professoren trotzdem unsympathisch und egoistisch (F8). Die Leserrezeption zeigt, dass das kritische Denken durch Einhämmern von immer neuen Vorwürfen ausgehebelt wird. Nach dem Lesen erinnert man nicht so sehr den Wortlaut eines Textes, als an den darin subjektiv erfassten Sinn (Arntzen 2011, S. 60). Andeutungen eines Themas werden im Gedächtnis unter ihrem impliziten gemeinsamen Nenner abgespeichert (Minda 2015, S. 51). Ferner tendiert man dazu, alles Spätere im Licht der ersten Information (als anchoring bias, Dim. I) zu sehen (Tversky & Kahneman 1974, S. 1128).
3. Interpretation der Textprobe im langsamen, analytischen Studium
29
Der Rassismus Vorwurf (F1) wurde prima vista von der Hälfte der TN bejaht. Faktisch trifft er jedoch nur auf einen der Professoren zu (den frühen Schlaginhaufen), für den andern (Ernst) gibt es keinerlei Belege (Keller 1995, S. 108; Haas 2020). Der Autor könnte nun vorbringen, er hätte nirgends wörtlich geschrieben, beide Professoren seien Rassisten gewesen, dies sei ein Fehlschluss der Lesenden. Mit einer tieferen Analyse erkennt man aber, dass der Vorwurf als mehrstufiger Angriff daherkommt. Er ruht auf einem Zirkelschluss, der das was eigentlich zu beweisen wäre, als Prämisse voraussetzt: Angesichts „aussereuropäischer Kolonialsoldaten“ (d.h. people of color) werden der Bildungselite „Untergangsängste“ attribuiert und eine Weltsicht, die (gesellschaftliche) Hierarchien und Ordnungen als „natürlich“ erachtete. Unter Historikern sind „natürliche Ordnungen“ ein Oberbegriff für biologistische Theorien, die eine deterministische Rangordnungen zwischen Menschengruppen postulierten (Etzemüller 2015, S. 88, 95). Es ist eine Umschreibung der Rassismusdefinition nach Kühl (2014, S. 17). Paradoxerweise folgen dem nun die Sätze: „Rassismus und Eugenik waren in diesem Kontext attraktive Diskurs- und Handlungsangebote.“ und „Die beiden Zürcher Professoren […] teilten diese Verbindung zum Rassismus“. Indem sie den Begriff erneut nennen, verstärken sie den Eindruck von Rassismus, öffnen aber ein Hintertürchen, mit dem der Autor behaupten könnte, er habe nur die Möglichkeit einer rassistischen Einstellung eingeräumt, nicht deren Vorhandensein. Hier versteckt sich eine rhetorische Zwickmühle (Dim. II-III). Wenn beide Professoren als Bildungsbürger an natürliche Ordnungen geglaubt hätten und Untergangsängste angesichts afrikanischer Kolonialsoldaten gehabt hätten, dann wären sie beide schon zutiefst rassistisch gewesen. Das kann nicht gleichzeitig aufgehoben werden mit der Behauptung, es sei bloss ein „attraktives Angebot“ und ein „Teilen von Verbindungen“ gewesen.
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Frage 2 der Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen als „Minderwertige“ spielt auf den Inhalt von §13 an und wird verstärkt durch „radikalisierte Normalitätserwartungen der bürgerlichen Gesellschaft“ und „Diskriminierungspotenzial, das sich mit zunehmender Schärfe gegen Minderheiten und Aussenseiter richtete“ sowie „Beide [Professoren] hatten sich […] zu überzeugten Eugenikern entwickelt“. Ein Drittel der Teilnehmenden meinte, eine diskriminierende Absicht stehe sinngemäss im Text, über 40% verneinten es aber. Die Frage 3, ob die Professoren Urheber von §13 zur „weissen Rasse“ und den „Minderwertigen“ seien, bejahte ebenfalls ein Drittel, obwohl es nirgends explizit steht; ein Drittel verneinte es. Die Unterstellung speist sich aus „Auch die Verfassung der Statuten überliess [der Stifter] den beiden Professoren, die damit weitgehend die inhaltliche Ausrichtung und organisatorische Form der Stiftung bestimmen konnten. […] Wie […] erwähnt, fungiert […] die […] ‘weissen Rasse’ als zentraler Bezugspunkt, […] Damit suchten [die beiden] den Anschluss an die internationale eugenische Bewegung,“ Dass sie nur „weitgehend“ bestimmen konnten, dürfte überlesen werden, zumal es gemäss Relevanztheorie (Sperber & Wilson op. cit.) wenig plausibel scheint, dass jemand mit einer Bestimmung Zwecke verfolgt, wenn er sie gar nicht gewollt hat. Die Gründungsakten der Stiftung belegen, dass die beschuldigenden Textauslegungen in den Fragen 2 und 3 unberechtigt sind (Dim. I, IV-V). Die Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen war vom Erblasser verfügt worden und der § 13 wurde von einem juristischen Gutachter eingefügt (Haas 2020, S. 228-236).
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Zu angeblichen Sympathien während des 2. Weltkriegs (F5) fanden drei Viertel die Professoren seien „pro Nazi“ gewesen. Der Vorwurf, als „Alliierte der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik“ fungiert zu haben, enthält ein „oftmals“. Es wird leicht überlesen und LeserInnen ziehen falsche kategorische Schlussfolgerungen daraus (Minda, S. 127). Der Vorwurf wird später durch „dezidiert deutschfreundlich“ verstärkt. Die „Bestrebungen“, „die deutsche Genetik zu isolieren“ kann der Autor später im Buch (S. 246-257) nicht belegen (Dim. I), sie können somit auch nicht untergraben worden sein. Vielmehr bekannten sich die Biologen in der Woche vor dem Kriegsausbruch an einem Kongress zur internationalen Zusammenarbeit in Krisenzeiten und dankten besonders den Deutschen, Französischen, Italienischen und Polnischen Delegierten, dass sie gekommen waren (Crew 1939, S. 497). Alfred Ernst war zudem im 3. Reich als deutschfeindlicher Marxist fichiert (Haas 2020, S. 244, 253).[5]
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Frage 4 zielte auf den angeblichen Opportunismus der Professoren, manifest im „profitieren“ von „kolonialen Machtasymetrien“ allein wegen deren Forschungsreisen: Ein knappes Drittel hatte diese Andeutungen so verstanden. Der Vorwurf ist eine inquisitorische Jokerkarte. Man kann ihn allen Zeitgenossen anlasten, genauso wie man Auslandreisen allen heutigen Forschern (z.B. dem Autor) als ihr höchstpersönliches ökologisches Fehlverhalten vorhalten könnte (Dim. V).
4. Bilanz zur oberflächlichen versus der vertieften Lesart
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Die gezeigten Textstellen erteilen natürlich keinen Aufschluss über das ganze Buch, denn die Behauptungen im ersten Kapitel werden später ausführlicher abgehandelt. Punktuell konnten sie verifiziert werden, viele andere haben sich nach dem Konsultieren der Quellenlage als obsolet herausgestellt (Haas 2019a, 2019b, 2020, Keller 1995). Ob der Autor darüber Bescheid wusste, sei hier dahingestellt. Hingegen stehen die Validitätsfragen im Raum. Wieso formuliert er keine seiner schwammigen Anschuldigungen als direkte und falsifizierbare Feststellung? Kann ein solches Vorgehen als wissenschaftlich bezeichnet werden?
IV. Bildauslegung nach Augenschein und Kontextualisierung
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Die Ethnologin Hauser-Schäublin hat letztes Jahr (2020) auf Ungereimtheiten im Buch „Tropenliebe“ von Schär (2015) aufmerksam gemacht. Mit „Tropenliebe“ sei die damals verpönte homoerotische Freundschaft zwischen den beiden Naturforschern und Cousins Fritz und Paul Sarasin gemeint und deren (Schär S. 8) „zutiefst ambivalente und zerstörerische Liebe“ „für die Tropen“ und (S. 38 f.): „nicht zuletzt für die Knaben aus den ‘Naturvölkern’“. Die «Beweisführung» zur sexuellen Ausbeutung soll hier unter die Lupe genommen werden. Sie fungiert unter dem Titel „Macht und Erotik: Zugriffe auf den Körper der ‘Eingeborenen’“ (ab S. 262). Andere Vorwürfe des Buches, etwa der (S. 10), dass die Sarasins „selbst zu jenen ’weissen Menschen’ zählten“, die den indigenen Völkern „das ’todbringende Netz’ mit sich brachten“, werden nicht untersucht. Zweifellos war 1893-1903 die Menschenrechtssituation in den Kolonien weit von einer fairen demokratischen Gesellschaftsordnung entfernt.
1. Technische und politisch-soziale Bedingungen der Herstellung von Fotos
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Schär beobachtet im zweibändigen Werk „Reisen in Celebes“ (1905, Abk. RiC), dass die Fotos gestellt wirken, da die abgebildeten Personen in Richtung Kamera blicken, „so als würden sie die Instruktionen des Fotografen befolgen“. Sie seien also „nicht Teil der sozialen Situation“ zwischen den Akteuren (S. 264f). Dies kann man nachvollziehen. Indessen fehlt die quellenkritische Erklärung, wie umständlich das Fotografieren mit den unförmigen Apparaten und Glas-Platten war. Man musste das Licht messen, Blende, Zeit und Entfernung genau einstellen. Schnappschüsse eines gelebten Alltags aus der Nähe waren unmöglich (Dim. I). Bei Gruppenfotos kam es meistens vor, dass einige Personen merkwürdig dreinblickten oder mitten in einer Bewegung erwischt wurden. Wegen dieses Artefakts sind Schärs Deutungen der Gruppenfotos ein Lesen im Kaffeesatz (S. 146, 265-269) (Dim. V), auch wenn er sich fairerweise manchmal darum bemüht, verschiedene Möglichkeiten zu offerieren. Die Sarasins verweisen anhand eines Gemäldes darauf (RiC I, S. 106), dass der Gesichtsausdruck misslingen kann und nicht den widerspiegelt, den eine Person im Alltag hat.
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Die sozialen Umstände des Fotografierens und die Schwierigkeiten wurden von den Sarasins thematisiert (RiC II, S. 362). Schär kritisiert das (S. 262) als „Zugriff europäischer Forscher auf den Körper der ‘Eingeborenen’“ mittels verschiedener Herrschaftsverhältnisse und postuliert (S. 173): „Sie zweifelten nie daran, dass es legitim war, den ‘Widerstand’ der ‘Einheimischen’ zu ‘brechen’, um der Wissenschaft und dem Voranschreiten ‘Europas’ Bahn zu brechen.“ Die Ethnologen, die das Zustandekommen der Fotos korrekt schildern, kommen nur mit solchen Sätzen zu Wort, die ein unvorteilhaftes Licht auf sie werfen. Schär zitiert (S. 263) die Beschreibung grenzenloser Furcht vor der Kamera einiger Indonesier und die Vorstellung, dass beim Fotografieren die Seele mitgenommen werden könnte. Die behutsame Art, wie die Sarasins diese Ängste zu mindern verstanden, lässt er jedoch weg. Sie liessen die Indonesier durch die Kamera blicken und stellen sich selbst davor, was dann grosse Heiterkeit auslöste – offenbar hatte sich die Angst gelöst. Nicht erfahren darf man, dass die Sarasins zuweilen von Messungen und Fotos Abstand nahmen, wenn sie zu viel Furcht auslösten, oder dass das Fotografieren mit Auflagen erlaubt wurde, z.B. wenn die Leute das Bild vorher selber durch die Linse sehen konnten (RiC I, S. 92, 341; RiC II, S. 37 f., 362). Die Ehrlichkeit und die Abgrenzungen der damaligen Forscher gegen Ausbeutung und Willkürherrschaft benutzt Schär, um sie gegen sie zu wenden. Ihre Kritik an den weissen Europäern, die an Deutlichkeit nicht mehr zu überbieten ist und damals überhaupt nicht selbstverständlich war, wandelt er rhetorisch in eine „Ambivalenz“ um (S. 322 f.), die bigott wirkt.
2. Fotoauslegung anhand von Bildvergleichen
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Die intensive Freundschaft zwischen den Cousins schildert Schär anfangs nuanciert inklusive der Wissenslücken bezüglich der Homoerotik (S. 45). Das ist gutes wissenschaftliches Handwerk ohne Spekulationen. Leider geht es weiter mit (S. 60): „Wie für viele Männer im kolonialen Zeitalter bildeten also die Tropen auch für die Sarasins einen Raum voller Möglichkeiten und Verlockungen, die in Europa verboten waren. Nicht nur konnten sie dort ihre Liebe zueinander leben. Wie ich im Kapitel 11 zeigen werde, übten auch halbnackte Knaben und Männer aus den ‘Naturvölkern’ grosse Anziehungskraft auf die beiden Basler aus.“ Die Formulierung beinhaltet nun plötzlich eine unbelegte Gewissheit über die „verbotene“ „Liebe“. Formelle Validität (Dim. II) sieht anders aus.
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Unter dem Titel „Erotisches Interesse am Körper der ‘Anderen’“ macht sich Schär das diskriminierende Klischee zunutze, Homosexuelle seien an Jugendlichen weit unter ihrem eigenen Alter interessiert (S. 272 f.): „Neben dem wissenschaftlichen Interesse für die Körper der ‘Eingeborenen’ darf auch das erotische Begehren nicht ausser Acht gelassen werden. Beides […] wurde […] bislang vor allem unter heterosexuellen Blickwinkel thematisiert: Wie die koloniale Macht und anthropologisches Interesse den Körper der ‘eingeborenen Frau’ enthüllen, um ihn für europäische Männer verfügbar zu machen. Dies Sarasins scheinen sich allerdings mehr für die jungen Männer interessiert zu haben. In vielen Passagen fällt ihr genauer Blick für den männlichen Körper auf, der einerseits ihr geschultes anthropologisches Auge, andererseits aber auch eine homoerotische Ästhetik zum Ausdruck bringt. Das am besten dokumentierte Beispiel ist die Fotografie von ‘Prinz Dompo von Kulawi’. Es handelte sich um den Sohn eines lokalen Herrschers, der die Sarasins 1902, während der krisenhaften Zentralcelebesreise empfing.“
RiC II, S. 33: „Prinz Dompo von Kulawi“ (Schär S. 273) | |
RiC II, S. 31: „Junge Männer von Kulawi“ (Schär S. 180) |
RiC I, S. 202: “Toradja Frau” (bei Schär nicht abgebildet) |
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Im Porträt von Dompo ist keine Sexualisierung erkennbar, deshalb umgarnt Schär es mit Argumenten. Seitenangaben aus den Celebes-Büchern gibt er nicht preis, sondern nur die Archiv-Signaturen der Originale. Zur Prüfung muss man 850 Seiten durchblättern, wobei keines der Argumente dem Quellenvergleich (Dim. I) standhält. Sie werden als unstrukturierte Erzählung vorgebracht und mussten zur Entwirrung zuerst geordnet werden. Der springende Punkt (S. 275) ist, dass „die Sarasins also den Jungen dazu bewogen haben“ dürften, „sich seines Hemdes zu entledigen, um mit nacktem Oberkörper zu posieren.“ Damit möchte Schär das „Enthüllen“ (S. 273) beweisen.
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Argument 1: Bildervergleich zwischen Männern und Frauen:
Auf den Seiten unmittelbar vor dem „am besten dokumentierten Beispiel“ von Prinz Dompo behauptet Schär (S. 271), die Ethnologen hätten ein bestimmtes, angeblich „bestes“ Frauenfoto aus dem Archiv u.a. deshalb nicht publiziert, weil sie sich „mehr für Knaben und junge Männer interessierten als für Frauen“. Derweil hat es im Band I zwei Fotos von Frauen mit nacktem Oberkörper (RiC I, S. 202, 341), deren Qualität keineswegs minderwertig ist. Ohne dass er eine Unwahrheit schreibt, entsteht beim Publikum der unrichtige Eindruck, die Sarasins hätten gar keine halbnackten Frauen abgebildet (Dim. I-II).
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Argument 2: Bildervergleich bezüglich anderer Männer:
Weiter tönt es so, als ob die Sarasins hätten eine Verfälschung inszeniert hätten (S. 274): „Ein Blick ins Archiv der Sarasins zeigt nun, dass es sich beim Foto des Jungen wiederum um eine artifizielle, inszenierte ‘ethnographische’ Pose handelt. Auf einem andern Bild, das die Sarasins in keiner ihrer Publikationen verwendeten, erkennt man nämlich den Jungen in einer Gruppe mit anderen Knaben und Männern aus der Region Kulawi. ‘Prinz Dompo’ trägt, ebenso wie etliche andere auf dem Bild ein Hemd von europäischem Zuschnitt.“ Ein Vergleichsfoto, auf dem alle Jugendlichen, inkl. Dompo, Hemden tragen, ist bei Schär abgebildet (hier ausgelassen). Gleichwohl ist das Argument haltlos (Dim IV), wenn man weiss, dass die Sarasins kurz vor Prinz Dompo, eine Gruppe junger Männer aus Kulawi abgebildet haben (RiC II, S. 31). Einige tragen ein Hemd; Andere sind mit nacktem Oberkörper und haben wie Dompo einen Sarong über die Schulter gerollt. Schär hat dieses Foto rund neunzig Seiten vorher ebenfalls publiziert (S. 180). Wenn sie auf Seite 272 angekommen ist, dürfte die Leserschaft es vergessen haben. Im Band I findet sich eine weitere, gemischt bekleidete Gruppe (RiC I, S. 268), die Schär verschweigt.
2. Fotoauslegung anhand von Kommentaren der Hersteller
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Argument 3: mit der Tracht und dem Weben
Schär (S. 274 f.): „Dieses Bild widerspricht dem, was die Sarasins in diesem Jungen erkennen und mit ihrer europäischen Leserschaft teilen wollten, nämlich etwas ‘Gesetzmässiges’ in ‘der Kleidung des Knaben’: ‘sie entspricht … der Tracht vieler in der Kultur primitiv gebliebenen celebensischer Stämme’.278 Das angebliche Fehlen von gewebten Textilien bildete einen Beleg für die Argumentation, wie die Sarasins an anderer Stelle darlegen: ’Es ist merkwürdig, dass die Kunst des Webens, mit welcher die Bewohner von Europa schon in neolithischer Zeit wohl vertraut waren, noch zur Stunde nicht in Central Celebes eingedrungen ist’.279 Um dieses Bild nicht zu zerstören, dürften die Sarasins also den Jungen dazu bewogen haben, sich seines Hemdes zu entledigen, um mit nacktem Oberkörper zu posieren.
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278 RiC, II, 32 f.
279 RiC, II, 93. Faktisch waren die Hochlandgesellschaften, nicht nur auf Celebes, nie so isoliert, wie es die Literatur der Kolonialzeit darstellte.
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Um noch mehr davon zu überzeugen, dass die Sarasins einen jungen männlichen Körper „enthüllt“ hätten, lässt Schär Informationen weg. Der vollständige Satz lautet (RiC II, S. 32f): „In der Kleidung der Knaben dieses Gebietes nun sehen wir wiederum etwas Gesetzmässiges; sie entspricht nämlich der Tracht vieler in der Kultur primitiver gebliebener celebensischer Stämme, während die erwachsenen Kulawier bereits weiter fortgeschritten sind; in späterer Zeit werden dann auch schon die Knaben die Kleidung der Erwachsenen annehmen, und ihre jetzige Tracht wird zum Kinderspielzeug werden, wofür wir Analogien auch in Europa haben.“ Zum Weben ergänzten die Sarasins (RiC II, S. 93): „[…] in Celebes eingedrungen ist, obwohl doch die Küstenbewohner der Insel, wie wir z.B. in Buol gesehen haben, sehr geschickt darin sind.“ Schärs Kommentar (Fn 279), der die Relevanz bestreitet, ist unbelegt.
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Argument 4: betreffend die Kommentare zum Körper von Dompo
Schär (S. 273): „Die Sarasins beschrieben den Jungen als den ‘zierlichsten’ unter einer Gruppe bewaffneter Knaben, ‘elegant, gerade, … die ruhig blickenden Augen stolz von oben nach unten gerichtet, … der Mund feingeschnitten, die Farbe seiner Haut ein helles Gelbbraun, von welchem sich der scharlachrote Sarong, den er gerollt um die Schulter trug, prächtig abhob.’277“
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277 RiC, II, 32
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Ausgelassen wird, dass die Sarasins ganze Populationen so qualifizierten, auch Frauen (RiC II, S. 31,50,101; RiC I, S. 107, 113). Nach heutigem Ermessen imponieren ästhetische Werturteile als unwissenschaftlich. Dies ist jedoch eine ahistorische Sichtweise. Die Beschreibung der Morphologie beruht auf Irrtümern des frühen wissenschaftlichen Rassismus. Kleiner plumper Körperbau wurde phylogenetisch als „affen-näher“ angesehen, wohingegen schlanke, grosse Menschen als evolutionär höher entwickelte „Menschentypen“ galten (Etzemüller S. 79-82). Die Bedeutung des Phänotyps wurde damals (in Unkenntnis der Komplexität des Genoms) masslos überschätzt. Schär konnte das gleichzeitig veröffentlichte Werk von Etzemüller allerdings nicht kennen.
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Argument 5: angeblich homoerotisches Interesse bezeugt in einem Gedichtband
Schär (S. 275): „Dieser Junge verkörperte für sie den Prototypus des ‘edlen Wilden’, wie sich einem Gedicht von Paul Sarasin entnehmen lässt, welches er 1904 mit dem Titel ‘Der junge Wilde’ veröffentlichte.280 ’In einem Dorf in der Urwalds Schooss’, heisst es da, seien alle bei Ansicht der Sarasins von ‘Angst und Erregung’ gepackt worden. Nur der Junge sei ruhig geblieben:
‘Das Haupt so zierlich, die Nüstern so fein, die Lippen zu Lächeln gekräuselt, das Auge so gross, der Blick so rein … wie glücklich macht mich’s, mit den Augen solch’ Wunderbildwerk einzufangen … Ist meine Seele nur unverderblich, dann bist du ewig, bist unsterblich.’
Auf dem Originalbild sind Lächeln und grosse Augen nur schwer […] zu erkennen.
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280 Nach dem Skandal über einen früheren, 1893 veröffentlichten Gedichtband (vgl. dazu Kapitel 1) publizierte Paul Sarasin unter Pseudonym: Wiegand, F.: Gedichte 1904, S. 25.“
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Erstens identifiziert Schär den Protagonisten des Gedichts implizit als Prinz Dompo (indem er das Lächeln im Gedicht mit dem des Fotos abgleicht), obwohl im Gedichtband kein Name und nichts von Häuptlingssohn steht. Hier sehen wir den freien indirekten Diskurs in Aktion, der verschleiert, dass es sich nicht um eine historische Tatsache handelt, sondern um eine Vermutung.
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Zweitens lässt er uns nur durch ein Schlüsselloch auf die Gedichte gucken. In Wirklichkeit lässt sich eine homosexuelle Präferenz mit dem Gedicht nicht erhärten, sondern es handelt sich eher um eine Romantisierung indigener Menschen und ihrer Lebensweise. Auf der gegenüberliegenden Seite (Wiegand S. 24) findet sich nämlich eine Schwärmerei an ein Mädchen „Hebe“[6]:
„Verborgen in eines Dorfes Mitte, sah ich ein Mädchen in ärmliche Hütte,
das Gewand umrahmte lose die Hüften, der feine Busen war frei dem Blick,
Sie bog anmutig das Haupt zurück, das flutende Haare mit der Hand zu lüften,
so zierlich, wie von Hebe die Sage berichtet, ein Licht entströmte ihr, silberklar:
Olymp, du bist nicht rosiger erlichtet, als diese Hütte es war!“
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Drittens äusserten die Vettern eine freundliche Einstellung zu Frauen (RiC II, S. 115). Sie zeichneten sie als eigenständige Persönlichkeiten, z.B. als tüchtige Weberinnen (RiC I, S. 173), durchaus fähig, die Basler Herren mit Hohngelächter zu empfangen (RiC II, S. 189) oder sie vornehm zu ignorieren (RiC I, S. 87). Darüber hinaus werden sie als Regentinnen und Königinnen gewürdigt (RiC I, S. 296, RiC II, S. 224).
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Argument 6: weiteres Einhämmern
Gleichwohl doppelt Schär dann nochmals nach (S. 276): „Es wäre indes auch voreilig, europäische Forscher als rein wissenschaftlich motiviert zu betrachten. Bei der Auswahl ihrer Fotosujets liessen sich Sarasins auch durch ein homoerotisches Interesse für die Körper junger Männer und Knaben leiten.“ Die ganze Episode über Prinz Dompo (aus RiC II, S. 28, 32 f., 37, 78) verschweigt, dass der Häuptlingssohn den Europäern keineswegs unterwürfig oder ängstlich gegenübertrat. Er war selbstbewusst, half den Forschern einmal (RiC II, S. 37) und grenzte sich ab, wenn er es wollte (RiC II, S. 78): „ja, in der Vornacht erschien wieder unser junger Freund der Prinz Dompo, mit Gefolge auf dem Plan und betrachtete sich das ganze Biwak, indem er jedoch gegen uns sich steif abschloss“.
3. Bilanz zur Bildanalyse
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Schär gewinnt seine Plausibilität primär durch Auslassungen (vgl. Teitler 2015, Rz3). Wie ein Skandalierer (Kepplinger, S. 60 f.) verschweigt er das Fehlen von Handlungsalternativen zur damaligen Zeit, denn damit würde seine Empörungsbewirtschaftung dahinfallen. Hätte man diese Kulturen einfach unbemerkt untergehen lassen sollen? Wäre es für das Los der indigenen Völker besser gewesen, wenn sie unbeobachtet von Aussenstehenden der Macht der Kolonialbeamten (und der Macht anderer in Indonesien dominierender Volksgruppen) vollständig ausgeliefert geblieben wären?
52
Seinem Anspruch, historische Gerechtigkeit gegenüber den «Verdammten dieser Erde» walten zu lassen, kommt Schär jedenfalls nicht nach. Indem er den Prinzen nicht als den führungsstarken, selbstbewussten jungen Mann darstellt, der er war, verfällt der Kolonialismuskritiker selber einer eurozentrischen Entwertung indigener Menschen. Er reduziert ihn faktenwidrig auf ein hilfloses Sexualobjekt. Dasselbe tut er anderen Akteuren an, die sich der Erforschung zuweilen hingaben, sie zuweilen verweigerten oder sie auch steuerten (RiC II, S. 69, 80). Von den Schilderungen der Sarasins, wie Wedda-Männer ihre Babys auf dem Rücken trugen (RiC II, S. 128), oder dass die mächtigen Priester Bissu eine fluide Genderidentität hatten (RiC II, S. 75, 203), dürfen wir nichts erfahren.
V. Fazit: Geschichte im Würgegriff ihrer selbst
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Es ist nicht einzusehen, inwiefern ein «Historiker-Sonderrecht» auf falsche Behauptungen dem öffentlichen Interesse oder dem Fortschreiten der Wissenschaft dienen sollte. Mit ihren schwammigen Vorgaben bedient die SGG primär die Ordinarien. Sie setzt den Fehlanreiz, Studierende zu belohnen, die aufsehenerregende, aber unbelegte «Befunde» produzieren. Die so «aus dem Feuer geholten Kastanien» lassen sich später risikolos in die Monografien der Professoren einbauen. Geschichtsklitterung und ungenügende Betreuung werden damit reingewaschen. Der Nachwuchs muss sich hingegen in einem verzerrten Wettbewerb behaupten oder sich dem Risiko rechtlicher Schritte aussetzen. Dass die Sorge um valide Wissenschaft berechtigt ist, zeigen die zwei Junghistoriker, denen es gelungen ist, sich trotz auffälliger methodischer Schwächen wirksam in Szene zu setzen. Ihre hochgepriesenen Arbeiten aus der Wissenschafts-Geschichte, deren Quellenlage hier recherchiert wurde, basieren auf einer «Insider-Methodik», welche die Öffentlichkeit erstaunen dürfte, wenn sie davon wüsste. Sie dokumentieren einmal mehr die Unzulänglichkeit der peer-review.
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Der Freud’sche Versprecher „Neuzeitgeschichte im Würgegriff der Geschichte“ im Titel der Solidaritätsbekundung mit Walther Hofer scheint sich als Prophezeiung selbst erfüllt zu haben. Die Verweigerungshaltung gegenüber der Sorgfaltspflicht und die leichtfertige Verdachtshermeneutik hat sich trotz Bundesgerichtsentscheid ausbreiten können. Studierende – zukünftige Medienschaffende und Lehrpersonen – werden darin falsch ausgebildet. Heute sind es keine einmaligen und simplen Übertreibungen mehr und es werden nicht «nur» dezidierte Rechtsextreme angegriffen. Wer zur falschen Zeit gelebt hat, fällt wegen unseriöser Rhetorik der Verunglimpfung oder der Verachtung anheim – darunter auch die Pioniere gegen den Rassismus und die Leidtragenden des Kolonialismus. In «postmodernen» Werkstätten wird so ein Bild vergangener Zeiten herbeigezaubert, das gegen das Veto der Quellen verstösst. Wo die Grenzen der Wissenschaftlichkeit in der qualitativen Forschung liegen, sollte also geklärt werden. Empfehlenswert wäre eine begleitende Dokumentation aller Archivalien (z.B. auf einer Homepage), damit die wissenschaftliche Überprüfbarkeit besser gewährleistet ist und damit eine echte Diskussion unter Experten und in der interessierten Öffentlichkeit überhaupt stattfinden kann.
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Etzemüller, Th. (2015). Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen. Bielefeld: transcript-Verlag.
Haas, H. (2017). Zur Würdigung des Aussagenbeweises. Kriminalistik, 71(2): S. 117-124.
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Kepplinger, H. M. (2012). Die Mechanismen der Skandalierung. München: Olzog.
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(Link zu S. 1-5, 9-67, 74-76), (Link zu S. 262f, 265-271, 274f).
Scheibler, K. (2014). Geschichte im Würgegriff der Gerichte? Zürich: Offizin.
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Fussnoten:
- Aufruf „Zeitgeschichte im Würgegriff der Geschichte“. NZZ 5.3.1987. Korrigendum NZZ 6.3.1987. Entgegnung des Rechtsvertreters der Familie, NZZ 18.3.1987. ↑
- https://www.sgg-ssh.ch/sites/default/files/files/ethikkodex_grundsaetze_layout_erg.pdf ↑
- Leider wird man gezwungen, darüber zu spekulieren, ob es um den Aufruf in der NZZ vom 5.3.1987 geht oder nicht. Würde jemand naiverweise davon ausgehen, wären die Verfasser in der komfortablen Lage, zu entgegnen, er/sie sei um kein Haar besser. ↑
- Die Verfasserin dieses Artikels hat dieses Buch und damit die Thematik per Zufall entdeckt, weil Alfred Ernst, ihr Grossvater war. Sie hat dann einige Dinge berichtigt (Haas 2019a, 2020). ↑
- Deutsches Bundesarchiv Berlin: R 4901-2756, Nr 285: Dahnke an Wettstein 5.9.1941. ↑
- Staatsarchiv Basel Stadt, Sig. PA 212a T 6,7: Wiegand, F. Gedichte 1904, S. 24-25.
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