Trennung von redaktionellem Teil und Werbung im Fokus

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Die Spruchpraxis des Schweizer Presserates im Jahr 2019

Dominique Strebel, Jurist und Studienleiter an der Schweizer Journalistenschule MAZ*

Résumé: Le Conseil suisse de la presse a une nouvelle fois enregistré plus de cent plaintes en 2019, comme les deux années précédentes. Il a adopté 83 prises de position. Dans environ un tiers des cas (29), la plainte a été acceptée, partiellement ou complètement. Un des points forts de l’année a été la question de la séparation entre partie rédactionnelle et publicité dans les médias. Trois prises de position y ont été consacrées. Le Conseil de la presse s’est également adressé aux médias à ce sujet, pour dire sa «profonde inquiétude» devant les formes «toujours plus subtiles mises en œuvre pour la publicité dite native advertising. De très nombreuses plaintes ont en outre porté, à nouveau, sur l’obligation de vérité, notamment les questions sur l’établissement des faits et la pertinence de la publication des noms. Les plaintes invoquant des violations de la dignité humaine ont également nettement augmenté.  

Zusammenfassung: Der Presserat ist 2019 wie in den beiden Vorjahren in über 100 Fällen angerufen worden. Er hat 83 Stellungnahmen verfasst. In einem guten Drittel der Fälle (29) hat er die Beschwerden ganz oder teilweise gutgeheissen. Ein Schwerpunkt der Tätigkeit des Presserates betraf die Frage der Trennung von redaktionellem Teil und Werbung. Dazu hat der Presserat drei Stellungnahmen verfasst und ist aus aktuellem Anlass selber an die Medien getreten. Er zeigte sich «zutiefst besorgt» über die «immer subtileren Formen, welche für das Native Advertising eingesetzt werden».  Eine grosse Zahl der Beschwerden betrafen erneut das Wahrheitsgebot, insbesondere Fragen zum Belegen von Fakten, und die Zulässigkeit der Namensnennung. Merklich zugenommen haben Beschwerden, mit denen Verletzungen der Menschenwürde geltend gemacht wurden.

INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung      N 1
II. Verfahrensfragen und Geltungsbereich    
      1. Allgemeine Verfahrensfragen    N 5
      2. Gerichtliche Parallelverfahren    N 8
      3. Geltungsbereich des Journalistenkodex    
          A. Medien, die dem Journalistenkodex unterstehen   N 10 
          B. Buchauszüge, Gastbeiträge, Leserbriefe, Onlinekommentare, Teaser  N 25
          C. Begründungspflicht   N 29
III. Wahrhaftigkeit und Transparenz
     1. Meinungspluralismus    N 30
     2. Wahrhaftigkeitsgebot
          A. Belegen von Fakten    N 32
          B. Formulierungen von Frontanriss, Titel, Lead, Bildlegende    N 45
          C. Unterschlagen von Informationen    N 49
     3. Umgang mit Gerüchten und Verdächtigungen    N 54
     4. Umgang mit Quellen    N 55
     5. Trennung von Information und Kommentar    N 60
     6. Berichtigungspflicht    N 62
IV. Fairness
     1. Allgemeine Grundsätze    N 63
     2. Einholen von Stellungnahmen
          A. Schwerer oder leichter Vorwurf    N 64
          B. Frist zur Stellungnahme; Präzisierung der Vorwürfe    N 72
          C. Recht zur Autorisierung    N 74
          D. Substitut für eine Stellungnahme    N 76
          E. Recherchegespräch    N 81
     3. Lauterkeit der Recherche    N 82
V. Schutz von Privatsphäre und Menschenwürde
     1. Schutz der Privatsphäre
          A. Spezifische Informationen zur Privatsphäre    N 83
          B. Berichterstattung mit Namensnennung    N 84
          C. Anonymisierung    N 92
          D. Ungerechtfertigte Anschuldigungen    N 94
          E. Opferschutz    N 95
     2. Schutz der Menschenwürde und vor Diskriminierung
          A. Menschenwürde    N 96
          B. Diskriminierung    N 97
VI. Umgang mit Bildern
     1. Wahrhaftigkeit und Transparenz    N 106
     2. Schutz der Privatsphäre    N 107
     3. Schutz von Personen in Notlage    N 110
     4. Schutz der Menschenwürde    N 111
     5. Aktualitätsbilder, Täter- und Attentatsfilme, Streaming    N 112
VII. Besonderheiten der Polizei- und Gerichtsberichterstattung
     1. Unschuldsvermutung     N 113
     2. Namensnennung    N 116
     3. Nachführpflicht    N 118 
VIII. Unabhängigkeit der Medienschaffenden
     1. Trennung von redaktionellem Teil und Werbung    N 119
     2. Persönliche Unabhängigkeit   N 126

I. Einleitung

1

Beim Presserat sind im Berichtsjahr 126 Beschwerden eingegangen. Die Zahl der Eingänge bleibt damit das dritte Jahr in Folge auf sehr hohem Niveau (2018: 115; 2017: 127). Er hat 83 Stellungnahmen verfasst (2018: 62; 2017: 53). 29 Beschwerden hat der Presserat ganz oder teilweise gutgeheissen, 43 abgewiesen, 9 Stellungnahmen zu Nichteintretens-Entscheiden und 2 aus eigener Initiative verfasst. Zudem ist er auf 29 Beschwerden im summarischen Verfahren nicht eingetreten. Insgesamt wurden 125 Beschwerden erledigt. Dadurch stieg der Pendenzenberg nicht weiter an.

2

Ein Schwerpunkt der Tätigkeit des Presserates im Berichtsjahr betraf die Frage der Trennung von redaktionellem Teil und Werbung. Dazu hat der Presserat drei Stellungnahmen verfasst und aus aktuellem Anlass am 16. Mai 2019 auch eine Medienmitteilung: Er zeigte sich «zutiefst besorgt» über die «immer subtileren Formen, welche für das Native Advertising eingesetzt werden» und stellte fest, dass der Grundsatz der Trennung von redaktionellem Inhalt und Werbung am 12. Mai von den Sonntagszeitungen («Le Matin Dimanche» und «SonntagsZeitung») und am 13. Mai von den Tageszeitungen («Basler Zeitung», «Berner Zeitung», «Der Bund», «24 Heures», «Tages-Anzeiger», «Tribune de Genève») der Tamedia-Gruppe nicht respektiert wurde. Der Presserat forderte die Zeitungsverlage auf, die journalistische Glaubwürdigkeit ihrer Publikationen zu gewährleisten und die Leserinnen und Leser zu respektieren, indem sie ihre bezahlten oder zur Verfügung gestellten Werbe-Inhalte klar und sichtbar deklarieren.

3

In einer weiteren Medienmitteilung (vom 15. April 2019) protestierte der Presserat dagegen, dass das Medienhaus Ringier die Schweizerische Mediendatenbank SMD anwies, über 200 «Blick»-Artikel im Fall Spiess-Hegglin zu löschen. Dies sei ein «willkürlicher Eingriff in die Archivfreiheit.» Damit auch spätere Generationen ein getreues Bild von der Berichterstattung Schweizer Medien im Fall Spiess-Hegglin/Hürlimann erhalten, müsse ein Archiv (möglichst) vollständig sein. «Die SMD hat daher die zentrale Aufgabe, die Gesamtheit der zu ihrem Sammelfeld gehörenden Objekte aufzubewahren. Nur so wird ein Archiv zum wahrhaften historischen Gedächtnis.» Institutionell muss gemäss Presserat daher sichergestellt sein, dass die SMD Dokumente nur im absoluten Ausnahmefall löscht, etwa auf Gerichtsbeschluss. 

4

Beide Medienmitteilungen illustrieren das Bestreben des Presserates, in aktuellen Debatten präsenter zu sein.

II. Verfahrensfragen und Geltungsbereich

1. Allgemeine Verfahrensfragen

5

Der Presserat rügte den damaligen Chefredaktor der «Basler Zeitung» Markus Somm, weil er auf Aufforderung des Presserates, zu einer Beschwerde Stellung zu nehmen, gar nicht reagierte. «Dieses Verhalten schadet dem Ansehen des Journalismus. Gerade in Zeiten, da das Vertrauen in die Medien schwindet, ist es von zentraler Bedeutung, dass diese sich einer kritischen Diskussion ihrer Arbeit stellen und sich bemühen, die Vorgaben der ‘Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten’ einzuhalten.» (Stellungnahme 37/2019).

6

Der Presserat trat auf eine Beschwerde nicht ein, weil die «Zürichsee-Zeitung» bereits eine Gegendarstellung der Beschwerdeführer publiziert hatte. Damit habe die betroffene Redaktion bereits Korrekturmassnahmen im Sinne von Art. 11 Abs. 1 des Geschäftsreglements des Presserats ergriffen und ein Nichteintreten sei somit möglich. Art. 11 Abs. 1 Geschäftsreglement sieht vor, dass der Presserat unter anderem dann auf eine Beschwerde nicht eintritt, wenn «sich die betroffene Redaktion oder die Journalistin/der Journalist bei einer Angelegenheit von geringer Relevanz bereits öffentlich entschuldigt und/oder Korrekturmassnahmen ergriffen hat» (Stellungnahme 58/2019).

7

Kommentar: Diese Stellungnahme ist fragwürdig, weil der Presserat eine blosse Gegendarstellung einer Korrekturmassnahme oder öffentlichen Entschuldigung im Sinne seines Geschäftsreglements gleichstellt. Dies ist in dieser Absolutheit falsch, denn bei der Gegendarstellung bleibt offen, welche Version zutrifft – sie unterscheidet sich also von einer öffentlichen Entschuldigung oder Korrektur in der Sache. Übersetzt auf die medienethischen Prinzipien des Presserates: Eine Gegendarstellung korrigiert keine Verletzung der Wahrheitspflicht, sondern nur eine ungenügende Anhörung des Betroffenen. Nur in diesem Punkt kann sie als Korrekturmassnahme im Sinne des Geschäftsreglements gelten.

2. Gerichtliche Parallelverfahren
(Art. 11 des Geschäftsreglement)

8

Der Presserat trat von sich aus auf eine Beschwerde ein, obwohl sie verspätet eingereicht wurde und obwohl noch gerichtliche Verfahren liefen, weil der Fall Grundsatzfragen zur Arbeitsweise von Journalisten aufwerfe. Nach vertiefter Prüfung entschied er sich dann aber trotzdem, nicht auf die Beschwerde einzutreten, weil sie sich auf möglicherweise illegale Telefonabhörungen des betroffenen Journalisten stützte. «Dans ce contexte, le Conseil de la presse voit mal comment il pourrait utiliser la divulgation de ces enregistrements sans donner l’impression qu’il participe lui-même à une atteinte au secret des sources et affaiblit par-là, au moins symboliquement, les règles éthiques qu’il a pour mission de défendre.» (Stellungnahme 15/2019).

9

Kommentar: Dieses Vorgehen des Presserates ist unverständlich. Die verspätete Beschwerde stützte sich fast ausschliesslich auf Protokolle einer Telefonabhörung, die den journalistischen Quellenschutz verletzt. Hätte der Presserat diese Protokolle zur Grundlage seiner Stellungnahme gemacht, hätte er gegen eines der zentralen Grundprinzpien des Journalistenkodex verstossen müssen, das er in der Folge (durchaus kritisierbar) sogar für «absolut» erklärt. Dies war von Beginn weg absehbar. Wieso also den Fall von sich aus an sich ziehen, obwohl Eintretensvoraussetzungen nicht gegeben waren?

3. Geltungsbereich des Journalistenkodex [Kodex]
(Art. 2 Geschäftsregl., Richtlinien [RL] 5.2 und 5.3)

A. Medien, die dem Journalistenkodex unterstehen

10

Anfang 2019 hat der Presserat Art. 2 seines Geschäftsreglements revidiert und zwei Grundsatzstellungnahmen erlassen, die seine Zuständigkeit neu definieren.

11

Seine Zuständigkeit erstreckt der Presserat neu « – ungeachtet der Verbreitungsart – auf den redaktionellen Teil der öffentlichen, auf die Aktualität bezogenen Medien sowie auf die journalistischen Inhalte, die individuell publiziert werden.»

12

Damit der Presserat auf eine Beschwerde eintritt, muss ein Medium somit nur noch öffentlich und aktuell sein und nicht mehr periodisch erscheinen. Bis Ende 2018 war der Presserat zuständig für «den redaktionellen Teil oder damit zusammenhängende berufsethische Fragen sämtlicher öffentlicher, periodischer und/oder auf die Aktualität bezogener Medien» (alter Art. 2 des Geschäftsreglements). Damit ist der Presserat auch für Publikationen auf allen Verbreitungskanälen zuständig – also in Radio, TV, Print, Online, Social Media, Alexa etc.

13

Zudem beschränkt der Presserat seine Zuständigkeit auch nicht mehr auf Redaktionen und Inhalte, die einen redaktionellen Produktionsprozess durchlaufen haben, sondern weitet sie ausdrücklich auch auf journalistische Inhalte aus, die individuell publiziert werden (Stellungnahme 2/2019). Damit wird der Presserat grundsätzlich auch für Publikationen von Bloggern, Youtubern etc. zuständig oder kann einzelne Social-Media-Posts beurteilen.

14

Entscheidend für die Zuständigkeit ist einzig und allein, ob die Publikation einen «journalistischen Charakter» hat oder in «journalistischer Arbeitsweise» erstellt wurde. Teilweise gestützt auf die Präambel definiert der Presserat die journalistische Tätigkeit in ständiger Praxis so: «Journalismus bezeichnet die Tätigkeit von Personen, die aus unabhängiger Warte Material sammeln, auswählen und bearbeiten, es allenfalls auch präzisieren, interpretieren und kommentieren und es in verständlicher Form dem Publikum (…) zur Information oder zur Unterhaltung vermitteln» (Stellungnahmen 36/2000, 52/2011, 1/2019, 80/2019).

15

Ob eine Publikation journalistisch ist, beurteilt der Presserat anhand des gesamten Charakters der Publikation. Weder Presseausweis der Informationsersteller noch Selbstdeklaration («Ich mache Journalismus») genügen für sich alleine: «Weder der Besitz eines Presseausweises noch die Erzielung eines Einkommens überwiegend aus journalistischer Tätigkeit oder andere quantitative Kriterien können als alleinige Referenz dienen. Die freiwillige Unterstellung unter die Regeln der ‚Erklärung’, wie sie der Presserat bisweilen in Betracht gezogen hat, ist ebenfalls nicht ausreichend, und sei es nur, weil dies zur Folge hätte, dass diejenige Person, die behauptet, nicht der ‚Erklärung’ zu unterstehen, dieser e contrario auch nicht unterstehen würde» (Stellungnahme 1/2019).

16

Im Berichtsjahr hat der Presserat diese Kriterien bereits in zwei konkreten Fällen angewendet und dabei erste Präzisierungen vorgenommen:

17

Das Erfordernis des «journalistischen Charakters» oder der «journalistischen Arbeitsweise» schliesst gemäss Presserat «die grosse Mehrheit dessen, was im Internet veröffentlicht wird, vom Zuständigkeitsbereich des Presserats aus». Einem Beitrag auf dem Onlineportal «Tick-Talk» spricht der Presserat den nötigen «journalistischen Charakter» ab, obwohl sich der Verfasser und Betreiber des Portals als Journalist bezeichnet. Zudem spreche www.tick-talk.ch nur ein kleines Publikum von Uhrensammlern an. Deshalb ist es gemäss Presserat kein «öffentliches, auf die Aktualität bezogenes Medium» gemäss Geschäftsreglement (Stellungnahme 80/2019).

18

Im zweiten Anwendungsfall spricht der Presserat «bluewin.ch» den journalistischen Charakter zu und tritt auf eine Beschwerde gegen einen dort erschienen Beitrag ein. Der Presserat verweist dabei unter anderem darauf, dass der Leiter von «bluewin.ch» in seiner Beschwerdeantwort ausdrücklich die Existenz eines redaktionellen Prozesses erwähnte und erklärte, sich an journalistischen Kriterien zu orientieren (Stellungnahme 83/2019).

19

Kommentar: Die Änderung der Zuständigkeit des Presserates ist grundsätzlich zu begrüssen. Die zwei ersten Fälle zur Frage, wie der Presserat den «journalistischen Charakter» einer Publikation bestimmt, sind aber eher enttäuschend, weil der Presserat darin leider keine konkreten Kriterien entwickelt (Stellungnahmen 80 und 82/2019). Im ersten Fall bleibt unklar, wieso genau «Tick-Talk» keinen journalistischen Charakter hat, weil der Presserat dies nicht im Detail begründet. Im zweiten Fall stellt der Presserat im Wesentlichen (wie bisher) auf die Selbstdeklaration von «bluewin.ch» ab, begründet aber keine Kriterien, die objektiv für diese Einschätzung sprechen.

20

Objektive Kriterien wie Aufbau und Präsentation der Publikation sollten aber eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, den journalistischen Charakter einer Publikation zu beurteilen. So sollte der journalistische Charakter eines Beitrages eher bejaht werden, wenn Aufbau und Präsentation einen Durchschnittsleser glauben lassen, dass ihm Informationen mit journalistischem Charakter geboten werden.

21

Ein starkes Indiz für den journalistischen Charakter einer Publikation bleibt die Tatsache, dass ein Inhalt einen redaktionellen Produktionsprozess durchlaufen hat. So müssen «journalistische Medien» etwa den Journalistenkodex gemäss Presserat immer einhalten, auch wenn sie auf Social Media publizieren (Stellungnahme 2/2019).

22

Gemäss Presserat gilt der Journalistenkodex auch für Publikationen auf Social Media, sofern sie journalistischen Charakter haben. Dies gilt auch für Journalistinnen und Journalisten. Bei Publikationen auf Social Media ist aber dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit Rechnung zu tragen, besonders ist die charakteristische Spontaneität sozialer Netzwerke zu berücksichtigen und die dort praktizierte breite Meinungsfreiheit (Stellungnahme 2/2019).

23

Kommentar: Es bleibt offen, was der Hinweis auf die charakteristische Spontaneität sozialer Netzwerke genau bedeutet. Vorstellbar ist, dass der Presserat eine Beschwerde gegen eine Publikation mit journalistischem Charakter auf Social Media nur bei offensichtlicher Verletzung des Journalistenkodex gutheisst; dass er somit den gelockerten Massstab anwendet, den er heute schon an Leserbriefe und Onlinekommentare anlegt, um dem spontanen Austausch gerecht zu werden (vgl. Richtlinie 5. 2 und unten Ziffer 5.2).

24

Zudem stellt sich die Frage, wo bei Journalistinnen und Journalisten die Grenze zwischen privaten und journalistisch-beruflichen Beiträgen auf Social Media verläuft. Was gilt, wenn sich ein Musikredaktor auf Social Media zu einer innenpolitischen Frage äussert? Oder eine Inlandredaktorin zu einem Musiker?

B. Buchauszüge, Gastbeiträge, Leserbriefe, Onlinekommentare, Teaser

25

Die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» gilt auch für Teaser. Dies unabhängig von der Dauer, während der dieser für das Publikum sichtbar ist (Stellungnahme 4/2019). (Zur Frage, ob im konkreten Fall der Online-Teaser des «Blick» einen Inhalt genügend als Werbung kennzeichnete vgl. unten Ziff. VIII. 1., Rn 120).

26

Der Journalistenkodex gilt nicht für die Platzierung von Werbung. Ein Leser von «20Minuten» hatte sich beschwert, dass Werbung einem bedrückenden Video des venezolanischen Widerstandskämpfers Oscar Perez vorangestellt wurde, das Perez selbst auf Instagram hochgeladen hatte und ihn zeigt, wie er verletzt in die Kamera schaut, während er beschossen wird, und wie Perez darum bittet, das Feuer einzustellen. Der Beschwerdeführer kritisierte die Wirkung einer Kombination eines Video-Ausschnittes mit einer vorangestellten Werbung. Gemäss Artikel 2 des Geschäftsreglements ist der Presserat ausschliesslich für den redaktionellen Teil einer Publikation zuständig, er beurteilt ausschliesslich deren journalistische Inhalte. Werbung gehört nicht dazu. Entsprechend äussert er sich auch nicht zur Platzierung von Werbung. Auch wenn gemäss Presserat einzuräumen ist, dass das Zusammenwirken von Werbung und Inhalt bisweilen zu problematischen Wirkungen führen kann. (Stellungnahme 21/2019)

27

Der Whistleblower und Ex-Julius-Bär-Banker Rudolf Elmer durfte gemäss Presserat in einem Onlinekommentar als Mensch beschrieben werden, der versucht habe, mit gestohlenen Daten Kasse zu machen und seinen Arbeitgeber zu erpressen. Dies sei keine «offensichtliche Verletzung» des Journalistenkodex, wie Richtlinie 5.2 sie für eine Gutheissung einer Beschwerde gegen Leserbriefe verlangt (Stellungnahme 45/2019).

28

Die «Aargauer Zeitung» durfte einen Kommentarschreiber vorübergehend sperren, weil er wiederholt gegen die Netiquette verstossen hatte. Laut Praxis des Presserats entscheiden Redaktionen nach eigenem Ermessen über die Publikation von Leserbriefen und Online-Kommentaren, da diese zum redaktionellen Teil gehören und damit in die Verantwortung der Redaktion fallen. Eine Verletzung dieser Richtlinie läge allenfalls vor, wenn eine Redaktion Briefe eines Lesers systematisch, über sehr lange Zeit und aus journalistisch nicht zu rechtfertigenden Gründen ablehnen würde (Stellungnahme 51/2019).

C. Begründungspflicht (Art. 9 Geschäftsreglement)

29

Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.

III. Wahrhaftigkeit und Transparenz

1. Meinungspluralismus (RL 2.2)

30

Somedia hat im Kanton Graubünden gemäss Presserat «zweifellos» eine regionale Vormachtstellung. Daraus könne aber keine Verpflichtung zu ausgewogener und neutraler Berichterstattung abgeleitet werden – auch nicht vor Wahlen und Abstimmungen. «Auch Medien mit regionaler Vormachtstellung dürfen journalistisch gewichten – wenn sie dabei fair bleiben.» Somedia hat dies in seiner Berichterstattung zur Kandidatur von Linard Bardill als Regierungsrat beachtet. Der Presserat weist die Beschwerde ab (Stellungnahme 5/2019).

31

Meinungspluralismus bedeutet gemäss Presserat nicht, «dass jeder einzelne Beitrag für sich eine Pluralität von Meinungen zu jedem angesprochenen Aspekt enthalten muss. (…) Die Vielfalt von Meinungen muss – gegebenenfalls – über eine gewisse Zeit gegeben sein, nicht im einzelnen Beitrag.» Deshalb tritt er auf eine Beschwerde gegen die Berichterstattung über Venezuela wegen offensichtlicher Unbegründetheit nicht ein (Stellungnahme 75/2019).

2. Wahrhaftigkeitsgebot
(Art. 1 und 3 Kodex, RL 1.1)

A. Belegen von Fakten

32

Der Presserat rügt die NZZ, weil sie 12 Stunden lang online vermeldet hatte, dass in Polen am Unabhängigkeitstag «60‘000 Nationalisten und Rechtsradikale» darunter «Zehntausende Neonazis» demonstriert hätten und dass «der Aufmarsch der Rechtsextremen (…) einer der bisher grössten Europas» gewesen sei. Dabei stützte sich die NZZ auf eine Agenturmeldung der dpa, die allerdings nur von «Zehntausenden Nationalisten und Rechtsradikalen» schrieb. Damit hat die NZZ die Wahrheitspflicht verletzt – auch wenn sie den Fehler 12 Stunden später korrigierte, nur noch von «Tausenden Neonazis» und «60‘000 Personen» schrieb sowie die Passage «einer der grössten Aufmärsche Europas» ganz wegliess (Stellungnahme 19/2019).

33

Auch bei indirekten Zitaten müssen Journalisten belegen können, dass sie stimmen. Werden in einem Artikel Anführungszeichen oder der Hinweis «wörtlich» verwendet, ergibt sich daraus gemäss Presserat im Umkehrschluss nicht, dass alle anderen Textstellen keine Zitate sein können. Die «Weltwoche» schrieb in einem Text ohne Anführungszeichen den Satz: Gegen die reissende Bestie Volk, so Portmann, würden nur internationale Regeln und internationale Richter helfen. Dadurch hat sie gegen das Wahrheitsgebot verstossen, weil Nationalrat Hans-Peter Portmann diesen Satz so nie gesagt hat (Stellungnahme 33/2019).

34

Verwechselt eine Journalistin die Anzahl Beratungskontakte mit der Anzahl Personen, die bei Infosekta nach Rat gefragt haben, ist das eine untergeordnete Ungenauigkeit, die für sich keine Verletzung des Wahrheitsgebotes darstellt. (Die Anzahl Beratungskontakte ist nicht gleichzustellen mit der Anzahl Personen, die anfragen, da eine Person mehrere Kontakte haben kann.) (Stellungnahme 36/2019).

35

«Blick am Abend» beschrieb wahrheitswidrig einen «Tumult in der Pöschwies», obwohl die Redaktion gemäss Presserat noch vor Redaktionsschluss davon erfahren hat, dass das Zürcher Amt für Justizvollzug den «Tumult in der Pöschwies» klipp und klar dementiert hat. Damit sei mindestens sehr fraglich, ob die Geschichte stimme. «Wenn fraglich ist, ob ein journalistischer Inhalt der Wahrheit entspricht, muss er nachrecherchiert werden, bevor publiziert wird.» Wäre dies geschehen, hätte der Artikel gemäss Presserat nicht publiziert werden können. «Er enthielt die Unwahrheit» (Stellungnahme 43/2019).

36

Auch eine satirische, ironisierende Klatschkolumne muss in ihrem Tatsachenkern wahr sein. Deshalb hat die «Basler Zeitung» in der Kolumne «Kuchi-Gschwätz» das Wahrheitsgebot verletzt, als sie behauptete, die Pächterin eines Restaurants wolle noch vor Ablauf des Vertrages aufhören. In Tat und Wahrheit hatte sie eben ihren Pachtvertrag verlängert (Stellungnahme 44/2019).

37

Bei der Berichterstattung über ein Bundesgerichtsurteil durfte der «Corriere del Ticino» nicht einzig auf die Auskünfte des Beschuldigten und seines Anwalts abstellen. Auch wenn noch kein schriftlich begründetes Urteil und keine Medienmitteilung des Bundesgerichts vorlag, hätte der Journalist sich gemäss Presserat beim Bundesgericht über den Inhalt des Urteils rückversichern müssen. Dies auch, um nicht einseitig über das Urteil zu berichten. «Corriere del Ticino» hatte behauptet, das Bundesgericht habe festgestellt, dass der Lokalpolitiker Donatello Poggi den Genozid von Srebrenica nicht geleugnet habe. Dies traf nicht zu. Das Bundesgericht erachtete es als erstellt, dass Poggi den Genozid geleugnet hatte. Der Grund für die Gutheissung von Poggis Beschwerde war ein anderer. Gemäss Bundesgericht handelte er nicht in diskriminierender Absicht (Stellungnahme 54/2019).

38

Kommentar: Als Grundsatz kann aus dieser im Resultat korrekten Stellungnahme abgeleitet werden, dass über ein Urteil nicht einzig gestützt auf mündliche Informationen einer Prozesspartei oder ihres Anwalts berichtet werden darf. Dann liegt bloss eine einzige und durch Eigeninteressen kontaminierte Quelle vor.

39

Will man die Pflichten der Journalist/innen in solchen Fällen im Detail ausleuchten, müssen (mindestens) vier Konstellationen unterschieden werden: 1. Ein Urteil ergeht in öffentlicher Beratung 2. Ein Urteil liegt erst im Dispositiv vor und die schriftliche Urteilsbegründung erfolgt erst später. 3. Die schriftliche Urteilsbegründung liegt vor, aber sie ist erst bei den Prozessparteien und noch nicht öffentlich zugänglich – wahrscheinlich wäre sie für akkreditierte Journalisten aber greifbar 4. Die Urteilsbegründung ist auf der Website des Gerichts zugänglich.

40

Nur in der ersten, dritten und vierten Konstellation kann der Journalist sich die Begründung beschaffen – entweder im Internet, bei den orientierenden Parteien oder bei einem akkreditierten Journalisten. Ob eine Nachfrage beim Gericht selbst viel bringen würde, ist nämlich fraglich, da es die Begründung vor Ablauf der Sperrfrist kaum herausgeben wird. Erst recht würde ein Gericht vermutlich nichts sagen in der Konstellation 2, wo die Begründung gar noch nicht finalisiert ist.

41

Im konkreten Fall dürfte die Konstellation 3 vorgelegen haben (das Urteil 6B_805/2017 trägt das Datum des 6.12.2018 – die Publikation im «Corriere del Ticino» erfolgte am 21.12.2018). Mit anderen Worten hatten die Beschwerdeführer vermutlich die gesamte Information, machten aber nur ihre einseitige Interpretation bekannt. Der Journalist hätte vom Beschwerdeführer verlangen müssen, ihm die schriftliche Urteilsbegründung zuzustellen. Falls ihm dies verweigert wird oder die Beschwerdeführer behaupten, das Urteil noch nicht zu besitzen, sind andere Wege der Recherche zu suchen (z.B. über akkreditierte Journalisten) oder es kann nur die unbestrittene Tatsache (Rechtsmittel von der oberen Instanz gutgeheissen) vermeldet werden. Mit einer detaillierten Berichterstattung zum Inhalt des Entscheids ist zuzuwarten, bis der schriftlich begründete Entscheid greifbar ist.

42

Die «Basler Zeitung» hat gemäss Presserat faktenwidrig behauptet, der Studierendenrat der Universität Basel habe die «Weltwoche» «aus den Gebäuden der Uni Basel verschwinden lassen» wollen.  Tatsache war: Der Studierendenrat hatte nur beschlossen, dass Gratisexemplare nicht mehr aufgelegt werden dürfen. Von den übrigen «Weltwoche»-Exemplaren in der Mensa und den Bibliotheken war nicht die Rede (Stellungnahme 60/2019).

43

Die Zeitschrift «Edito» verletzte die Wahrheitspflicht mit einem Artikel über die Zeitung «24heures». «Edito» habe ohne Quellen zu nennen als Fakt behauptet, dass «24heures» zum Staatsorgan geworden sei («Le quotidien était presque devenu l’organe du Conseil d’Etat») und dass der redaktionelle Inhalt der Zeitung keine Rolle gespielt habe, «24heures» sei vor allem eine Geldmaschine gewesen («Le contenu rédactionnel importait peu, c’était d’abord une pompe à fric»). Dasselbe gelte für die Unterstellungen gegenüber dem ehemaligen Chefredaktor Thierry Meyer, der gemäss «Edito» seine Redaktion nicht gegen wirtschaftliche und politische Interessen verteidigt habe (Stellungnahme 66/2019).

44

Der Presserat rügte die «Basler Zeitung», weil sie über ein Urteil in einem Sorgerechtsstreit wahrheitswidrig berichtet habe. Die «Basler Zeitung» schrieb, das Basler Appellationsgericht habe dem «Experiment» einer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) ein Ende gesetzt und sei zum Schluss gekommen, ein Kind dürfe nicht fremdplatziert werden. Gemäss Presserat suggerierte die Zeitung, das Kindswohl sei nicht gefährdet gewesen, die Kesb habe gegen den Anspruch der Mutter auf rechtliches Gehör verstossen oder sie habe es versäumt, die Rolle des Vaters auszuleuchten. Doch gemäss Presserat haben diverse Gutachten sowie das Urteil des Appellationsgerichts einen beträchtlichen Teil der Schuld bei der Mutter verortet. Die Redaktion hat damit gemäss Presserat die journalistische Sorgfaltspflicht verletzt (Stellungnahme 69/2019).

B. Formulierungen von Frontanriss, Titel, Lead, Bildlegenden

45

Zuspitzungen im Titel sind medienethisch vertretbar, wenn sie durch die recherchierten Fakten gedeckt sind und früh im Lead oder zu Beginn des Textes in einen differenzierten Kontext gestellt werden.

46

«Blick» durfte einen ehemaligen Sachbearbeiter im Rechnungswesen der Caritas, der für die Verbuchung der Eingänge tätig war und keine Unterschriftenbefugnis hatte, als «Ex-Caritas-Buchhalter» und «Ex-Caritas-Kassier» bezeichnen, auch wenn damit suggeriert wurde, dass der Mann bei Caritas eine wichtigere Position innehatte, als dies tatsächlich der Fall war. Für den Presserat ist es ein Grenzfall. «Die Bezeichnung Kassier wird umgangssprachlich für Personen verwendet, die mit Geld zu tun haben. Bei einem Buchhalter ist davon auszugehen, dass er über mehr Kompetenzen verfügt. (..).» Der Presserat kommt zum Schluss, dass die beiden Bezeichnungen als Ex-Caritas-Buchhalter und Ex-Caritas-Kassier sich noch im Bereich der zulässigen Zuspitzung bewegen, wenn auch an der Grenze (Stellungnahme 14/2019).

47

_Der «Blick» hat mit dem Titel «Diese Politiker verschliessen die Augen vor der Gefahr» den Journalistenkodex nicht verletzt. Der dort zitierte Nationalrat Adrian Amstutz hatte in seiner Stellungnahme zwar die Gefahr für Chauffeure bejaht, wenn Rückfahrkameras in Lastwagen nicht obligatorisch sind, aber einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf verneint («Heckkameras sind nur so gut, wie sie funktionieren. Im Zentrum stehen immer noch die Chauffeure.»). Diese differenzierte Haltung kommt gemäss Presserat im Artikel, aber nicht im Titel zum Ausdruck. Trotzdem weist der Presserat die Beschwerde (knapp) ab (Stellungnahme 46/2019).

48

Gemäss Presserat kann der «Schweizer Journalist» den Vorwurf nicht belegen, dass eine Serie von fünf Reportagen aus dem Süden der USA des Online-Magazins «Republik» Parallelen zu den gefälschten Reportagen von Claas Relotius aufweise. Die Reportagen enthalten gemäss Presserat zwar eine Anzahl von Ungenauigkeiten und journalistischen Fehlern, doch die Schlussfolgerung, die Autorin der «Republik» habe bewusst manipuliert und gefälscht, ist gemäss Presserat durch die Fakten nicht gestützt (Stellungnahme 70/2019).

C. Unterschlagen von Informationen (Ziffer 3 Kodex)

49

Radio Télévision Suisse RTS hat mit einer selektiven, kurzen Einblendung eines Dokumentes wichtige Informationen unterschlagen. RTS zeigte in der Sendung «Temps présent» den Brief eines Vermieters an eine Mieterin und hob dabei die Passage «aucune baisse de loyer n’est envisageable» optisch hervor. Davor stand aber: «… nous vous rappelons, sauf erreur de notre part, que vous avez un contrat de bail à loyer subventionné. De ce fait, vous n’êtes pas concernés par le changement de taux hypothécaire …» Da das Faksimile nur 11 Sekunden lang gezeigt wurde, konnte der Zuschauer gemäss Presserat nicht alle relevanten Tatsachen wahrnehmen. Es wurde gemäss Presserat die wichtige Information unterschlagen, dass die Mieter keine Mietzinssenkung erhalten, weil sie eine subventionierte Wohnung bewohnen (Stellungnahme 6/2019).

50

Die «Basler Zeitung» unterschlägt keine Informationen, obwohl ein wichtiges Urteil nicht erwähnt wird. In einem Gerichtsbericht schilderte die «Basler Zeitung» das Verhalten eines kantonalen Veterinärs so: «Statt sich beim Bauern zuerst vorzustellen, marschierte dieser ungefragt mit örtlichen Gemeindebehörden aufs private Feld hinaus, machte Fotos und belieferte offenbar auch noch umliegende Gemeindebehörden mit dem amtlichen Bildmaterial.» Der Veterinär beschwerte sich unter anderem mit der Begründung, diese Behauptungen seien bereits 2017 von einem Gericht rechtskräftig als falsch erklärt worden. Der Presserat sieht darin aber keine Unterschlagung wichtiger Elemente von Information, «denn auch der Tierarzt bestreitet nicht, das Feld des Bauern ohne Voranmeldung betreten zu haben.» (Stellungnahme 17/2019).

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Kommentar: Der Presserat verkennt (oder begründet in seiner Stellungnahme zu wenig deutlich), dass der wesentliche unterschlagene Fakt nicht die geschilderte Tatsachenlage ist, sondern die eben nicht geschilderte und somit unterschlagene Rechtslage: Ein Gericht hat rechtskräftig festgestellt, dass der Veterinär das Grundstück ungefragt betreten durfte (wie es das Gesetz vorsieht.) Dies ist für die Leser/innen ein wichtiger Fakt, der nicht unterschlagen werden darf.

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Eine ungeklärte Frage ist, was in der Gerichtsverhandlung, die Gegenstand des BaZ-Artikels war, zur Sprache kam. Falls dort diese (geklärte) Rechtslage nicht erwähnt wurde, kann dem Journalisten zumindest zugutegehalten werden, dass er sich gemäss Art. 28 Abs. 4 StGB bei der Gerichtsberichterstattung auf die wahrheitsgetreue Berichterstattung der Verhandlung beschränken darf. Aber ob dieses strafrechtliche Privileg auch medienethisch genügt, ist fraglich. Medienethisch ist zumindest zu verlangen, dass der Journalist nichts Wesentliches unterschlägt, das er unabhängig von der Gerichtsverhandlung erfahren hat (oder vielleicht auch hätte kennen müssen).

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Die «Zeit» unterschlug eine wichtige Information, als sie einen Imam porträtierte, der in Bern den Weiterbildungsstudiengang CAS Religious Care im Migrationskontext besuchte. Die «Zeit» schilderte unter anderem, dass der Mann vom Nachrichtendienst überprüft worden war und dass der Nachrichtendienst keinen Hinweis auf eine islamistische Haltung oder Ideologie gefunden habe. Unter dem Zwischentitel «Der Nachrichtendienst prüft noch einmal» berichtete die Journalistin weiter, dass eine zweite Prüfung durchgeführt wurde. Es fehlte aber die Information, dass dies auf Ersuchen des Imams selbst geschah (Stellungnahme 16/2019).

3. Umgang mit Gerüchten und Verdächtigungen

54

Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.

4. Umgang mit Quellen
(Art. 3 und 6 Kodex; RL 3.1, 3.2, 3.3, 6.1, 6.2, a.1)

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Die «Zeit» hat den Grundsatz verletzt, dass Quellen nur dann anonymisiert werden dürfen, wenn dafür ein überwiegendes Interesse besteht. Gemäss der Redaktion hat man die Anonymisierungen («Jemand sagt….; jemand sagt …» etc.) vorgenommen, damit durch die Anonymisierung die Aufmerksamkeit «auf die Aussagen gelenkt werden [soll] und nicht auf die Namen der Urheber». Die «Zeit» macht kein Geheimhaltungsinteresse geltend. Durch dieses «ungerechtfertigte Anonymhalten» ist gemäss Presserat Ziffer 3 des Kodex verletzt (Stellungnahme 16/2019).

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Die SDA galt auch im November 2017 gemäss Presserat als anerkannte, professionell arbeitende Nachrichtenagentur und somit als Quelle, die nicht weiter überprüft werden muss. «Richtlinie 3.1 verlangt als Teil der journalistischen Sorgfaltspflicht die Überprüfung der Quelle und ihrer Glaubwürdigkeit. Diese Überprüfung entfällt laut ständiger Praxis des Presserats, wenn es sich um eine anerkannte, professionell arbeitende Nachrichtenagentur handelt. Das war hier mit der SDA der Fall» (Stellungnahme 18/2019).

57

Ein traditionelles Medium wie die «Aargauer Zeitung» gilt gemäss Presserat als «professionelle Quelle, die nicht zwangsläufig nachrecherchiert werden» muss. (Stellungnahme 43/2019).

58

Anonyme Quellen zu zitieren ist im Sinne des Journalistenkodexes nur zulässig, wenn gute Gründe vorliegen, die Quellen zu schützen, etwa dann, wenn die Informanten bei einer namentlichen Nennung ernsthafte berufliche Nachteile befürchten müssten. Die Zeitschrift «Edito» hat gemäss Presserat gegen diese Bestimmung verstossen, weil sie einen Artikel über «24 heures» zu leichtfertig nur auf anonyme Quellen stützte. Gemäss Presserat wäre es im konkreten Fall durchaus möglich gewesen, im polit-medialen Umfeld Lausannes Quellen zu finden, die mit Namen zu Aussagen stehen (Stellungnahme 66/2019).

59

Wird eine Medienmitteilung abgedruckt, muss sie als solche bezeichnet werden (Richtlinie 3.2). Nennt die Redaktion einen Autor als Urheber des Beitrages, der Geschäftsführer jener Organisation ist, die die Medienmitteilung verfasst hat, muss sie diese Funktion auch erwähnen. Deshalb rügt der Presserat die Onlinezeitung «Die Ostschweiz». Sie hatte eine Medienmitteilung des Verbandes Wirtschaft der Region St. Gallen aufgeschaltet, diverse Funktionen des Autors genannt, nicht aber, dass dieser Geschäftsführer dieses Verbandes war.

5. Trennung von Information und Kommentar (RL 2.3)

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Zwei Formulierungen in einem Artikel in «20Minuten» über einen Google-Entwickler, der sich über Männer-Diskriminierung beklagte, waren gemäss Presserat keine Kommentare, sondern Bewertungen die nicht unter die Kennzeichnungspflicht als Kommentare fallen. Die Formulierungen lauten: «James Damore fühlt sich jedenfalls in seiner weissen, konservativen Heteromann-Ehre verletzt und kämpft gegen dieses Unrecht an» und «Sexismus und Diskriminierung gibts eben auch andersrum, scheint seine Devise zu sein». Richtlinie 2.3 ist mit den beiden angeführten Bemerkungen nicht verletzt. Solange die Leserschaft solche Wertungen klar als jene des Autors beziehungsweise einer Redaktion erkennen kann, liegt keine Vermischung von Fakten und Kommentar vor. Journalistische Beiträge beinhalten häufig bestimmte Bewertungen, damit fallen sie gemäss Presserat noch nicht unter eine Kennzeichnungspflicht als Kommentar. Kommentare seien Texte, in denen die Meinung oder Einschätzung des Autors zu einem Sachverhalt das zentrale Element bildeten. (Stellungnahme 20/2019)

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Wenn der Presserat beurteilt, ob ein Text ein Kommentar ist, stellt er darauf ab, ob es für die Leserschaft erkennbar ist, dass in einem Text die persönliche Meinung des Autors im Vordergrund steht. Es kommt also nicht auf die ausdrückliche Kennzeichnung als Kommentar an. (Stellungnahme 82/2019) «Wenn ein Autor in einem Text derart heftige Wertungen einbringt wie ‘Idiot’, ‘hässlich’, ‘missglücktes leben’, dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass hier jemand nicht nur berichtet, sondern im Sinne der ‘Erklärung’ kommentiert.» (Stellungnahme 83/2019). Einem Kommentar ist gemäss ständiger Praxis des Presserates ein grosser Freiraum einzuräumen. Auch polemische, harsche Werturteile, Zuspitzungen und Karikierungen sind zulässig.

6. Berichtigungspflicht (Ziffer 5 Kodex, RL 5.1)

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Eine Berichtigung muss sowohl online wie print erfolgen und als solche gekennzeichnet sein, wenn die falsche Meldung online und print erschienen ist. Die «Tribune de Genève» verletzte gemäss Presserat die Berichtigungspflicht, weil sie eine Person als «porte-parole de l’association 269 Libération animale» bezeichnet, obwohl sie dies nicht ist, sondern «auteure et militante antispéciste». Diese falsche Information hat die TdG nur online korrigiert, nicht auch in der Printausgabe ein Korrigendum abgedruckt. Deshalb und weil die Online-Korrektur nicht gekennzeichnet wurde, spricht der Presserat eine Rüge aus (Stellungnahme 7/2019).

IV. Fairness

1. Allgemeine Grundsätze (Präambel)

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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.

2. Einholen von Stellungnahmen (RL 3.8, 3.9)

A. Schwerer oder leichter Vorwurf

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Gemäss Richtlinie 3.8 des Presserates sind Kritisierte nur, aber immerhin bei schweren Vorwürfen anzuhören. Laut seiner ständigen Praxis wiegt ein Vorwurf dann schwer, wenn jemandem ein illegales oder damit vergleichbares unredliches Verhalten vorgeworfen wird. Als schweren Vorwurf hat der Presserat unter anderem bezeichnet:

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  • den Vorwurf des «Tages-Anzeigers», eine Mutter gefährde ihr Kind akut und habe eine Nähe zu einer rassistischen und antisemitischen Organisation (Stellungnahme 31/2019);
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  • den Vorwurf der «Basler Zeitung» an die SRG und namentlich den damaligen SRG-Direktor Rudolf Matter, die von ihr vertretene Politik (hier: die Programmpolitik) sei korrupt, sie entspreche der eines Verbrechersyndikats und werde mit dem Mittel der Drohung durchgesetzt (Stellungnahme 37/2019);
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  • den Vorwurf der Medienzeitschrift «Edito» gegenüber «24heures», die Zeitung habe dem Finanzdepartement von Pascal Broulis kurz vor einer Abstimmung eine Zeitungsbeilage «offeriert» (tatsächlich wurde die Beilage bezahlt). Der Vorwurf der Gefälligkeit stellt gemäss Presserat die berufliche Integrität einer Redaktion ernsthaft in Frage, weshalb die Betroffenen zu diesem schweren Vorwurf anzuhören sind (Stellungnahme 66/2019).
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Als leichten Vorwurf, zu dem Betroffene nicht angehört werden müssen, hat der Presserat bezeichnet:

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  • den Vorwurf des «Blick» an Ulrich K. (Tierquäler von Hefenhofen), er vermiete sein Grundstück für 200 Franken pro Woche an Fahrende, worunter Nachbarn leiden würden (Fahrende würden Vignetten von umliegenden Fahrzeugen stehlen und überall ihr Geschäft verrichten) (Stellungnahme 48/2019);
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  • den Vorwurf des im Blick zitierten Nationalrats Roland Rino Büchel, Ecopop-Mitglieder seien «Birkenstock-Rassisten». Auch Ecopop-Chef Andreas Thommen sei früher Mitglied der Aargauer Grünen gewesen. Büchel sage dazu: «Offenbar wächst das Grüne im Aargau auf braunem Boden.» (Stellungnahme 49/2019);
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  • die Vorwürfe von «Tages-Anzeiger» und «Bund» gegenüber der Firma Ringana, Ringana-Mitarbeiterinnen verhielten sich auf sozialen Netzwerken «nervtötend», Mentorinnen auferlegten neuen Mitarbeiterinnen Erfolgs- und Verkaufsdruck und machten angeblich falsche Versprechen, was mögliche Einkünfte und Aufstiegsmöglichkeiten betrifft (Stellungnahme 50/2019);

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  • die Vorwürfe der «Basler Zeitung» an den EU-Chefunterhändler des Bundesrats, er verhalte sich illoyal (Stellungnahme 82/2019).

 

B. Frist zur Stellungnahme; Präzisierung der Vorwürfe

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Der «Tages-Anzeiger» hat eine Betroffene zu kurzfristig und zu wenig präzis mit Vorwürfen konfrontiert. Die Zeitung hat der kritisierten Person die schweren Vorwürfe nach monatelanger Recherche erst einen Tag vor Publikation zur Stellungnahme unterbreitet. Zudem hat der Journalist nur ein rudimentäres E-Mail geschickt. Darin schrieb er lediglich, er wolle mit der kritisierten Person «über ihre Haltung zur Anastasia-Bewegung» sprechen. Gemäss Presserat war dies keine konkrete Frage. Offen gelassen hat der Presserat die Frage, ob der Journalist hätte nachhaken müssen, als die Betroffene nicht reagierte (sie meinte später, sie habe das Mail nie erhalten). Der Presserat verneint hingegen die Pflicht, dass der Journalist in einem solchen Fall den Anwalt der Betroffenen konfrontieren müsse (Stellungnahme 31/2019).

C. Recht zur Autorisierung (RL 4.5 und 4.6)

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Grundsätzlich erlischt gemäss Presserat das Recht auf Gegenlesen, wenn die zitierte Person vollständig anonymisiert wird. Hingegen ist der Deal «entweder Anonymisierung oder das Recht auf Korrekturlesen» gemäss Presserat unethisch und verstösst gegen den Journalistenkodex. Deshalb wird der Blick gerügt, der einen Betroffenen vor diese Wahl gestellt hatte (zudem wurde er gemäss Presserat im Artikel auch unzureichend anonymisiert) (Stellungnahme 65/2019).

75

Gemäss Richtlinie 4.5 (Interview) darf eine interviewte Person nur offensichtliche Irrtümer im Text korrigieren. Den Ergänzungswünschen einer interviewten Person kam eine Redaktion nach, den Streichungswünschen nicht. Dieses Vorgehen ist gemäss Presserat nicht zu beanstanden (Stellungnahme 53/2019).

D. Substitut für eine Stellungnahme

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Schalten Kritisierte ein Inserat mit ihrer Stellungnahme und wird dieses direkt unter dem Kommentar publiziert, in dem Vorwürfe erhoben werden, ist dem Recht auf Stellungnahme Genüge getan (Stellungnahme 32/2019).

77

Eine Anhörung des Betroffenen ist nicht erforderlich, wenn die Vorwürfe Bestandteil eines Gerichtsurteils sind. Dies gilt gemäss Presserat auch bei einem nicht rechtskräftigen Strafbefehl (Stellungnahme 64/2019).

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Kommentar: Grundsätzlich ist bereits der Grundsatz des Presserates als allzu pauschal und verkürzt zu kritisieren, dass bei einem Urteil keine Stellungnahme einzuholen ist. Nur ein rechtskräftiges Urteil gilt als harte Quelle, die es erlaubt das Gebot der Wahrheit zu erfüllen. Das Fairnessgebot muss aber grundsätzlich zusätzlich beachtet werden. Meist können Journalisten diese Pflicht aber erfüllen, in dem sie die Sicht des Beschuldigten aufgrund der Informationen schildern, wie sie in der öffentlichen Verhandlung oder der schriftlichen Begründung des Urteils zum Ausdruck kam. Solche Schilderungen oder Zitate können eine erneute explizite Anfrage um Stellungnahme ersetzen.

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Bei einem Strafbefehl liegen die Verhältnisse hingegen anders. Da findet keine öffentliche Verhandlung statt. Zudem muss die Staatsanwaltschaft den Strafbefehl nicht begründen. Die Sicht des Betroffenen kommt meist gar nicht zum Ausdruck, da oft keine Einvernahmen stattfinden. Im konkreten Fall gab denn der Strafbefehl auch lediglich den Straftatbestand wieder. Es fand keine Anhörung statt. Damit ist der Strafbefehl einseitig und weder die Sicht des Beschuldigten noch jene des Anzeigeerstatters kommen darin zum Ausdruck. Eine Stellungnahme kann somit nicht substituiert werden.

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Anders liegt der Fall, wenn die Berichterstattung völlig anonymisiert erfolgt. Dann muss grundsätzlich keine Stellungnahme eingeholt werden (vgl. oben Ziffer IV. 2.C, Rn 74). Aber gerade bei einem nur rudimentär begründeten Strafbefehl kann eine Rückfrage beim Beschuldigten oder beim Anzeigeerstatter nötig sein, weil sonst die Tatsachenlage nicht geklärt werden kann.

E. Recherchegespräch

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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.

3. Lauterkeit der Recherche
(Ziffer 4 Kodex, RL 4.1, 4.2, 4.3, 4.4, 4.5, 4.6, 4.7)

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Eine Journalistin des «Tages-Anzeigers» verletzte die Lauterkeit der Recherche (Ziffer 4) gemäss Presserat nicht, als sie an eine öffentliche Veranstaltung der Firma Ringana ging und nicht offenlegte, dass sie als Journalistin da war. «Für den Presserat ist dieser Besuch nicht als verdeckte Recherche zu werten. Der Besuch der öffentlichen Veranstaltung, aus der die Journalistin Informationen gewann und ihre Eindrücke dokumentierte, verlangte nicht nach einer Offenlegung ihres Berufs. Die Informationsbeschaffung an diesem Anlass war für jede interessierte Person ohne weiteres möglich.» (Stellungnahme 50/2019).

V. Schutz von Privatsphäre und Menschenwürde (Ziff. 7 und 8 Kodex; RL 7.1, 7.2, 7.3, 7.7, 8.1, 8.2, 8.3)

1. Schutz der Privatsphäre

A. Spezifische Informationen zur Privatsphäre

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«TV Ostschweiz» (TVO) durfte in einem Beitrag über eine Ständeratskandidatin in St. Gallen die Tatsache erwähnen, dass diese vor einigen Jahren von ihrem Amt als Wiler Stadtparlamentarierin zurücktreten musste, weil sie betrunken Auto gefahren war. TVO durfte dies, auch wenn umstritten ist, ob die Kandidatin in das Interview nur unter der Bedingung eingewilligt hat, dass diese Tatsache nicht erwähnt wird. Angesichts der Tatsache, dass die Interviewte im Interview offensichtlich auf jenen Vorgang angesprochen wurde und sich dazu geäussert hat, ist aber klar, dass sie spätestens bei der Aufnahme Bescheid wusste, dass dieses Thema im Beitrag zur Sprache kommen dürfte und entsprechend hätte reagieren können. Dass im Übrigen die Berichterstattung über eine Kandidatin für ein hohes politisches Amt auf deren politische Vergangenheit eingeht, ist selbstverständlich (Stellungnahme 63/2019).

B. Berichterstattung mit Namensnennung

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Als Linard Bardill als Regierungsrat kandidierte, durfte ihn die «Südostschweiz» als «politischen Underdog» und «Bänkelsänger» bezeichnen. Beide Begriffe können gemäss Presserat negativ aufgefasst werden, müssen aber nicht. Auch wenn die Begriffe negativ aufgefasst würden, seien sie nicht in einem unzulässigen Mass abwertend. Die Begriffe «Politclown» und «Beppe Bardillo» würden von der «Südostschweiz» in redaktionellen Kommentaren benutzt. Ein Kandidat für ein politisches Amt muss sich gemäss Presserat solche Begriffe gefallen lassen, besonders in Texten, die als Kommentare erkennbar sind (Stellungnahme 5/2019).

85

Die restriktive Praxis des Presserates bei Namensnennung in Fällen von Wirtschaftsdelikten (Stellungnahmen 16/2009, 5/2010, 58/2012, 36/2017) bezieht sich nur auf Artikel, die über laufende Verfahren berichten. Warnt das Medium hingegen vor dem grundsätzlichen Geschäftsmodell eines Unternehmens, kann der Name des Inhabers genannt werden, um weitere Opfer zu verhindern und Schaden abzuwenden. So durfte der K-Tipp den Namen des Inhabers der Einmannfirma Salfried – Artan Qelai – nennen, weil das öffentliche Interesse am Schutz möglicher zukünftiger Opfer überwiegt. Im vorliegenden Fall gehe es nicht um ein Strafverfahren, betont der Presserat, sondern um einen Bericht über für Kleinanleger hochriskante wirtschaftliche Aktivitäten von Artan Qelaj; seine Einmannfirma Salfried AG vermittelt, sprich verkauft, immer wieder Aktien anderer neugegründeter Firmen an arglose Kunden (Stellungnahme 9/2019). In seiner Stellungnahme 36/2017 hatte der Presserat «K-Tipp» hingegen gerügt, weil die Zeitschrift den Namen des gleichen Mannes genannt hatte: «Für die Information und Warnung weiterer potenzieller Investoren hätte es genügt, den Namen des inkriminierten Unternehmens ‚Salfried AG’ (…) zu nennen. Und zu vermelden, dass die Zuger Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen auf den Inhaber der Firma ausgeweitet hat.» Entscheidender Unterschied zwischen den beiden Fällen ist gemäss Presserat das Strafverfahren, das im zweiten Fall lief und im ersten nicht.

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Kommentar: Diese Präzisierung der Praxis ist zu begrüssen, aber noch nicht zu Ende gedacht, denn auch bei laufendem Verfahren ist eine neue Firma als Tarnmantel für Vermögens- oder Konkursdelikte schnell gegründet. Der Schutz zukünftiger Gläubiger kann in solchen Fällen oft nur erreicht werden, wenn der Name des Fehlbaren genannt wird. Bei Firmeninhabern, zu deren Geschäftsmodell der betrügerische Firmenkonkurs geradezu gehört, kann der Zusammenhang oft sogar nur über den Namen hergestellt werden. Nur so können zukünftige Opfer verhindert werden.

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«Zürcher Oberländer» und «Anzeiger von Uster» haben ungerechtfertigt die Privatsphäre einer Abteilungsleiterin der Gemeindeverwaltung Uster verletzt, indem sie in Faksimile ein als vertraulich klassifiziertes internes Mail der Gemeindeverwaltung abbildeten, in dem der Name der Abteilungsleiterin genannt wurde und erwähnt wurde, dass deren Funktion «ab sofort sistiert» werde. «Ohne Einwilligung der Betroffenen hätte dieses sie belastende Dokument so nicht veröffentlicht werden dürfen. Dies gilt auch, wenn die gleiche ehemalige Abteilungsleiterin im Text des Artikels in einem Satz zur ganzen Affäre Stellung nimmt und den umstrittenen Gemeindeschreiber scharf kritisiert» (Stellungnahme 32/2019).

88

Namensnennung und/oder identifizierende Berichterstattung ist dann zulässig, wenn die betroffene Person in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht. Der Presserat beurteilt diese Kriterien bezogen auf eine konkrete Region. Der Presserat bejaht dies für Enrico Akin, weil er seit Jahren als Journalist und Regisseur tätig ist, sich in Basel für die SP als Gründer der Migrantenorganisation «Mitenand» auch öffentlich engagierte. Zudem seien bereits mehrere Artikel über Enrico Akin erschienen. «Diese Auftritte kumuliert lassen darauf schliessen, dass Enrico Akin zumindest in Basel eine Person ist, die der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist» (Stellungnahme 42/2019).

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Die blosse Tatsache, dass ein Name im öffentlichen Handelsregister eingetragen wird, rechtfertigt nicht die Namensnennung in einer journalistischen Publikation (Stellungnahme 55/2019).

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«20Minuten» durfte einen Rechtsberater mit Namen nennen, weil er seine Dienstleistungen selbst mit vollem Namen und Adresse in der Öffentlichkeit beworben hatte und vor ihm gewarnt werden musste. «Kumuliert lassen diese Fakten darauf schliessen, dass Daniel Weber zumindest in der Region St. Gallen eine Person ist, die der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist und dass aufgrund des neuen Strafverfahrens weiterhin ein Interesse daran bestand, die Öffentlichkeit zu warnen» (Stellungnahme 57/2019).

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Die «Basler Zeitung» durfte den Namen des Initianten eines Stopps von «Weltwoche»-Gratisexemplaren in der Universität Basel nennen, weil er an einem öffentlichen Podium zu diesem Vorstoss teilgenommen hatte. «Mit der Teilnahme am Podium hat er selber Öffentlichkeit hergestellt, den allfälligen Schutz der Privatsphäre aufgehoben» (Stellungnahme 60/2019).

C. Anonymisierung

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Gemäss Presserat hat «Blick» eine Person ungenügend anonymisiert, die er im Artikel mit dem Titel: «Dieser Aggro-Lehrer braucht selber Hilfe!» beschrieb. Zwar änderte der «Blick» Vorname und den Anfangsbuchstaben des Nachnamens, aber die Kombination aus seinem nicht ausreichend anonymisierten Porträtbild und Angaben über seine Wohngegend und seine Aktivitäten ermöglichten es gemäss Presserat, ihn ausserhalb seines familiären, sozialen oder beruflichen Umfelds zu identifizieren. Auf dem Porträtbild blieben seine Haare und sein Lächeln trotz partieller Gesichtsabdeckung gut erkennbar (Stellungnahme 65/2019).

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«Blick» hat gemäss Presserat das Opfer eines Verkehrsunfalls ungenügend anonymisiert, weil die Zeitung folgende Details nannte: Vornamen und Anfangsbuchstabe des Nachnamens (Andrea T.), Geburtsort (Varese [I]), Aussehen (auffallend gross), Übername deswegen (Giga), Alter (36), Vater eines Neugeborenen, früherer Arbeitsort (Labor in Zürich), Wohnort (Morcote), Arbeitsort (Locarno), Art des Arbeitgebers (Klinik). Das Opfer hätte nur mit Zustimmung der Angehörigen in dieser ausführlichen Weise kenntlich gemacht werden dürfen. Richtlinie 7.2 ist damit verletzt (Stellungnahme 24/2019). Hingegen durfte «Liberatv.ch» über den gleichen Verkehrsunfall mit Foto des Unfallopfers mit seinem Baby und Namensnennung aller Beteiligten berichten, weil die Witwe des Getöteten mit der Veröffentlichung einverstanden war (Stellungnahme 25/2019).

D. Ungerechtfertigte Anschuldigungen (Ziffer 7)

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Die «Zeit» hat nach Auffassung des Presserats ungerechtfertigte Anschuldigungen erhoben. In einem Text über einen Imam zitiert die Autorin anonymisierte Quellen, die die Vertrauenswürdigkeit und die Professionalität des Seelsorgers bezweifeln. Diese Quellen werden nur mit «jemand sagt» umschrieben und damit «keiner spezifischen Expertise aus der genannten Personengruppe (‘Muslime, Journalisten und ein Professor’) zugeordnet» (vgl. zum Quellenschutz oben Ziffer III.4). Damit lassen sich gemäss Presserat die Anschuldigungen weder begründen noch widerlegen. Die lediglich auf persönlichen Eindrücken basierenden «Zweifel» würden nicht hinterfragt. Für die Leserschaft würden so Verdachtsmomente bezüglich einer extremistischen Einstellung insinuiert und unbelegte und daher ungerechtfertigte Anschuldigungen in den Raum gestellt. Deshalb sieht der Presserat Ziffer 7 des Journalistenkodex verletzt (Stellungnahme 16/2019).

E. Opferschutz (RL 8.3)

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Die Richtlinie zum Opferschutz bezweckt gemäss Presserat nicht den Schutz der Leserschaft vor Sensationalismus, sondern den Schutz der Opfer vor der öffentlichen Zurschaustellung. Deshalb ist die Bestimmung nicht verletzt, obwohl ein Bericht von «20Minuten» das brutale, menschenverachtende Vorgehen eines Pädophilen mit sehr vielen Details schilderte, dabei aber niemand identifizierbar machte (Stellungnahme 22/2019).

2. Schutz der Menschenwürde und vor Diskriminierung (Ziffer 8 des Journalistenkodex)

A. Menschenwürde

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Ein Artikel auf «bluewin.ch» verletzte die Menschenwürde, weil in ihm ein gewalttätiger Fussballfan als «Idiot» und «hässlicher Typ» bezeichnet wurde, der «die letzten Überbleibsel seines missglückten Lebens [verliert]». (Der Leiter von «bluewin.ch» gestand im Verfahren vor Presserat ein, dass der Artikel in dieser Form nie hätte publiziert werden dürfen. Es handle sich um eine «grobe Fehlleistung» (Stellungnahme 83/2019).

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vgl. auch Abschnitt VI, Ziffer 4 (Rn 111).

B. Diskriminierung (Ziffer 8 des Journalistenkodex, Richtlinie 8.2)

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Die gesamte Berichterstattung eines Mediums zu einer Problematik muss berücksichtigt werden, wenn beurteilt wird, ob ein Leserbrief diskriminierend war. Die «Wiler Zeitung» durfte deshalb einen Leserbrief publizieren, der in einem Einbürgerungsverfahren eines Imams darauf hinwies, dass dessen Religion ihn als Imam ermächtige, gegenüber Ungläubigen zu lügen. Man nenne dies die «Taqiyya». «Täuschung, Hinterlist, Verschwörung, Betrug, Stehlen und Töten sind nichts als Mittel für die Sache Allahs» beschreibt der Leserbrief dieses Prinzip. Wenn der Imam dieses Prinzip leugne, dann handle er bereits im Sinn dieser «Taqiyya». Gemäss Presserat erscheint Richtlinie 8.2 angesichts der insgesamt sehr weitgehenden Einbettung der Thematik der «Wiler Zeitung» aber knapp nicht verletzt (Stellungnahme 38/2019).

99

Gemäss Presserat liegt eine Diskriminierung erst vor, wenn «eine angeborene oder kulturell erworbene Eigenschaft herabgesetzt» oder «herabsetzende Eigenschaften kollektiv zugeordnet werden» oder «die berechtigte Kritik an einzelnen in ungerechtfertigter Weise kollektiviert wird». Dies verneint der Presserat bei einem Porträt der «Zeit» über einen Imam, weil es immer um seine Person und nicht um die Muslime insgesamt gegangen sei. Die Journalistin ging im Text der Frage nach, ob einem Imam, der sich an einem universitären Lehrgang zum Seelsorger ausbilden lässt, vertraut werden könne. Auch diese Fragestellung ist gemäss Presserat zulässig (Stellungnahme 16/2019).

100

«24heures» durfte in einem Artikel darauf hinweisen, dass ein Prostituiertenring von Roma beherrscht werde. Gemäss Presserat wird damit nicht gesagt, dass alle Roma Prostituiertenringe unterhielten. Der Artikel verallgemeinert gemäss Presserat somit keine herabsetzende Eigenschaft einer Ethnie (Stellungnahme 76/2019).

101

Die «NZZ» durfte in einem Text über die deutsche Integrationsbeauftragte Ingrid Widmann- Mauz, die in einer Weihnachtskarte den Begriff Weihnachten nicht verwendete, die Bemerkung machen, man wundere sich «ein wenig, dass Widmann-Mauz ihrer Post nicht eine Halal-Toblerone aus der Schweiz beigelegt hat – etwas Süsses, Internationales, für alle geniessbar». Der Autor brauchte den Verweis auf Halal-Schokolade gemäss Presseart nur zur Illustration seiner Kritik an der Zurückhaltung der Integrationsministerin was die Formulierung ihrer Festtagswünsche angehe, also für das seiner Ansicht nach übertriebene Zurückstellen der eigenen Kultur, nicht aber zur Herabwürdigung der Praktiken, besonders der Essenspraktiken anderer Religionen (Stellungnahme 71/2019).

102

Der «Blick» durfte Anwohner eines Grundstücks, auf dem 60 Wohnwagen von Fahrenden standen, in dem Sinn zitieren, dass die Fahrenden Vignetten von umliegenden Fahrzeugen stehlen würden und «überall ihr Geschäft verrichten». Gemäss Presserat ist «das Schildern von Fakten und Zitieren von Vorwürfen eines Anwohners in diesem Fall nicht gleichzusetzen mit dem Reproduzieren oder Verstärken negativer Vorurteile gegenüber Fahrenden» (Stellungnahme 48/2019).

103

Kommentar: Diese Stellungnahme ist im Resultat falsch, denn im Lead schreibt der Blick von «Anwohner» im Plural, die sich über Exkremente und gestohlene Vignetten ärgern würden. Im Text wird klar, dass es ein einziger Anwohner ist. Damit ist das Wahrheitsgebot verletzt. Zudem stellt sich auch unter dem Aspekt des Diskriminierungsverbots durchaus die Frage, ob es zulässig ist, derart schlecht abgestützte Vorwürfe zu erheben, die durchaus geeignet sind, Vorurteile gegenüber Fahrenden zu verstärken.

104

Der Presserat verlangt «eine Mindestintensität der abwertenden Äusserung …, damit von einer Herabwürdigung oder Diskriminierung … die Rede sein kann» (erstmals in Stellungnahme 32/2001). Er verlangt ein «erheblich verletzendes Unwerturteil» (Stellungnahme 37/2004), weil die Meinungsäusserungsfreiheit nicht einer strengen Political correctness unterworfen werden darf. Deshalb durfte ein Journalist der «Basler Zeitung» in einer Gerichtsreportage wiederholt auf die deutsche Herkunft eines Kantonstierarztes hinweisen (der als Vorinstanz ins Verfahren involviert war), obwohl diese für den Sachverhalt völlig irrelevant war. «Einen Mitmenschen als Deutschen zu bezeichnen, ist für sich genommen keine Schmähung», meint der Presserat. Der Bericht des Journalisten sei zwar von einem wahrnehmbaren Ressentiment durchzogen, liege aber «weit diesseits eines radikalen Nationalismus oder gar Rassismus» (Stellungnahme 17/2019).

105

Der Titel «Frau am Steuer blockiert Tram» («Basler Zeitung» vom 19. Januar 2018) verstösst zwar gegen das Diskriminierungsverbot, führt aber nicht zu einer Rüge des Presserates, weil es sich um eine Lappalie handle (Stellungnahme 23/2019).

VI. Der Umgang mit Bildern

1. Wahrhaftigkeit und Transparenz (RL 3.3, 3.4, 3.5, 3.6)

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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.

2. Schutz der Privatsphäre

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Der «Tages-Anzeiger» durfte einen kritischen Artikel über die Firma Ringana mit einem Foto der beiden Geschäftsführer vor dem Bürogebäude bebildern, die im Zusammenhang mit einem früher publizierten Artikel entstanden ist. Dies begründet der Presserat mit dem Argument, dass es zum diskutierten Text passe. Das Einverständnis für ein Foto könne nicht an die Tonalität des zugehörigen Artikels gebunden sein (Stellungnahme 50/2019).

108

Kommentar: Diese Stellungnahme gibt Rätsel auf, denn die Einwilligung zur Verwendung eines Fotos wird für einen konkreten Zusammenhang erteilt. Sie gilt grundsätzlich nicht für die Verwendung in einem anderen Zusammenhang.

109

«Blick» durfte das Foto eines Zahnarztes (verpixelt) von der Website der Zahnarztpraxis übernehmen, um einen kritischen Artikel über den Zahnarzt zu bebildern. Wie der Zahnarzt moniert, hat «Blick» das Foto ohne sein Einverständnis verwendet. Entscheidend war, dass das Foto von der Website der Zahnarzt-Praxis nicht einem privaten Kontext entnommen war. Der Beschwerdeführer hat es genutzt, um sich damit in der Öffentlichkeit als Zahnarzt zu präsentieren. Daher ist die Verwendung des Fotos gemäss Presserat nicht zu beanstanden (Stellungnahme 64/2019).

3. Schutz von Personen in Notlage (RL 7.8)

110

«20Minuten» hat mit einem schockierenden Video das Gebot verletzt, sich gegenüber Personen besonders zurückhaltend zu zeigen, die in einer Notlage sind oder die unter dem Schock eines Ereignisses stehen. Das von «20Minuten» in einen Artikel eingebundene Video aus den Sozialen Medien zeigt, wie ein Kampfhund einen Zwergspaniel zu Tode beisst. Die neunjährige Halterin des Spaniels und deren Grossmutter müssen machtlos zusehen. Während der ganzen Filmaufnahmen von 1 Minute und 17 Sekunden sind verzweifelte Schreie und Weinen zu hören. Zudem kann das Video gemäss Presserat die Gefühle der Betrachterinnen und Betrachter verletzen oder sie gar nachhaltig verstören oder traumatisieren. Gemäss Presserat ändert daran auch die vorangestellte «Warnung der Redaktion» nichts, dieses Video könne Aufnahmen enthalten, die «den Betrachter eventuell verstören» könnten (Stellungnahme 68/2019).

4. Schutz der Menschenwürde (RL 8.1 und 8.5)

111

«20Minuten» hat mit dem Kampfhund-Video (vgl. oben Ziffer 3) gemäss Presserat auch die Menschenwürde des neunjährigen Mädchens und ihrer Grossmutter verletzt. «Die beiden müssen nicht nur miterleben, wie ihr Hund totgebissen wird, sie müssen dies in der medialen Öffentlichkeit tun. Es wird ihnen dabei zugesehen, wie sie in Panik geraten, wie die Grossmutter verzweifelt mit dem Terrier kämpft, es wird ihnen dabei zugehört, wie sie schreien – und möglicherweise psychische Schäden erleiden.» (Stellungnahme 68/2019).

5. Aktualitätsbilder, Täter- und Attentatsfilme, Streaming
(RL 8.4, 8.5)

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Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.

VII. Besonderheiten der Polizei- und Gerichtsberichterstattung
(Ziffer 7 Kodex; RL 7.4, 7.5, 7.6, 7.7)

1. Unschuldsvermutung

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Gemäss Presserat muss die Unschuldsvermutung nicht nur bei einem rechtskräftigen Urteil nicht mehr beachtet werden, sondern auch bei «erdrückender Indizienlage», als solche gilt gemäss Presserat ein Geständnis. Deshalb durfte der Vierfachmörder von Rupperswil als Täter bezeichnet werden.

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Hingegen setzt die Bezeichnung als «Killer» gemäss Presserat Gefühlskälte und gewisse niedrige Motive voraussetzt. Ob dies im Fall des Vierfachmörders gegeben ist, ist gemäss Presserat problematisch, weil über die Schuldfähigkeit noch nicht rechtskräftig entschieden war. (Stellungnahme 43/2019).

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Kommentar: Diese Stellungnahme ist im konkreten Fall richtig, lässt aber in ihrer Absolutheit einige Fragen offen: Was heisst «erdrückende Indizienlage»? Dazu hätten Journalistinnen und Journalisten gerne mehr gelesen. Als Illustration führt der Presserat einzig den Fall des Co-Piloten an, der den Absturz einer Germanwings-Flugzeug vorsätzlich verursacht haben soll (Stellungnahmen 42 und 57/2015). Dort lagen entsprechende Aufzeichnungen des Voice Recorders vor, eine Aussage des Staatsanwalts an einer öffentlichen Medienorientierung und die Äusserungen des CEOs der Lufthansa.

2. Namensnennung

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Der Blick nannte den vollen Namen des Vierfachmörders von Rupperswil zu Unrecht. Für die Namensnennung gebe es kein überwiegendes öffentliches Interesse: «Ein Mörder und seine Angehörigen, die von den Gerichtsberichten betroffen sind, haben ein Recht auf Schutz ihrer Privatsphäre, ungeachtet der Abscheulichkeit der begangenen Tat. Der Betroffene darf grundsätzlich nicht identifiziert werden.» Auch die offensichtlich versehentliche Namensnennung durch die Verteidigerin in einem Videointerview rechtfertige die Namensnennung durch die Medien nicht. Zum einen dürfen gemäss Presserat weder die Verteidigerin noch ihr Mandant für die versehentliche Namensnennung bestraft werden. Zum anderen und Grundsätzlicheren: «Es ist nicht die Aufgabe der Justiz, auf die Einhaltung von medienethischen Regeln zu achten. Das ist die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten» (Stellungnahme 30/2019).

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Kommentar: Im Klartext heisst diese begrüssenswert deutliche Stellungnahmen: Auch wenn eine Verteidigerin oder ein Staatsanwalt den Namen eines Beschuldigten öffentlich nennt, können Journalistinnen die Namensnennung nicht damit rechtfertigen, dass diese Personen den Namen genannt haben, sondern müssen selbst prüfen, ob ein überwiegendes öffentliches Interesse die Identifizierung zulässt.

3. Nachführpflicht (RL 7.6)

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Der Presserat rügt «Keystone-SDA», die «WOZ» und die «SonntagsZeitung» sowie «FM1 Today», «Tachles» und «aufbau.eu», weil sie zwar über die erstinstanzliche Verurteilung eines Beschuldigten berichtet haben, nicht aber über den zweitinstanzlichen Freispruch, obwohl ihnen der Freispruch vom Beschuldigten mitgeteilt worden war (Stellungnahme 52/2019).

VIII. Unabhängigkeit der Medienschaffenden
(Ziffern 9 und 10 Kodex)

1. Trennung von redaktionellem Teil und Werbung
(RL 10.1, 10.2 und 10.4)

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Für das Gebot der Trennung von redaktionellem Teil und Werbung gelten erhöhte Anforderungen, wenn die Werbung die ganze Titelseite einnimmt. «20Minuten» verletzt gemäss Presserat das Gebot der Trennung von redaktionellem Teil und Werbung mit einem Inserat auf der Frontseite zur Selbstbestimmungsinitiative. Obwohl sich diese Werbeseite vom auf Seite 3 folgenden redaktionellen Text klar abgegrenzt, als Anzeige kenntlich gemacht und von den Inserenten (Egerkinger Komitee) gezeichnet ist, erkennt der Presserat trotzdem auf eine Verletzung der Richtlinie 10.1. Der Grund: Die Gratiszeitung hat für tragende Elemente des Inserates die gleiche Farbe wie das Logo von 20Minuten verwendet und das Medien-Logo vom Inserat ungenügend abgesetzt. Wenn der nicht mediengeschulte Durchschnittsleser das Gratisblatt in die Hand nimmt, nimmt er gemäss Presserat im konkreten Fall wahr: 20 Minuten – Minarett – Ja zur Selbstbestimmungsinitiative (Stellungnahme 29/2019).

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Der Hinweis «In Kooperation mit» genügt gemäss Presserat nicht um Werbung zu kennzeichnen, da der Durchschnittsleser kaum wissen wird, dass es sich bei einer solchen Kooperation um Werbung handelt (d.h. eine Geschäftsbeziehung zwischen Werbetreibendem und Medium, bei der Geld fliesst). Das die Geschäftsbeziehung verschleiernde Wortgebilde «In Kooperation mit…», welches das Vertrauen der Leserschaft in den Journalismus zu untergraben vermag, soll grundsätzlich ersetzt werden durch den unmissverständlichen Begriff «Werbung».

121

Deshalb verletzte «Blick» gemäss Presserat mit einem Online-Teaser die journalistische Pflicht, Werbung klar zu kennzeichnen. Der Hinweis in kleiner Schrift «‹IQOS› – In Kooperation mit IQOS» (wobei das «IQOS»-Logo verwendet wird) in der linken oberen Ecke eines auf der Hauptseite «blick.ch» publizierten Teaserbildes genügt nicht, um den Inhalt als Werbung zu kennzeichnen. Der Teaser unterscheidet sich gemäss Presserat optisch und gestalterisch nicht von den übrigen auf der Seite auffindbaren, auf journalistische Artikel verlinkenden Teasern. Nicht verletzt hat «blick.ch» die «Erklärung» gemäss Presserat hingegen mit dem Artikel, auf den der Teaser verweist. Auf eine Werbung schliessen lässt erstens ein schwarzes Banner mit den beiden Markenlogos und dem Hinweis, IQOS sei ein Tabakprodukt ausschliesslich für erwachsene, eine Alternative suchende Raucher. Dieses Banner bleibt am oberen Bildschirmrand fixiert, wenn der oder die Leser/in nach unten scrollt. Zweitens unterscheidet sich die Aufmachung des Beitrags von gewöhnlichen Artikeln auf «blick.ch»: Die Schriftfarbe ist grau statt schwarz, die Spaltenbreite rund doppelt so gross. Drittens steht am Ende des Artikels in allen drei Schweizer Amtssprachen ein Satz, dessen Wortlaut an die einschlägige Werbung erinnert: «Dieses Tabakerzeugnis kann Ihre Gesundheit schädigen und macht abhängig.» Und viertens findet sich als Fussnote der folgende Hinweis, wobei der folgende erste Satz gefettet ist: «Dies ist ein bezahlter Beitrag. ‹In Kooperation mit…› bedeutet, dass Inhalte im Auftrag eines Kunden erstellt und von diesem bezahlt werden. Dieser Sponsored Content wird vom Brand Studio produziert.»

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Der Presserat weist jedoch darauf hin, dass der Hinweis «bezahlter Beitrag» für sich allein nicht genügt. Er empfiehlt «blick.ch», bei der Publikation von Native Advertisings künftig nicht bloss in Fussnoten kenntlich zu machen, dass es sich um bezahlte Beiträge handelt (Stellungnahme 4/2019).

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Der Begriff «Sponsored Content» ist gemäss Presserat nicht klar definiert und schon gar nicht allgemein verständlich. Er genügt nicht, um Werbung als solche zu kennzeichnen, zumindest wenn das Layout der Werbung gleich ist wie jenes redaktioneller Beiträge. Es trägt gemäss Presserat nicht zur Verständlichkeit bei, dass ein englischer Begriff verwendet wird, statt einfach zu sagen, dass es sich um «Werbung» oder um eine «Anzeige» handelt. Der durchschnittliche Leser muss gemäss Presserat auf den ersten Blick erkennen, dass es sich um Werbung handelt, sonst täusche die Redaktion ihr Publikum. Deshalb verletzte die «NZZ am Sonntag» das Gebot der Trennung von redaktionellem Inhalt und Werbung mit einem Artikel mit dem Titel «Superheld Schweinefleisch». Im Seitentitel hiess es: «Hintergrund» (in hellgrauer Schrift) und «Sponsored Content für Proviande» (in schwarzer Schrift). Am Ende des Textes stand: «Dieser Artikel wurde von NZZ Content Solutions im Auftrag von Proviande erstellt.»

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Die beanstandete Seite war gemäss Presserat in Schrift, Layout und Gestaltung weitgehend identisch mit den redaktionellen Seiten der «NZZ am Sonntag». Zudem sei sie im Seitentitel als «Hintergrund» deklariert, einem redaktionellen Gefäss der «NZZ am Sonntag». Dabei sind gemäss Presserat Schriftart und -grösse die gleiche wie für alle übrigen «Hintergrund»-Seiten der «NZZ am Sonntag», mit dem einzigen Unterschied, dass statt der üblichen blauen Farbe hellgrau gewählt worden sei. Selbst der Schreibstil sei kaum unterscheidbar.

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Für den Leser und die Leserin der «NZZ am Sonntag» war gemäss Presserat auf den ersten Blick nicht erkennbar, dass es sich um bezahlte Werbung handelte. Auch auf den zweiten Blick sei das nicht offensichtlich. Nur wer den Seitentitel lese und verstehe, was «Sponsored Content» bedeute oder den Artikel bis zum letzten Wort des sogenannten Abbinders lese, erkenne, dass es sich um Werbung handeln dürfte (Stellungnahme 67/2019).

2. Persönliche Unabhängigkeit
(Ziffer 9 Journalistenkodex, RL 2.4, 9.1, 9.2)

126

Keine wichtigen Stellungnahmen im Berichtsjahr.


* Ein grosser Dank für wertvolle Anregungen und Hinweise geht an Prof. Dr. iur. Franz Zeller

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