Der EGMR gibt dem VgT und Erwin Kessler sel. recht
Dr. Christoph Born, Rechtsanwalt, Zürich
EGMR-Urteil Kessler
I. Vorgeschichte und Sachverhalt
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Vor den Staatsratswahlen im Kanton Freiburg im Oktober 2006 rief der VgT in seiner Broschüre «ACUSA-News» dazu auf, den bisherigen Staatsrat Pascal Corminboeuf, Vorsteher der Direktion der Institutionen und der Land- und Forstwirtschaft, nicht mehr zu wählen. Die Broschüre enthielt auf der Titelseite ein Foto von Corminboeuf, das mit einem roten Kreuz durchgestrichen und mit der Aufschrift «Ne votez plus pour ce conseiller d’Etat sans pitié!»versehen war. Dem Staatsrat wurde u.a. vorgeworfen, einen Landwirt, der wegen Vernachlässigung seines Viehs verurteilt worden war, weiter gewähren zu lassen und sich einem Tierhalteverbot zu widersetzen. In der Broschüre wurden Beispiele von Missachtungen des Tierschutzgesetzes gezeigt und verlautbart, das werde sich nicht ändern, solange ein tierverachtender Staatsrat für die Umsetzung des Gesetzes verantwortlich sei. Die Haltung von Corminboeuf, der für den Tierschutz zuständig sei, habe verheerende Folgen: «Des fabriques d’animaux concentrationnaires, comme dans des pays où aucune loi sur la protection des animaux n’existe». Auf einer Seite der Broschüre befand sich ein Foto von totgeborenen Ferkeln, ein rot durchgestrichenes Foto von Corminboeuf sowie das Wort «déchet».
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Im März 2010 verteilte der VgT eine weitere Ausgabe der «ACUSA-News». Darin war u.a. von der «hypocrisie» des Staatsratsmitglieds Corminboeuf die Rede sowie von den politischen und juristischen Machenschaften, die ihn deckten und bei den letzten Wahlen den Ochsen («le boeuf») wieder gewählt hätten. Corminboeuf wurde vorgeworfen, im Wahlkampf erfundene Behauptungen zu den vom VgT publizierten Fotos verbreitet zu haben («le mensonge gros comme une maison», «inventé sans scrupules»). Wiederum warf der VgT Corminboeuf vor, einen tierquälenden Landwirt geschützt zu haben. Das sei nicht verwunderlich angesichts der tierverachtenden und tierfeindlichen Haltung, die Corminboeuf in seinem Umgang mit dem rückfälligen Landwirt offenbart habe, dessen Verbot der Tierhaltung er aufgehoben habe. Mit seinen haltlosen Anschuldigungen gegen Kessler versuche Corminboeuf offensichtlich mit allen Mitteln, seine im Wahlkampf laut angekündigte Strafanzeige zu retten, um die Wähler zu täuschen, um nicht ganz das Gesicht zu verlieren. Die Art und Weise, wie er bei diesen skrupellosen Machenschaften («machinations sans scrupules») unterstützt worden sei, stelle einen Missbrauch der Justiz für politische Zwecke dar – einen Machtmissbrauch.
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Die Broschüren vom Oktober 2006 und März 2010 wurden in einer Auflage von 100’000 Exemplaren an alle Haushaltungen im Kanton Freiburg verteilt und an die Abonnenten des VgT verschickt. Die Broschüre vom März 2010 wurde auch auf die Website des VgT aufgeschaltet.
II. Urteile in der Schweiz
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Am 30. Oktober 2006 reichte Corminboeuf u.a. gegen Erwin Kessler eine Strafanzeige ein. Dieser wurde mit Strafbefehl vom 28. April 2009 der üblen Nachrede und Beschimpfung im Zusammenhang mit der genannten Broschüre schuldig gesprochen und zu einer unbedingten Geldstrafe von 45 Tagessätzen à CHF 70 verurteilt. Mit Urteil vom 17. November 2009 wies das Bundesgericht die Beschwerde gegen das kantonale Urteil, das diese Verurteilung bestätigt hatte, ab (BGer 6B_833/2009 vom 17. November 2009).
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Am 24. September 2010 reichte Corminboeuf beim Tribunal d’arrondissement de la Broye gegen Kessler und den VgT eine Klage wegen widerrechtlicher Persönlichkeitsverletzung ein. Er klagte auf Unterlassung, auf Feststellung der widerrechtlichen Verletzung seiner Persönlichkeit, auf Veröffentlichung des Urteils und auf Zahlung einer Genugtuung von CHF 5’000. Mit Urteil vom 14. Januar 2011 hiess das Tribunal die Klage gut. Die Beklagten wurden auch verpflichtet, die Broschüren vom Oktober 2006 und März 2010 sowie alle früheren und zukünftigen Stellungnahmen über Corminboeuf im Internet zu löschen und das Urteil in den Zeitungen «La Liberté», «La Gruyère» und «Freiburger Nachrichten» zu veröffentlichen.
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Mit Urteil vom 13. Mai 2014 wies das Kantonsgericht Freiburg die Berufung des VgT und Kesslers gegen das erstinstanzliche Urteil ab und bestätigte dieses.
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Die dagegen vom VgT und von Kessler erhobene Beschwerde hiess das Bundesgericht in seinem Urteil BGer 5A_639/2014 vom 8. September 2015 insoweit gut, als es zum Schluss kam, dass Corminboeuf keine Genugtuung zuzusprechen sei. In allen andern Punkten wies es die Beschwerde ab. Bemerkenswert ist, dass das Bundesgericht festhielt, der angefochtene Entscheid stütze sich auf einen offensichtlich unvollständigen Sachverhalt, da er insbesondere den Inhalt der Aussagen in den strittigen Broschüren, die Anlass zum vorliegenden Verfahren gaben, nicht wiedergebe. Es ergänzte deshalb in Anwendung von Art. 105 Abs. 2 BGG den Sachverhalt auf der Grundlage des erstinstanzlichen Urteils und der Akten von Amtes wegen (E. 2.2.2). In seinem Urteil schützte es die Feststellung der Vorinstanz, die Beklagten hätten ihre Beweismittel (Zeitungsausschnitte, ein Bundesgerichtsurteil und ein Entscheid der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen) zu spät eingereicht und deren Inhalt könne nicht als notorisch gelten, nur weil dieser jedermann zugänglich war (E. 7.3 und 7.4). Obwohl das Bundesgericht einräumte, dass aus der Begründung der Vorinstanz nicht explizit hervorgehe, dass diese eine Interessenabwägung vorgenommen habe, wies es den Vorwurf der Verletzung von Art. 28 ZGB zurück. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass ein öffentliches Interesse an der Verbreitung bestimmter Informationen über die Schweinezucht im Kanton Freiburg bestehe, könne dies keinesfalls den Inhalt der gesamten Äusserungen gegen Corminboeuf rechtfertigen. Aus dem kantonalen Sachverhalt, der für das Bundesgericht verbindlich sei, gehe hervor, dass Corminboeuf nicht nur als Politiker angegriffen worden sei, denn er sei mehrmals als Lügner bezeichnet worden, man habe über seine Heuchelei berichtet und ihn als Abfall sowie als «boeuf» bezeichnet. Eine solche Beschimpfung ziele nicht nur darauf ab, die Fähigkeiten von Corminboeuf zur korrekten Ausübung seines politischen Mandats in Frage zu stellen, sondern auch darauf, ihn in seiner privaten Wertschätzung anzugreifen (E. 10.4). Auf die Rüge, die umfassende Verpflichtung zur Löschung aller Beiträge über Corminboeuf verstosse gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit, ging das Bundesgericht mangels offensichtlicher unzureichender Begründung nicht ein. Die Verpflichtung, das Urteilsdispositiv in drei Freiburger Zeitungen zu veröffentlichen, schützte es mit der Begründung, eine Veröffentlichung in «ACUSA-News» selbst würde es kaum ermöglichen zu überprüfen, ob die Exemplare im gleichen Verhältnis verteilt und das gleiche Publikum erreichen würden wie die streitigen Publikationen (E. 11.3.1 und 11.3.2).
III. Entscheid des EGMR
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Am 15. April 2016 reichten der VgT und Kessler Beschwerde bei Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Am 24. September 2021 verstarb Erwin Kessler. Nachdem seine Söhne die Absicht ausgedrückt hatten, das Verfahren fortzuführen, sprach er diesen die Berechtigung zu, an die Stelle ihres Vaters zu treten.
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In seinem Entscheid Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) und Kessler gegen Schweiz, Nr. 21974/16, vom 11. Oktober 2022 kam der EGMR zum Schluss, dass das Urteil des Bundesgerichts gegen Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstosse. Die Schweizer Gerichte hätten nicht festgestellt, ob es sich bei den eingeklagten Äusserungen («déclarations») um Tatsachenbehauptungen oder Werturteile handelte. Diese hätten Aussagen («assertions») eines Gewählten, der sich um eine Wiederwahl beworben habe, zu Fragen des öffentlichen Interesses, nämlich des Tierschutzes, widergespiegelt, die als solche Werturteile darstellten («constituent à ce titre des jugements de valeur»). Was die Faktenbasis betreffe, hätten die Beklagten Zeitungsausschnitte vorgelegt, die nach ihrer Auffassung bekannte Tatsachen enthielten. Diese seien jedoch vom Kantonsgericht zurückgewiesen worden, und das Bundesgericht habe dies geschützt (Ziff. 23). Die nationalen Gerichte hätten nicht berücksichtigt, dass sich die eingeklagten Äusserungen auf einen Politiker («homme politique») bezogen hätten, für den die Grenzen zulässiger Kritik weiter gesteckt seien als für einfache Privatpersonen (Ziff. 24). Auch wenn die verwendeten Ausdrücke hart klingen mögen, würden sie im Kontext mit einer Wahl und dem allgemeinen Interesse am Tierschutz im Rahmen des Zulässigen bleiben. Was das Wort «boeuf» betreffe, handle es sich um ein Wortspiel, und es sei sehr zweifelhaft, dass sich das Wort «déchet» auf den Politiker beziehe (Ziff. 25). Die nationalen Gerichte hätten die vom VgT und von Kessler vorgebrachten Beweismittel prüfen und die Privatsphäre von Pascal Corminboeuf gegen das Recht des VgT und Kesslers auf freie Meinungsäusserung abwägen müssen. Die Notwendigkeit, die Rechte von Corminboeuf über die Rechte des VgT und Kesslers zu stellen, sei nicht überzeugend begründet worden (Ziff. 25). Schliesslich bezog sich der EGMR auf die Verpflichtung, die Broschüren, welche die eingeklagten Äusserungen enthielten, von der Internetseite zu entfernen und das Urteil in drei Zeitungen des Kantons Freiburg zu veröffentlichen. Er bezeichnete die Verpflichtung zur Löschung angesichts des wichtigen politischen Themas als unverhältnismässig und hielt fest, dass beide Sanktionen ziviler Natur eine abschreckende Wirkung («effet dissuasif») auf die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäusserung durch den VgT und Kessler haben könnten, indem sie diese davon abhielten, ihre statutarischen Ziele zu verfolgen und künftig Kritik an der Politik zu üben («critiquer les politiques») (Ziff. 26).
IV. Anmerkungen
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Gemäss ständiger Rechtsprechung des EGMR ist bei der Beurteilung von Rufschädigungen zu unterscheiden zwischen Privatpersonen und Personen, die in einem öffentlichen Kontext als politische Persönlichkeiten oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auftreten. Während eine Privatperson, die der Öffentlichkeit nicht bekannt ist, einen besonderen Schutz ihres Rechts auf Privatleben beanspruchen kann, gilt dies gemäss EGMR nicht für Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Bei diesen seien die Grenzen für kritische Äusserungen weiter gesteckt, da sie unweigerlich und wissentlich der öffentlichen Kontrolle ausgesetzt seien («inevitably and knowingly exposed to public scrutinity») und daher ein besonders hohes Mass an Toleranz zeigen müssten. Wer bei (Parlaments-)Wahlen antrete, betrete die politische Bühne und setze sich einer genauen Prüfung aus – einer Prüfung jedes seiner Worte und Taten («every word and deed») sowohl durch Journalisten als auch durch die breite Öffentlichkeit (EGMR Prunea gegen Rumänien, Nr. 47881/11, 8. Januar 2019, Ziff. 30 f.).
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Erwägungen dieser Art hat das Bundesgericht in Bezug auf die Äusserungen über Pascal Corminboeuf nicht angestellt. Den Umstand, dass Corminboeuf als gewähltes und wieder kandidierendes Mitglied der Kantonsregierung der öffentlichen Kontrolle ausgesetzt war und deshalb ein besonders hohes Mass an Toleranz zeigen müsste, zog es nicht in Betracht. Vielmehr begnügte es sich mit der Feststellung, dass Corminboeuf in seiner privaten Wertschätzung angegriffen worden sei, und dass offensichtlich kein öffentliches Interesse bestehe, welches die Verwendung der eingeklagten Bezeichnungen rechtfertigen könnte. Diese Feststellung traf das Bundesgericht, obwohl im Entscheid des Kantonsgerichts Freiburg nicht einmal die eingeklagten Äusserungen wiedergegeben waren und aus der Urteilsbegründung nicht explizit hervorging, dass eine Interessenabwägung vorgenommen worden war. Der vorliegende Fall gehört somit zu den Konstellationen, in denen der EGMR das Anliegen freier Kommunikation höher einstuft, als es die bundesgerichtliche Praxis tut (vgl. dazu Franz Zeller, Öffentliches und internationales Medienrecht, Skriptum Universität Bern und Basel, 19. A., 2022, S. 183).
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Zwei Erwägungen des EGMR erweisen sich bei näherem Hinsehen als problematisch. Zum einen vertritt er die Auffassung, dass die eingeklagten Äusserungen («déclarations») als solche («à ce titre») Werturteile darstellten, weil sie Aussagen («assertions») des wieder kandidierenden Corminboeuf zu Fragen des öffentlichen Interesses, nämlich des Tierschutzes, widergespiegelt hätten. Eingeklagt waren aber nicht nur Werturteile, sondern auch Tatsachenbehauptungen, wie zum Beispiel der Vorwurf, Corminboeuf habe das Tierhalteverbot gegen einen Tierquäler aufgehoben, und seine Behauptung, der VgT habe veraltete Fotos publiziert, sei eine Lüge. Diese Tatsachenbehauptungen sind ohne Weiteres einem Beweis zugänglich. Wenn sie unwahr sind, stellen sie eine widerrechtliche Verletzung des Ansehens von Corminboeuf dar. Sie können nicht einfach zu (zulässigen) Werturteilen erklärt werden, weil sie sich auf das Verhalten eines wieder kandidierenden Politikers im Bereich Tierschutz beziehen. Bereits in seinem Entscheid Paturel gegen Frankreich, Nr. 54968/00, 22. September 2005 hat der EGMR die Ansicht vertreten, dass die inkriminierten Äusserungen Aussagen zu Fragen von öffentlichem Interesse widerspiegeln und insofern eher Werturteile als Tatsachenbehauptungen darstellten (Ziff. 37). Diese Auffassung bekräftigte er in seinem Entscheid GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus gegen Schweiz, Nr. 18597/13, 9. Januar 2018 (Ziff. 68). Im zuletzt genannten Fall ging es aber nicht um eine reine Tatsachenbehauptungen, sondern um ein gemischtes Werturteil, sodass die Übergewichtung des wertenden Gehalts vertretbar erschien (vgl. dazu «Der Vorwurf ‹verbaler Rassismus› war ein Werturteil, das der sachlichen Grundlage nicht entbehrte», Medialex 01/18). Im Fall VgT und Kessler setzt sich der EGMR aber über die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen hinweg und behandelt die eingeklagten Äusserungen generell als Werturteile. Weshalb er dies tut, begründet er nicht – und es leuchtet auch nicht ein, zumal er an anderer Stelle den Schweizer Instanzen vorwirft, sie hätten nicht festgestellt, ob es sich bei den beanstandeten Äusserungen um Tatsachenbehauptungen oder Werturteile handelte (Ziff. 23). Dieser Widerspruch nimmt dem Entscheid eitwas von seiner Überzeugungskraft.
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Problematisch erscheint auch die Erwägung des EGMR, die nationalen Gerichten hätten die vom VgT und von Kessler zur Untermauerung ihrer Behauptungen vorgelegten Elemente prüfen müssen (Ziff. 25). Dabei zog der EGMR offenbar nicht in Betracht, dass die Beweismittel deshalb nicht geprüft wurden, weil sie verspätet eingereicht worden waren und weil sie auch nicht als notorisch bekannte Tatsachen gelten konnten (BGer 5A_639/2014 vom 8. September 2015, E. 7.3 f.). Es wurden demzufolge deshalb keine Beweise abgenommen, weil sie gemäss den zivilprozessrechtlichen Vorschriften nicht (mehr) abgenommen werden durften. Weshalb der EGMR über diesen Umstand einfach hinweggegangen ist, ist nicht ersichtlich. Somit bleibt die Frage offen, ob er anders, oder zumindest differenzierter, entschieden hätte, wenn er sich damit befasst hätte – eine Frage, welche die Überzeugungskraft des Entscheids ebenfalls mindert.
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Zu Recht hat der EGMR festgestellt, dass die Verpflichtung, die Broschüren auf der Internetseite des VgT zu löschen, unverhältnismässig war. Gemäss Art. 28a Abs. 1 Ziff. 2 ZGB kann vom Gericht nur die Beseitigung einer bestehenden «Verletzung» verlangt werden. Soweit die Löschung von Äusserungen angeordnet wurde, die weder eingeklagt worden waren noch als widerrechtlich qualifiziert wurden, fehlte dazu allein schon die gesetzliche Grundlage.
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