Entscheidübersicht Verfassungsrecht und EMRK: Medienrelevante Rechtsprechung 2018

Franz Zeller, Dr., Titularprofessor an der Universität Bern und Lehrbeauftragter für Medien- und Kommunikationsrecht an der Universität Basel

Résumé: Les plus importantes questions de principe concernant la liberté d’opinion et d’informer sont, depuis assez longtemps, davantage tranchées à la Cour européenne des droits de l’homme (CEDH) de Strasbourg qu’au Tribunal fédéral de Lausanne. L’année 2018, qui a compté de nombreuses décisions dans ce domaine, confirme la tendance. La jurisprudence de Strasbourg touche toujours plus le droit suisse des médias (également), devenant ainsi un important outil pour le Tribunal fédéral. Cela vaut par exemple pour l’interdiction de publications à caractère discriminatoire et, dans une moindre mesure, pour la protection de la bonne réputation. Dans certains domaines, la CEDH a utilisé de nouveaux arguments, dans d’autres, ceux-ci étaient déjà connus. Les journalistes continuent par exemple à manquer de soutien de la CEDH pour les recherches menées à la limite de la légalité.

Zusammenfassung: Die wichtigsten grundrechtlichen Fragen freier Kommunikation werden seit längerer Zeit eher in Strassburg entschieden als in Lausanne. Das Berichtsjahr 2018 unterstreicht diese Feststellung. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Meinungsfreiheit und ihren Grenzen war 2018 ergiebig. Sie prägt (auch) das schweizerische Medienrecht tendenziell immer stärker und ist für das Bundesgericht eine wichtige Orientierungshilfe. Dies gilt etwa für das Verbot diskriminierender Publikationen und in minderem Masse auch für den Schutz des guten Rufs. In bestimmten Gebieten hat der EGMR Neuland betreten, in anderen ist er auf bekannten Pfaden unterwegs: So finden Medienschaffende in Strassburg noch immer wenig Unterstützung für Recherchen am Rande der Legalität.

INHALTSVERZEICHNIS

I. Medien, Meinungs-, Kunst- und Wirtschaftsfreiheit

1.  Allgemeines     N 3
2.  Staatliche Eingriffe in grundrechtlich geschützte Kommunikation    N 4
     A. Geltungsbereich: Welche Freiheitsrechte sind betroffen?    N  4  
     B. Eingriff: Staatliche Schmälerung des grundrechtlichen Freiraums?    N 7     
     C. Grundrechtsberechtigung: Befugnis zur Beschwerde gegen einen Eingriff    N 9  
3.  Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)    N 11 
     A.  Ausreichende Bestimmtheit der beschränkenden Rechtsnorm    N 11
     B.  Ausreichende Normstufe (Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV)    N 14   
     C.  Polizeiliche Generalklausel (Art. 36 Abs. 1 Satz 3 BV)    N 15
4.  Berechtigter Eingriffszweck (Art. 36 Abs. 2 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)    N 16
5.  Primärer Eingriffszweck: Schutz privater Interessen    N 18
     A.  Schutz des Ansehens    N 18
     B.  Schwerpunkt: (Journalistische) Sorgfalt bei rufschädigenden Vorwürfen    N 37
     C.  Schwerpunkt: Ansehensschutz bei Satire, Sarkasmus, Ironie und Humor    N 47
     D.  Schutz privater Interessen bei Vorwürfen strafbaren Verhaltens    N 52
     E.  Schutz der geschäftlichen Reputation von Marktteilnehmern    N 54
     F.  Schutz der Privatsphäre vor Blossstellung (z.B. durch Abbildung)    N 55
6.  Primärer Eingriffszweck: Schutz von Interessen der Allgemeinheit    N 60
     A.  Schutz staatlicher Geheimnisse    N 60
     B.  Aufrufe zu Diskriminierung, Intoleranz, Hass und Gewalt    N 63
     C.  Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung von Völkermord    N 71
     D.  Massnahmen zum Schutz von Sittlichkeit und Moral    N 77
     E.  Schutz des religiösen Friedens und religiöser Empfindungen    N 78
     F.  Weitere Vorschriften zum Schutz allgemeiner Interessen    N 81
7.  Notwendigkeit von Eingriffen wegen Straftaten bei der Recherche    N 82
     A.  Bundesgericht: Wahrung berechtigter Interessen    N 82
     B.  EGMR-Rechtsprechung    N 83
8.  Redaktionsgeheimnis / Quellenschutz (Art. 17 Abs. 3 BV und Art. 10 EMRK)    N 87
     A. Urteile des Bundesgerichts   N 87
     B.  EGMR-Rechtsprechung    N 91
9.  Staatliche Pflicht zur Gewährleistung freier Kommunikation (Art. 10 EMRK)    N 94

II. Informationszugang für Medien und die Allgemeinheit

1.  Informationszugang gestützt auf die Bundesverfassung und die EMRK    N 98
     A.  Praxis des Bundesgerichts    N 98
     B.  EGMR-Rechtsprechung    N 99
2.  Informationszugang gestützt auf das BGÖ    N 100
3.  Informationszugang gestützt auf kantonales Recht    N 102
4.  Anspruch auf rechtsgleiche und willkürfreie amtliche Information (Art. 8 f. BV)   N 107
5.  Gerichtsöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 6 EMRK)    N 108
     A.  Öffentlichkeit der Verhandlung    N 109
     B.  Öffentliche Bekanntgabe des Entscheids    N 111
6.  Amtliche Pflicht zur Anonymisierung von Informationen    N 113

III.  Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens
IV.  Radio und Fernsehen

1.  Redaktioneller Inhalt von Radio- und Fernsehprogrammen    N 121
     A.  Bundesgerichtspraxis    N 121
     B.  Rechtsprechung des EGMR    N 123
2.  Weitere Aspekte    N 124

V.  Verfassungsrechtliche Aspekte der Online-Kommunikation

1.  Recht auf Zugang zu Online-Informationen    N 125
     A.  Faktische Hürden des Zugangs zu Onlineinformation    N 125
     B.  Anonymes Surfen im Netz: Herausgabe von Nutzerdaten an die Polizei    N 126
2.  Verantwortlichkeit für rechtswidrige Äusserungen    N 128
      A.  Haftung für Links    N 128
3.  Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten N 132
     A.  Zugang zu Videos der Punkband Pussy Riot    N 132
     B.  Zugang zu identifizierenden Medienberichten in Online-Archiven    N 134

 

Einleitung

1  

Im Berichtsjahr 2018 wurde die verfassungs- und menschenrechtliche Rechtsprechung zur freien Kommunikation und ihren Grenzen durch die Strassburger Gerichtspraxis dominiert. Der Gerichtshof fällte eine Reihe richtungsweisender Urteile zu unterschiedlichen medienrechtlichen Aspekten. Zwar erging lediglich ein einziges Urteil in einem Schweizer Fall (EGMR-Urteil «GRA Stiftung c. Schweiz» [Vorwurf des verbalen Rassismus] N° 18597/13 vom 9.1.2018). Aber auch die EGMR-Judikatur zu Beschwerden aus anderen Europaratsstaaten ist für die schweizerische Justiz von grosser Tragweite. Bisweilen hat das Bundesgericht massgeblich auf die differenzierten Strassburger Vorgaben abgestellt und die Beurteilungskriterien des EGMR sorgfältig durchgeprüft. Dies gilt primär für rassendiskriminierende Äusserungen (so im BGE 145 IV 23 zur Leugnung des Genozids an bosnischen Muslimen und später im BGer-Urteil 6B_350/2019 vom 29.5.2019 zur Leugnung des Holocaust). Auch bei schweizerischen Konflikten um die Grenzen des Ansehensschutzes spielte die Strassburger Rechtsprechung eine erhebliche Rolle (so etwa beim BGer-Urteil 6B_938/2017 + 6B_945/2017 vom 2.7.2018 zu beissender Kritik an einer Politikerin in einer satirischen Monatszeitschrift, hinten N 48 f.).

2

Die bundesgerichtliche Rechtsprechung förderte 2018 aus verfassungsrechtlicher Sicht punktuell neue Erkenntnisse zu Tage (etwa für die schwierige Grenzziehung beim Ehrenschutz in politischen Auseinandersetzungen oder für den Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen). Die Strassburger Praxis präsentierte sich wie üblich thematisch vielfältiger und inhaltlich ergiebiger. Dutzende von EGMR-Urteilen verdeutlichten bestehende Grenzziehungen (bspw. bei Kritik an Polizisten und Richtern, bei ehrenrührigen Vorwürfen auf der Basis kursierender Gerüchte, bei Aufrufen zu Diskriminierung, Intoleranz, Hass und Gewalt und beim Umgang mit amtlichen Geheimnissen). Vereinzelt betrat der EGMR auch juristisches Neuland, etwa für den Einsatz der versteckten Kamera bei Prominenten, für die staatliche Pflicht zur Anonymisierung von Gerichtsurteilen, für Haftung Medienschaffender beim Setzen von Hyperlinks auf problematische Inhalte oder für die Pflichten von Suchmaschinenbetreibern.

I. Medien-, Meinungs-, Kunst- und Wirtschafts-freiheit (Art. 16, 17, 21, 27 BV; Art. 10 EMRK)

1. Allgemeines

3

Ungehinderte Kommunikation wird in der Schweiz durch eine Reihe spezifischer Verfassungsgarantien gewährleistet, während sie die EMRK im Rahmen einer einzigen Rechtsnorm (Art. 10 EMRK) schützt. Im Einzelfall ist zu prüfen, ob sich eine bestimmte Äusserung im Geltungsbereich eines bestimmten Grundrechts (oder mehrerer) befindet und ob dieser geschützte Freiraum durch den Staat geschmälert wird. Nur dann sind die strengen Voraussetzungen von Art. 36 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK massgebend: Gesetzliche Grundlage, berechtigtes Eingriffsziel, Verhältnismässigkeit des Eingriffs.

2. Staatliche Eingriffe in grundrechtlich geschützte Kommunikation

  A. Geltungsbereich: Welche Freiheitsrechte sind betroffen?

4

Im BGer-Urteil 1C_461/2017 vom 27.6.2018 mass das Bundesgericht das Gesuch eines IV-Versicherten um Zugang zu amtlichen Akten an der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV), nicht aber an der Medienfreiheit (Art. 17 BV). Der Beschwerdeführer sei weder Journalist, noch mache er geltend, sonstwie medial tätig zu sein oder arbeiten zu wollen (E. 4.4). Art. 17 BV griff daher nicht.

5

Kommentar: Das Bundesgericht bemüht sich seit einiger Zeit, den Geltungsbereich der Medienfreiheit eher eng zu umreissen. Seine Grenzziehung orientiert sich tendenziell am herkömmlichen Journalismus. Dadurch trägt es dazu bei, dem im Onlinezeitalter potenziell uferlosen Anwendungsbereich von Art. 17 BV schärfere Konturen zu verleihen. Nicht jeder Blog-Kommentar oder Tweet verdient das Prädikat einer medialen Äusserung im Sinne von Art. 17 BV. Der Schutz durch die allgemeine Meinungsfreiheit (Art. 16 BV) ist meist ausreichend. Die eher enge Sichtweise hat allerdings eine problematische Seite, wenn die Justiz gesellschaftlich erwünschte Kommunikation ausserhalb der herkömmlichen Massenmedien nur unzureichend schützen sollte. Grundrechtsdogmatisch ist dies nicht eine Frage des Geltungsbereichs (Art. 17 und/oder Art. 16 BV tangiert?), sondern der Güterabwägung (wie stark wiegen die Interessen freier Kommunikation?). Werden Fragen allgemeinen Interesses uneigennützig aufgegriffen, so verdient auch nicht-journalistische Kommunikation einen intensiven Schutz.

6

Das BGer-Urteil 6B_604/2017 (Wahlfälschung) vom 18.4.2018 betraf die Beschwerde eines Westschweizer Fernsehjournalisten, der zweimal elektronisch abgestimmt hatte. Das Bundesstrafgericht hatte im Urteil SK.2016.56 vom 3.4.2017 den Schuldspruch gegen den Journalisten wegen Wahlfälschung (Art. 282 StGB) bestätigt und den Einwand verworfen, dies tangiere seine Medienfreiheit (Art. 17 BV). Das Bundesgericht brauchte diese Auffassung nicht zu überprüfen und äusserte sich nicht zur Frage, ob die Medienfreiheit berührt war. Der Schuldspruch war bereits aus strafrechtlichen Gründen unberechtigt. Eine verfassungsrechtliche Betrachtung war daher nicht nötig (siehe zu diesem Entscheid auch hinten N 81).

B. Eingriff: Staatliche Schmälerung des grundrechtlichen Freiraums?

7

Einen Eingriff in die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) verneinte der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Erkem c. Türkei“ (Freispruch ohne Festnahme) N° 38193/08 vom 2.10.2018. Eine Anwältin war angeklagt worden, nachdem sie sich an einer Pressekonferenz zu Unruhen in einem Gefängnis geäussert hatte. Das Verfahren dauerte anderthalb Jahre und endete bei der ersten Gerichtsverhandlung mit einem Freispruch. Die Anwältin war nicht festgenommen worden. Sie konnte auch nicht dartun, dass das Verfahren sonstwie unangenehm («inconvénient») oder abschreckend gewesen wäre.

8

Die Schwelle des Grundrechtseingriffs überschritt hingegen das über 7 Jahre dauernde Strafverfahren gegen den Vorsitzenden einer Vereinigung für die Anliegen von Migranten. Wegen der Publikation eines kritischen Berichts über Zwangsabschiebungen im April 2002 wurde er 2009 zu einer zehnmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Im EGMR-Urteil „Gürbüz c. Türkei“ (Eingestelltes Strafverfahren) N° 41982/10 vom 27.11.2018 überprüfte der Gerichtshof die Voraussetzungen für eine Beschränkung der Meinungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2 EMRK), obwohl der Beschwerdeführer letztlich gar nicht schuldig gesprochen wurde. Die türkische Justiz stellte das Verfahren 2010 wegen Verjährung ein. Dennoch wurden die Grundrechte des Vorsitzenden tangiert. Der EGMR begründete dies mit der langen Verfahrensdauer. (In der Sache stellte der Gerichtshof einstimmig einen unverhältnimässigen Eingriff fest, da der Bericht weder zu Hass noch zu Gewalt aufgerufen hatte.)

C. Grundrechtsberechtigung: Befugnis zur Beschwerde gegen einen Eingriff

9

Das EGMR-Urteil „Brisc c. Rumänien“ N° 26238/10 vom 11.12.2018 betraf einen leitenden Staatsanwalt (und gleichzeitigen Pressesprecher der Staatsanwaltschaft). Er wurde abgesetzt, weil er sich in einem Fernsehinterview zu einem hängigen Ermittlungsverfahren geäussert hatte (Korruptionsverdacht gegen eine nicht namentlich genannte Haftrichterin, deren Identität die Journalisten anschliessend enthüllten). Der abgesetzte Staatsanwalt Brisc beschwerte sich in Strassburg wegen eines Verstosses gegen die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK). Die 4. Kammer des Gerichtshofs hiess die Beschwerde mit 5 gegen 2 Stimmen gut. Die Gerichtsminderheit war hingegen der Auffassung, Brisc könne sich gar nicht auf die Meinungsfreiheit berufen, denn als staatliches Organ habe er im TV-Interview nicht von einem Recht Gebrauch gemacht, sondern bloss eine Amtspflicht erfüllt. Die Absetzung möge das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) schmälern, nicht aber die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK).

10

Kommentar: Sowohl der abgesetzte Staatsanwalt als auch die rumänische Regierung und die Mehrheit der 4. EGMR-Kammer waren übereinstimmend der Ansicht, die Absetzung greife in die Meinungsfreiheit ein. Die ausführliche Minderheitsmeinung von Richter Küris bestreitet dies. Sie vermischt verschiedene dogmatische Aspekte und überzeugt im Ergebnis nicht. Zutreffend ist zwar, dass sich die Obrigkeit nicht auf die Menschenrechte berufen kann. Hier aber ging es um die Frage, ob der Staatsanwalt bei seiner Informationstätigkeit die Grenzen zulässiger Kommunikation gesprengt hatte und deshalb vom Staat sanktioniert werden durfte. Die staatliche Reaktion auf seine (angeblich überbordende) Äusserung bedeutete eine Beschränkung seiner Grundrechte freier Kommunikation. Anders wäre die Situation, wenn eine andere staatliche Behörde der Staatsanwaltschaft verboten hätte, in einer bestimmten Art und Weise zu kommunizieren. In einem solchen Fall könnten sich die Verantwortlichen der Staatsanwaltschaft nicht gestützt auf Art. 10 EMRK beschweren.

3. Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)

A.  Ausreichende Bestimmtheit der beschränkenden Rechtsnorm

11

Nach ständiger Rechtsprechung bedingt eine Beschränkung der Medienfreiheit u.a. eine ausreichend präzise formulierte Gesetzesvorschrift, welche eine nach den Umständen vernünftige Vorhersehbarkeit staatlichen Einschreitens ermöglicht.

12

Zweifelhaft war dies etwa bei den Vorschriften im russischen Gesetz zur Unterdrückung von Extremismus. Die EGMR-Urteile „Mariya Alekhina u.a. c. Russland“ (Pussy Riot) N° 38004/12 vom 17.7.2018, § 252ff. und „Ibragim Ibragimov c. Russland“ (Verbot islamischer Bücher) N° 1413/08, 28261/11 vom 28.8.2018, § 80ff. verwiesen darauf, dass die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) die unzureichende Präzision der vagen Definitionen im russischen Gesetz bedauert hat. Der Gerichtshof liess die Frage der genügenden gesetzlichen Grundlage letztlich offen. Er brauchte sie nicht zu beantworten, weil die russischen Eingriffe jedenfalls am Erfordernis der Verhältnismässigkeit scheiterten.

13

Als unzureichend bezeichnete das EGMR-Urteil „Unifaun Theatre Productions Ltd ua c. Malta“ (Theaterstück Stitching) N° 37326/13 vom 15.5.2018 die gesetzliche Grundlage für die verbotene Aufführung des Stücks «Stitching» des schottischen Schriftstellers Anthony Neilson. Die in der Kino- und Bühnenverordnung erwähnten Kriterien (wie der Grad an Sitte und Anstand sowie allgemeines gutes Verhalten) umschrieben die Grenzen des Beurteilungsspielraums für Maltas Behörden nicht ausreichend. Darüber hinaus sah die Verordnung nur für Filme ein vollständiges Verbot vor, nicht aber für Bühnenproduktionen.

B.  Ausreichende Normstufe (Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV)

14

Im Berichtsjahr gab es dazu keine erwähnenswerten Entscheide.

C.  Polizeiliche Generalklausel (Art. 36 Abs. 1 Satz 3 BV)

15

Im Berichtsjahr gab es dazu keine erwähnenswerten Entscheide.

4. Berechtigter Eingriffszweck (Art. 36 Abs. 2 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)

16

Der Schutz des guten Rufs (Art. 10 Abs. 2 EMRK) war wie in den Vorjahren der häufigste Grund für rechtliche Konflikte um die Grenzen freier Kommunikation. Die Balance zwischen Ansehensschutz und Medienfreiheit wird in der Schweiz weniger durch unmittelbaren Rückgriff auf Verfassungsrecht gefunden als durch die Anwendung des Strafgesetzbuchs (Ehrenschutz in Art. 173 ff. StGB) und des Zivilgesetzbuchs (Persönlichkeitsschutz in Art. 28 ZGB), welche die übergeordneten Vorgaben von BV und EMRK zu respektieren hat. Die 2018 gefällten zivil- und zivilverfahrensrechtlichen Urteile eidgenössischer und kantonaler Gerichte werden in der Rechtsprechungsübersicht von Christiana Fountoulakis/Julien Francey (medialex Newsletter 1/2019) abgehandelt. Dem Straf- und Strafverfahrensrecht widmet sich die Übersicht von Miriam Mazou (medialex Newsletter 2/2019).

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Bei Kritik an Justizvertretern (z.B. Richtern) fällt neben dem Schutz des guten Rufs als zusätzlicher Schutzzweck die Wahrung von Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung ins Gewicht, welche in Art. 10 Abs. 2 EMRK ausdrücklich erwähnt ist. Dieser Eingriffszweck kam 2018 in verschiedenen EGMR-Fällen zum Tragen, die hinten (Ziff. I/5A/d, N 30 ff.) dargestellt werden.

5. Primärer Eingriffszweck: Schutz privater Interessen

A. Notwendigkeit von Eingriffen zum Schutz des Ansehens

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Ein wesentliches Kriterium für die Rechtmässigkeit eines Eingriffs in die freie Kommunikation ist der Umstand, wer das Ziel der publizierten Vorwürfe ist. Bestimmte Personen(-gruppen) müssen sich heftigere Vorwürfe gefallen lassen als andere. So setzen sich Politiker bewusst einer besonderen Beobachtung aus und müssen scharfe Kritik an ihren politischen Aktivitäten akzeptieren.

a) Vorwürfe gegen Politiker
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Das EGMR-Urteil „GRA-Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus c. Schweiz“ (Verbaler Rassismus) N° 18597/13 vom 9.1.2018 betraf kontroverse Äusserungen eines SVP-Jungpolitikers im Vorfeld der Abstimmung über die Minarettinitiative. 2012 hatte die II. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts im Urteil BGE 138 III 641 festgehalten, der Politiker habe bloss eine Verschiedenheit zwischen Christen und Muslimen aufgezeigt. Dies bedeute weder eine pauschale Herabsetzung noch eine grundsätzliche Geringschätzung von Muslimen. Der Vorwurf des „verbalen Rassismus“ auf der Website der „GRA-Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus“ rücke den Politiker in ein falsches Licht. Es handle sich um eine unzutreffende Tatsachenbehauptung und damit um eine Persönlichkeitsverletzung. Gestützt auf Art. 28 ZGB verbot die schweizerische Ziviljustiz der Stiftung, die Äusserung des Politikers unter der Rubrik „Verbaler Rassismus“ zu publizieren. Für den Fall einer Missachtung des Verbots wurde der Stiftung eine Strafe wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung (Art. 292 StGB) angedroht.

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Auf Beschwerde der Stiftung stellte der EGMR einen Verstoss gegen Art. 10 EMRK fest. Im Rahmen einer intensiven und engagierten öffentlichen Debatte (wie damals im Vorfeld der Abstimmung über die Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten») müsse es grundsätzlich möglich sein, kontroverse Äusserungen einer politisch exponierten Person rassistisch zu nennen, solange ihr damit keine Straftat (Rassendiskriminierung nach Art. 261bis StGB) vorgeworfen werde. Der Vorwurf des verbalen Rassismus unterstelle keine strafbare Rassendiskriminierung und beruhe auf ausreichender sachlicher Grundlage.

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Kommentar: Das EGMR-Urteil zur Kritik einer Stiftung an einem SVP-Jungpolitiker hat die grundrechtlichen Schwächen der bundesgerichtlichen Anwendung des ZGB deutlich gemacht; vgl. dazu die Anmerkungen von Christiana Fountoulakis/Julien Francey, Aperçu de la jurisprudence fédérale, cantonale et internationale rendue durant l’année 2018 en matière de droit civil et de procédure civile en lien avec les médias, medialex Newsletter 1/2019, N 68ff. und vorher von Christoph Born, medialex Jahrbuch 2018, S. 126f. Dem Strassburger Urteil zum Trotz verweigerte das Bundesgericht 2019 die von der Stiftung verlangte Revision des ursprünglichen Urteils aus dem Jahre 2012. Zur spitzfindigen Begründung und den problematischen Konsequenzen des bundesgerichtlichen Revisionsurteils (BGE 145 III 165) vgl. ausführlich Andreas Stöckli, Wege zur Umsetzung der Menschenrechtskonvention in der Schweiz, plädoyer 3/2019, S. 20ff..

22

Das BGer-Urteil 6B_1270/2017, 6B_1291/2017 (Facebook: Drecklügner) vom 24.4.2018 befasste sich mit massiven verbalen Angriffen auf einen Politiker. Anlässlich der „Affäre Hildebrand“ wurde er auf Facebook u.a. als Drecklügner tituliert. Akteure im öffentlichen Meinungsstreit müssen laut Bundesgericht eine mitunter heftige Kritik akzeptieren. Die Strafrechtliche Abteilung hält fest, grundsätzlich dürfe eine strafbare Ehrverletzung gerade bei politischen Auseinandersetzungen nur mit grosser Zurückhaltung angenommen werden. Verbale Angriffe der politischen Gegenseite seien nicht immer zum Nennwert zu nehmen, «da sie oft das Denkvermögen (‹la pensée›) ihrer Autoren überschreiten». Die Meinungsfreiheit schütze im Prinzip auch eine vulgäre Wortwahl.

23

Die Staatsanwaltschaft führte in dieser Angelegenheit den oben geschilderten BGE 138 III 641 (persönlichkeitsverletzender Vorwurf des „verbalen Rassismus“) ins Feld. Die Strafrechtliche Abteilung wies jedoch präzisierend darauf hin, der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz erfasse auch die soziale Geltung und verlange im Gegensatz zum strafrechtlichen Ehrenschutz keine vorsätzliche Tatbegehung. Dies könne zu abweichenden Wertungen führen (E. 2.4.1). Die Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich wies das Bundesgericht ab. Allerdings deutete es an, dass hier ein Grenzfall zu beurteilen war: Der Freispruch für die grobschlächtige Formulierung sei «in extremis» erfolgt (E. 2.6).

24

Die strafrechtlichen Grenzen des Erlaubten überschritt die derbe Wortwahl gegen eine Politikerin auf Facebook. Das BGer-Urteil 6B_531/2018 (Facebook: Psychisch krank) vom 2.11.2018 bestätigte einen Schuldspruch wegen Beschimpfung (Art. 177 StGB). Auf einem für SVP-Parteifreunde zugänglichen Facebook-Profil wurde die Politikerin als „ernsthaft krank bezeichnet. Sie gehöre „administrativ in eine Klinik gesperrt und nicht mehr raus gelassen.“ Der Verfasser des Facebook-Posts berief sich vergeblich auf das eben erwähnte BGer-Urteil 6B_1270/2017, 6B_1291/2017 (Facebook: Drecklügner) vom 24.4.2018. Die beiden Fälle lassen sich laut Bundesgericht nicht vergleichen: Die im ersten Fall beurteilten Bezeichnungen als Dummkopf, Drecklügner oder Krimineller erfolgten laut Bundesgericht im Rahmen politischer Auseinandersetzung und bedeuteten keine Abwertung der angegriffenen Person in menschlich-sittlicher Hinsicht. Beim Vorwurf psychischer Krankheit könne hingegen von einer sachlichen, berechtigten Kritik keine Rede sein (E. 3.2.2).

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Kommentar: Die beiden Facebook-Fälle illustrieren die oft schwierig zu erkennende Grenze zwischen gerade noch zulässiger und verbotener Wortwahl bei der Kritik an Politikern. Sie zeigen auch, dass es jeweils nicht um eine isolierte, losgelöst vom Zusammenhang vorgenommene Betrachtung der abschätzigen Formulierungen geht, sondern stets auch um den Kontext der fraglichen Werturteile.

b) Vorwürfe gegen öffentlich exponierte Personen (z.B. Geschäftsleute)
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Nicht nur Politiker setzen sich bewusst öffentlicher Beobachtung aus und müssen unerbittliche Kritik ihres Verhaltens dulden. In der Öffentlichkeit exponieren sich z.B. auch Prominente aus Sport, Showgeschäft oder dem Geschäftsleben. Der EGMR-ZulässigkeitsentscheidManuel Carlos de Melo Champalimaud c. Portugal“ (Kritisierter Millionär) N° 77494/17 vom 13.11.2018 unterstrich, dass sich erfolgreiche Wirtschaftsführer auch hinsichtlich ihres privaten Verhaltens harte Kritik gefallen lassen müssen. Der Sohn eines bekannten und wohlhabenden Portugiesen war 2014 in der Zeitung „Correio da Manha“ wegen eines handgreiflichen Streits um das Gehalt einer Hausangestellten kritisiert worden („Millionär einer Köperverletzung wegen 100 Euro beschuldigt“). Wegen harscher User-Kommentare auf dem Internetportal der Zeitung verurteilte die portugiesische Ziviljustiz den Verlag zu einer Genugtuungssumme von 10‘000 Euro. Den von der Redaktion verfassten Zeitungsbericht selber beanstandete sie jedoch nicht. Der Gerichtshof teilte einstimmig deren Auffassung, dass der Zeitungsbericht auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage beruhte und dass die Allgemeinheit von Manuel Carlos de Melo Champalimaud als bekanntem Geschäftsmann und gerade auch als Arbeitgeber ein ehrliches und integres Verhalten erwarten dürfe.

c) Kritik an der Polizei
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Einen grossen Spielraum für virulente Kritik gewährt der Gerichtshof gegenüber dem Verhalten der Polizei. Als Teil des staatlichen Sicherheitsapparats müssten Polizeibedienstete ein besonders hohes Mass an Toleranz gegenüber beleidigenden Vorwürfen zeigen, solange diese verbalen Angriffe kein unmittelbares Risiko von Gewalttaten schaffen. Zwei Fälle aus dem Berichtsjahr illustrieren dies:

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Das EGMR-Urteil „Savva Terentyev c. Russland“ (Polizisten verbrennen) N° 10692/09 vom 28.8.2018 akzeptierte massive verbale Ausfälligkeiten gegen die Polizei. Im Anschluss an eine umstrittene Polizeiaktion in den Räumen einer Lokalzeitung während des Wahlkampfs verglich Blogger Terentyev Polizisten mit Schweinen und wünschte u.a. für jede russische Stadt einen Ofen wie in Auschwitz, in dem das Volk treulose Polizisten feierlich verbrennen könnte. Die russische Strafjustiz verurteilte den Blogger wegen Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit gegen eine soziale Gruppe zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr. Der Gerichtshof war jedoch nicht davon überzeugt, dass der emotionsgeladene Blogkommentar dazu angetan war, die Polizisten in konkrete Gefahr zu bringen. Die extrem aggressive Formulierung des Bloggers war eine Reaktion auf einen von ihm vermuteten Amtsmissbrauch der Polizei und eher eine provokative Metapher als ein Aufruf zur physischen Vernichtung bestimmter Polizeibeamter. Darüber hinaus können polizeiliche Gesetzeshüter nach Auffassung des EGMR kaum als eine unterdrückte und verletzliche Minderheit bezeichnet werden, welche eines besonderen Schutzes vor hasserfüllten Angriffen bedürfte (§ 76).

29

Auch das EGMR-Urteil „Toranzo Gomez c. Spanien“ (Foltervorwurf) N° 26922/14 vom 20.11.2018 schützte die Kritik eines spanischen Aktivisten an der Polizei. Im Rahmen einer Protestaktion hatte er sich angekettet, worauf ihn die Polizei unsanft behandelte und leicht verletzte. Toranzo Gomez bezichtigte die Polizei an einer Pressekonferenz mehrfach der Folter und wurde deswegen durch die spanische Strafjustiz wegen Verleumdung zu einer Geldstrafe von 12 Monaten (Tagessätze von 10 Euro) verurteilt. Der EGMR hielt jedoch fest, der Foltervorwurf sei nicht im rechtlichen Sinne verwendet worden. Als umgangssprachliche Formulierung habe die Umschreibung der Polizeimethoden als Folter eine ausreichende Tatsachengrundlage.

d) Kritik an Justizvertretern (v.a. Richter)
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Wie die Polizei steht auch die Justiz im öffentlichen Rampenlicht. Hinsichtlich ihrer amtlichen Tätigkeit müssen sich Gerichtspersonen ebenfalls schärfere Vorwürfe gefallen lassen als Normalsterbliche. Allerdings bedarf die Justiz eines erhöhten Schutzes gegen überbordende Kritik. Dies verdeutlicht Art. 10 Abs. 2 EMRK, welcher staatliche Beschränkungen der Meinungsfreiheit zum Schutz von Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung ausdrücklich erlaubt. In ständiger Praxis betont der Gerichtshof die besondere gesellschaftliche Rolle der Justiz. Damit sie ihre Aufgabe erfüllen könne, sei sie auf das Vertrauen der Öffentlichkeit angewiesen. Es könne daher nötig sein, sie vor völlig unbegründeten Angriffen zu schützen, zumal Richter wegen ihrer Diskretionspflicht an einer wirksamen Replik auf unberechtigte Vorwürfe richterlichen Fehverhaltens gehindert sind.

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Das französische Recht schützt (gerichtliche) Magistratspersonen durch eine spezifische Rechtsnorm („outrage à magistrat“, Art. 434-24 code pénal). Im EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Demien Meslot c. Frankreich“ N° 50538/12 vom 9.1.2018 akzeptierte der Gerichtshof einstimmig eine auf diese Strafvorschrift gestützte Busse von 1‘000 Euro gegen den Politiker Meslot. An dessen Wohnsitz hatte eine Hausdurchsuchung stattgefunden, die ein erhebliches Medienecho fand. Meslot bezichtigte in der Folge den zuständigen Richter in heftiger Wortwahl eines Fehlverhaltens. Meslots irreführender Rundumschlag in eigener Sache hatte keine erkennbare tatsächliche Grundlage und tangierte laut EGMR neben der Reputation des Richters auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität des Justizapparates. Die strafrechtliche Verurteilung Meslots war in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verstiess nicht gegen Art. 10 EMRK.

32

Wie der Zulässigkeitsentscheid Meslot verwies auch das EGMR-Urteil „Ghergut c. Rumänien“ N° 30343/10 vom 24.7.2018 auf das Leiturteil der Grossen Kammer im Fall „Morice c. Frankreich“ N° 29369/10 vom 23.4.2015. Dieses erwähnt nicht nur die Wichtigkeit des Vertrauens der Bevölkerung in die Justiz. Es hält auch fest, dass richterliche Magistraten hinsichtlich ihrer beruflichen Tätigkeit grundsätzlich schärfere öffentliche Kritik hinnehmen müssen als Normalsterbliche. Der Gerichtshof bekräftigte, dass dies auch für Gerichtspersonen gilt, welche der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt sind (§ 47). Die relativ weit gezogenen Grenzen zulässiger Kritik überschritt die rumänische Journalistin Ghergut, welche einen Richter in drei Zeitungsberichten wegen seiner Rolle im Falle des bekannten Kriminellen N.C. scharf angegriffen hatte und auf Klage des kritisierten Richters wegen zivilrechtlicher Ehrverletzung verurteilt wurde.

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Neben zutreffenden Informationen enthielten die Berichte auch falsche Tatsachenbehauptungen bzw. Werturteile ohne ausreichende Tatsachengrundlage. Der EGMR bemängelte u.a. die unzutreffenden Vorwürfe, der Richter habe sich über ein Urteil des rumänischen Verfassungsgerichtshofs hinweggesetzt (tatsächlich hatte sich dieses zu einer anderen Rechtsfrage geäussert) und der Richter habe dem Kriminellen in einem Betrugsprozess einen bestimmten Geldbetrag zugesprochen (tatsächlich floss die konfiszierte Summe in die Staatskasse). Massenmedien trifft laut EGMR zwar keine Pflicht, die rechtstechnischen Einzelheiten von Gerichtsfällen präzis zu schildern. Hier aber ging es nicht um blosse technische Details, sondern um Fragen, welche den Kern der Verfahren betrafen und zum letztlich unberechtigten Vorwurf richterlichen Fehlverhaltens führten. Zwar nannte die Journalistin ihre Informationsquelle, doch vermochte dies der Pflicht zur Verifizierung ihrer Vorwürfe nicht zu genügen. Die Journalistin hätte sich rechtlich kundig machen und nötigenfalls bei Personen mit juristischem Fachwissen nachfragen müssen.

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Kommentar: Das einstimmig gefällte Urteil des Gerichtshofs illustriert, dass Medienberichte über Rechtsfälle eine anspruchsvolle Angelegenheit sind. Wer mangels rechtlicher Kenntnisse unqualifizierte Kritik an Gerichtspersonen übt, bewegt sich auf riskantem Terrain. Wörtlich hält das vom EGMR geschützte Urteil des Bezirksgerichts Bukarest fest: « Il est, certes, vrai qu’il ne saurait être exigé de l’auteur de l’article d’avoir des connaissances juridiques lui permettant de réaliser un examen du respect ou non de l’obligation d’observer une décision de la Cour constitutionnelle, mais, dans un tel cas, où les informations présentées au public dépassent l’expérience professionnelle [du journaliste], il est nécessaire que [celui-ci] procède à la vérification de l’aspect présenté, y compris en demandant des avis spécialisés en la matière. » Die Medienbranche mag solche Anforderungen als übertrieben empfinden. Es würde aber zu kurz greifen, diese Erfordernisse lediglich als Schutz des eigenen Berufsstands durch überempfindliche Gerichte abzutun. Sie dienen letztlich auch dem elementaren Anliegen, dass sich die Leserschaft aufgrund solider Grundlagen eine fundierte Meinung über die Tätigkeit der 3. Gewalt und ihrer Exponenten bilden kann. Quintessenz: Ohne solide eigene juristische Kenntnisse bzw. ausreichende Ressourcen für die Rückfrage bei Rechtssachverständigen wird verantwortungsvoller Journalismus in rechtlichen Angelegenheiten oft nicht gelingen.

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Im Rahmen des Erlaubten bewegte sich hingegen die kroatische Wochenzeitschrift Narodni List bei ihrer Kritik an einem Richter, der die Einweihungsfeier eines kontroversen Medienunternehmers trotz eines potenziellen Interessenkonflikts besucht habe und zwei Jahre vorher unberechtigterweise die Räumlichkeiten von Narodni List habe durchsuchen lassen. Die wegen Verleumdung des Richters angeordnete Pflicht zur Bezahlung von 6’870 Euro Entschädigung verstiess gemäss EGMR-Urteil „Narodni List D.D. c. Kroatien“ N° 2782/12 vom 8.11.2018 gegen die Meinungsfreiheit. Die bissig formulierte Publikation behandelte eine Frage von öffentlichem Interesse (die Funktionsweise der Justiz). Sie beruhte auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage und war trotz gewisser Übertreibungen nicht beleidigend formuliert. Es handelte sich nicht um eine grundlose persönliche Attacke.

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Zulässig war auch die Kritik eines Anwalts am aufsehenerregenden Prozess gegen einen französischen Polizisten, der 2003 einen jungen Ausländer im Zuge einer Autoverfolgungsjagd erschossen hatte und 2009 von einem Strafgericht in einer Atmosphäre sozialer Spannungen freigesprochen worden war. Gegenüber einem RTL-Journalisten verwies der Anwalt unmittelbar nach der Urteilsverkündung nicht nur auf die extrem schwache Anklage, sondern auch auf die ausschliesslich weisse Geschworenenbank. Nach dem einstimmig gefällten EGMR-Urteil „Ottan c. Frankreich“ (Weisse Geschworene) N° 41841/12 vom 19.4.2018 verstiess die disziplinarische Verwarnung des Anwalts gegen Art. 10 EMRK. Die Disziplinarbehörde habe nicht genügend berücksichtigt, dass sich der Anwalt zu einer Angelegenheit geäussert hatte, die grosse Aufmerksamkeit in den Medien genoss und an deren Erörterung das Publikum ein berechtigtes Interesse hatte. Die Bemerkung des Anwalts zeugte nicht von Animosität gegenüber einzelnen Gerichtsmitgliedern. Zwar möge der vom Anwalt hergestellte Bezug des Gerichtsurteils zur Hautfarbe der Geschworenen einen Teil der Öffentlichkeit und das Gericht kränken. Es ging aber nicht einfach um den Vorwurf rassistischer Vorurteile, sondern eher um eine allgemeine Kritik am französischen System der Zusammensetzung von Geschworenengerichten. Diese Frage sei in verschiedenen Staaten Gegenstand einer politischen und akademischen Debatte.

B. Schwerpunkt: (Journalistische) Sorgfalt bei rufschädigenden Vorwürfen

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Bei rufschädigenden Tatsachenbehauptungen stellt sich im anschliessenden Ehrverletzungsprozess häufig die Frage, ob Medienleute ihre Vorwürfe mit ausreichender Sorgfalt recherchiert und formuliert haben. Das Bundesgericht und v.a. der EGMR waren auch 2018 öfters mit dieser Frage konfrontiert.

a) Bundesgericht
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Im BGer-Urteil („Frechster Sikh“) 6B_335/2018 vom 18.12.2018 ging es u.a. um die im „Blick“ erhobenen Vorwürfe der Ausbeutung („moderne Sklaverei“) und des Menschenhandels gegen den „Big Boss“ von Filialen einer Franchisekette im Fastfood-Bereich. Die Journalisten konnten vor der Zürcher Strafjustiz den Beweis ernsthafter Recherche erbringen und sich durch den Gutglaubensbeweis (Art. 173 Ziff. 2 StGB) vom Vorwurf der Ehrverletzung entlasten. Das Bundesgericht bestätigte die Einstellung des Strafverfahrens. Die Vorinstanz habe die Informationsbeschaffung eingehend analysiert. Die wertende Aussage „frechster Sikh“ sei im Gesamtkontext vertretbar und gleichsam eine zugespitzte Zusammenfassung der ausreichend recherchierten Vorwürfe.

b) EGMR-Rechtsprechung
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Auch im Berichtsjahr bezeichnete der Gerichtshof verschiedene Beschwerden verurteilter Medienschaffender als offensichtlich unbegründet, denn sie hatten bei ihren ehrenrührigen Publikationen die erforderliche Sorgfalt vermissen lassen:

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Im EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Ivanovic + D.O.O. Daily Press c. Montenegro“ (Vorwurf gegen Ex-Premier) N° 24387/10 vom 5.6.2018 beurteilte der Gerichtshof die 2007 publizierte Kritik eines verprügelten Journalisten am früheren Premierminister Dukanovic, dem der Medienschaffende vorwarf, er habe seine „Höllenhunde“ auf ihn gehetzt. Der EGMR erinnerte daran, dass besonders gravierende Vorwürfe eine besonders solide Faktengrundlage benötigen. Vorliegend habe der Medienschaffende die nötigen Schritte zur Überprüfung seiner massiven Vorwürfe unterlassen.

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Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Tosheva c. Bulgarien“ (Vorwurf der Fehldiagnose) N° 32638/11 vom 4.12.2018 betraf die Recherche der zur Bezahlung von 5‘600 Euro Genugtuung verurteilten Chefredaktorin einer Lokalzeitung, welche eine Ärztin wegen angeblich unzutreffender Krebsdiagnose kritisiert hatte (Schlagzeile: «Ärztin erschreckt Patienten mit fataler Diagnose»). Beim vermeintlichen Tumor auf dem Röntgenbild habe es sich bloss um den Schatten eines Muttermals gehandelt. Der im bulgarischen Zivilprozess beigezogene gerichtliche Sachverständige attestierte der Ärztin ein Vorgehen gemäss den ärztlichen Berufsregeln. Der EGMR war nicht überzeugt, dass an der Erörterung dieser Angelegenheit ein erhebliches öffentliches Interesse bestand. Es gehe hier nicht um die Schilderung eines verbreiteten medizinischen Missstandes, sondern bloss um die Publikation eines Einzelfalles, welcher wenig über die Qualität der gesundheitlichen Versorgung in Bulgarien aussagte (§ 24). Deswegen mass der Gerichtshof die verlangte journalistische Sorgfalt an einem eher strengen Massstab, dem die Chefredaktorin nicht zu genügen vermochte. Der EGMR bemängelte insbesondere, dass die Journalistin die Ärztin nicht mit den Vorwürfen konfrontiert hatte (unterlassene Anhörung – audiatur et altera pars; § 26). Der EGMR bezeichnete ihre Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet.

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Einen Verstoss gegen die journalistischen Sorgfaltspflichten bejahte auch das EGMR-Urteil „Ergündogan c. Türkei“ (Opfer des Parteipräsidenten) N° 48979/10 vom 17.4.2018. Ein Zeitungbericht enthüllte das „wahre Gesicht“ des Vorsitzenden der Partei BTP. Fünf weibliche Opfer des Präsidenten behaupteten auf ihrer Website sinngemäss eine sexuelle Ausnützung. Der Zeitungsbericht druckte ihre aus dem Internet entnommenen Fotos unter voller Namensnennung ab. Der Vorsitzende und drei Frauen ergriffen juristische Schritte gegen den Journalisten, der strafrechtlich zu einer Busse (rund 1‘000 Euro) und zivilrechtlich zur Bezahlung einer Genugtuungssumme an den Vorsitzenden verurteilt wurde. Der Gerichtshof bemängelte, dass der Journalist seine Berichterstattung ausschliesslich auf die Internetpublikation gestützt hatte. Zwar habe er die Vorwürfe korrekt als Behauptungen der Betroffenen präsentiert. Dennoch hätte die Berufsethik grössere Sorgfalt geboten. Die Frauen waren im Gegensatz zum Vorsitzenden keine public figures. Mangels ihrer vorgängigen Zustimmung hätte der Journalist auf die Veröffentlichung der Bilder und Namen der Frauen verzichten müssen (§ 30). Nicht über alle Zweifel erhaben war allerdings auch das Vorgehen der türkischen Justiz, welche eine nachvollziehbare Begründung des Schuldspruchs gegen den Journalisten unterliess. Deshalb bejahte der EGMR im Ergebnis einen Verstoss gegen Art. 10 EMRK, verweigerte dem Journalisten aber die verlangte Entschädigung.

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Kommentar: Die ungefragte Weiterverbreitung öffentlich zugänglicher Online-Inhalte durch die Massenmedien ist berufsethisch problematisch. Der schweizerische Presserat hat für dieses in der Praxis nicht seltene Vorgehen eine Reihe von Kriterien aufgestellt (Natur der Website, Identität des Abgebildeten, Intention der Onlinepublikation – vgl. dazu Rudolf Mayr von Baldegg/ Dominique Strebel, Medienrecht für die Praxis, 5. Aufl., Zürich 2018, S. 213f.). Das EGMR-Urteil verdeutlicht, dass die Missachtung dieser ethischen Sorgfaltspflichten durchaus juristische Konsequenzen haben kann.

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Das EGMR-Urteil „Makraduli c. Republik Mazedonien“ (Gerüchte über Geheimdienstchef) N° 64659/11, 24133/13 vom 19.7.2018 betrifft Strafurteile gegen einen hochrangigen Oppositionspolitiker wegen Verleumdung des Geheimdienstchefs. Der Parlamentarier forderte an einer Pressekonferenz u.a. Aufklärung über den gerüchteweise kursierenden Vorwurf, wonach polizeiliche Abhöranlagen missbraucht worden seien, um Geschäfte an der Börse zu machen. Der Gerichtshof unterstrich, Äusserungen eines gewählten Parlamentariers seien „political speech par excellence“. Er habe seine Vorwürfe in Frageform formuliert und an der Pressekonferenz erklärt, es gehe um stärker werdende öffentliche Gerüchte. Die Vorwürfe seien also bereits Gegenstand öffentlicher Diskussionen gewesen. Die mazedonische Strafjustiz habe von ihm verlangt, die Wahrheit von Tatsachenbehauptungen zu beweisen, welche nicht seine eigenen waren. Dies betrachtete die 1. Kammer des EGMR als eine unvernünftige, wenn nicht unmögliche Aufgabe (§ 78). Einstimmig bejahte sie einen Verstoss gegen die Meinungsfreiheit.

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Kommentar: Ein wesentliches Begründungselement dieses Urteils ist der Umstand, dass der Parlamentarier lediglich Aufklärung über ein bereits zirkulierendes Gerücht verlangt hatte. In einem lesenswerten Sondervotum übte der polnische Richter Wojtyczek aus drei Gründen deutliche Kritik an dieser Argumentation: Erstens ist der Hinweis auf Gerüchte laut Wojtyczek eine gebräuchliche Technik, um rechtliche Risiken beim Verbreiten falscher Informationen zu minimieren. Zweitens beweise der Hinweis auf ein angebliches Gerücht nicht, dass dieses auch wirklich bereits in der Öffentlichkeit diskutiert worden sei. Und drittens verschaffen öffentlichkeitswirksam geäusserte Hinweise auf dessen Existenz einem Gerücht deutlich höhere Glaubwürdigkeit und viel grösseres Publikum. Diese Bedenken sind nachvollziehbar. Es scheint jedenfalls ratsam, die Ausführungen des Gerichtshofs zu Gerüchten in dieser spezifischen Konstellation (mündliche Ausführungen eines gewählten Politikers, der sich übrigens auf den besonderen Schutz der parlamentarischen Immunität hätte berufen können) nicht unbesehen zu verallgemeinern. Gerade Medienschaffende werden sich nicht leichthin durch den Hinweis auf kursierende Gerüchte von ihrer professionellen Aufgabe entlasten können, ihre Vorwürfe sorgfältig zu verifizieren.

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Bei erkennbar ironischen Texten akzeptierte der Gerichtshof im Ergebnis einen reduzierten Sorgfaltsmassstab für die präzise journalistische Wiedergabe von Äusserungen Dritter. Zum EGMR-Zulässigkeitsentscheid «Herman-Bischoff c. Deutschland» (Zitat zum Nationalsozialismus) N° 28482/13 vom 27.11.2018 vgl. unten I/5C/b, N 50).

C. Schwerpunkt: Ansehensschutz bei Satire, Sarkasmus, Ironie und Humor

a) Urteile des Bundesgerichts
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Im BGer-Urteil 6B_230/2018 (Pädophilie-Tweet) vom 24.11.2018 bestätigte die Strafrechtliche Abteilung den Schuldspruch wegen übler Nachrede (Art. 173 StGB) nach einem ehrverletzenden Tweet. Der Autor kommentierte im Sommer 2016 einen medienwirksamen Besuch von SVP-Nationalrat Glarner bei Flüchtlingskindern. Der Tweet hielt fest, Glarner zeige «in den Medien ungehemmt seine Pädophilie». Es frage sich, wo die Empörung seiner Parteikollegin Rickli bleibe. Vergeblich argumentierte der Autor, eine buchstabengetreue Interpretation des Tweets verfehle die bezweckte Aussage, denn es handle sich um eine satirische, witzige Überzeichnung. Das Bundesgericht konnte jedoch im Tweet keinerlei Sinngehalt erkennen, der über den diffamierenden Vorwurf der Pädophilie hinausgeht. Auch die gewählte Plattform (nicht etwa eine Satirezeitschrift, sondern ein Twitteraccount mit oft politischen Inhalten) vermöge der Äusserung keine humoristische Komponente zu verleihen. Selbst im Rahmen einer politischen Debatte (in casu zur Umsetzung der Volksinitiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen») sei der haltlose Vorwurf der Pädophilie keine erlaubte Übertreibung, sondern eine strafbare Ehrverletzung.

48

Gemäss BGer-Urteil 6B_938/2017, 6B_945/2017 (Satirische Monatszeitschrift) vom 2.7.2018 ging auch der Chefredaktor einer satirischen Publikation zumindest teilweise zu weit. Er hatte eine Nationalrätin 2013 mit einer Reihe abwertender Bezeichnungen eingedeckt und wurde durch die jurassische Strafjustiz wegen Beschimpfung (Art. 177 StGB) verurteilt. Zwar bestrafte die kantonale Vorinstanz verschiedene Formulierungen angesichts des satirischen Kontexts und der politischen Hintergründe zu Unrecht. Das Bundesgericht beanstandete bspw. die Schuldsprüche wegen impliziter Vorwürfe von Geldgier oder Geiz, die auch als allgemeine Kritik am Lobbyismus und dem politischen System verstanden werden konnten (E. 5.3.5). Grundlos verletzend waren jedoch Wortspiele, welche die Politikerin in die Nähe von Prostitution und unmoralischem Lebenswandel rückten (E. 5.3.1: „Isamoche Putteley“, „Isapucelle“, „tapineuse“). Die Schuldsprüche für diese beleidigenden Werturteile bezeichnete das Bundesgericht ausdrücklich als konform mit Art. 10 EMRK (E. 6).

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Kommentar: Die reichhaltige EGMR-Rechtsprechung zu den Grenzen der Meinungsfreiheit bei Kritik an politischer Prominenz kann der schweizerischen Justiz bei Ehrverletzungsstreitigkeiten nützliche Orientierungshilfe leisten. Das vorliegende Urteil der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts belegt dies. Es befasst sich in Erwägung 6 relativ ausführlich mit der Strassburger Judikatur. Der Gerichtshof erlaube ein rechtliches Einschreiten gegen verbale Angriffe auf Politiker oder Politikerinnen, wenn es sich eher um eine unmotivierte Schmähung der Person handle («attaque personnelle gratuite») als um einen satirischen Kommentar zu einer öffentlich interessierenden Angelegenheit. Welcher dieser beiden Aspekte bei einer bestimmten Formulierung überwiegt, ist im konkreten Streitfall oft schwierig zu beurteilen. Man mag sich darüber streiten, ob dem Bundesgericht die Einordnung im Fall der satirischen Monatszeitschrift überzeugend geglückt ist oder ob es einzelne Worte zu sehr auf die Goldwaage gelegt hat. Sichtbar ist jedenfalls das Bemühen des Gerichts, zugespitzte (bzw. bewusst überspitzte) Formulierungen nicht isoliert zu beurteilen, sondern sie in den Kontext zu stellen.

b)  Rechtsprechung des EGMR
50

Im EGMR-Zulässigkeitsentscheid «Herman-Bischoff c. Deutschland» (Zitat zum Nationalsozialismus) N° 28482/13 vom 27.11.2018 wies der Gerichtshof die Beschwerde einer früheren Fernsehmoderatorin einstimmig als offensichtlich unbegründet zurück. Sie hatte 2007 an einer Pressekonferenz über ein von ihr verfasstes Buch unter anderem festgehalten: „Wir müssen vor allem das Bild der Mutter in Deutschland auch wieder wertschätzen, das leider ja mit dem Nationalsozialismus und der darauf folgenden 68er Bewegung abgeschafft wurde. Mit den 68ern wurde damals praktisch alles das – alles was wir an Werten hatten – […] – das wurde abgeschafft.“ Das Hamburger Abendblatt unterstellte der Moderatorin, dass sie im Nationalsozialismus auch gute Seiten erblicke. Hermann-Bischoff sah sich falsch zitiert und reichte vergeblich eine Zivilklage ein. Der EGMR hielt fest, dass die Moderatorin im Rahmen des Meinungskampfes mit solcher Kritik rechnen musste. Er vermochte im Zeitungsbericht keinen wesentlichen Inhalt zu erspähen, der nicht auch an der Pressekonferenz vorgekommen wäre. Darüber hinaus anerkenne die Gerichtspraxis einen Freiraum für Satire. Die ironische Natur des Zeitungsberichts war laut EGMR für die Leserschaft leicht erkennbar. Die Exaktheit des Zitats war deshalb weniger wichtig als bei einer rein sachbezogenen Information (§ 39).

51

Kommentar: Der Zulässigkeitsentscheid zeigt, dass die Anforderungen an die journalistische Sorgfalt bei erkennbar satirischen bzw. ironischen Publikationen reduziert sind. Auffallend ist, dass der EGMR die Stilmittel Satire und Ironie in seiner Entscheidbegründung nicht differenziert. Im Gegensatz dazu hat die bundesgerichtliche Rechtsprechung in den vergangenen Jahren mit erheblichem Argumentationsaufwand die drei begriffsnotwendigen Elemente von Satire herausgearbeitet.

D.  Schutz privater Interessen bei Vorwürfen strafbaren Verhaltens

a)  Unschuldsvermutung, Ansehensschutz und Recht auf einen fairen Prozess
52

Im EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Kurt c. Türkei“ (Bruch des Untersuchungsgeheimnisses) N° 9763/12 vom 18.9.2018 akzeptierte der Gerichtshof die Bestrafung eines Journalisten, der aus Untersuchungsakten zitiert hatte und damit neben dem ordnungsgemässen Verfahrensverlauf auch die Reputation und weitere Rechte der Verfahrensbeteiligten beeinträchtigte; vgl. dazu hinten I/6A, N 60.

b) Berichterstattung nach abgeschlossenen Strafverfahren
53

Keine nennenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.

E. Schutz der geschäftlichen Reputation von Marktteilnehmern

54

Im Berichtsjahr gab es dazu keine erwähnenswerten Entscheide.

F.  Schutz der Privatsphäre vor Blossstellung (z.B. durch Abbildung)

a) Recht am eigenen Bild
55

Für den Schutz des Privatlebens (Art. 8 EMRK) hat das Recht am eigenen Bild einen ganz besonderen Stellenwert, denn Fotografien können sehr persönliche und gar intime Informationen transportieren. Daran erinnerte der Gerichtshof bspw. im EGMR-Zulässigkeitsentscheid «Bild GmbH & Co KG und Axel Springer AG c. Deutschland» (Foto im Gefängnishof) N° 62721/13 und 62741/13 vom 4.12.2018, § 28. Einstimmig akzeptierte der EGMR das Vorgehen der deutschen Ziviljustiz gegen die Zeitung „Bild“, welche im Juli 2010 ein heimlich aufgenommenes Bild von Wettermoderator Jörg Kachelmann im Gefängnishof mit entblösstem Oberkörper umgeben von Mitgefangenen publiziert hatte (Kachelmann wurde einige Tage später aus der Untersuchungshaft entlassen und 2011 vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen). Die Fotografie illustrierte einen Beitrag mit der Schlagzeile: „Statt Aktionärs-Versammlung hinter Gittern – Hier sonnt sich Kachelmann im Knast“. Auf Klage Kachelmanns untersagte das Kölner Landgericht im Dezember 2010 jede weitere Veröffentlichung oder Verbreitung des von „Bild“ in ihrer Printausgabe und auf ihrer Website publizierten Fotos.

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Die 5. Kammer des Gerichtshofs bezeichnete eine Beschwerde der Zeitung einstimmig als offensichtlich unbegründet. Das dreiköpfige Gericht überprüfte den Fall anhand der üblichen Kriterien für journalistische Eingriffe ins Privatleben. Eine zentrale Rolle spielte der Umstand, dass die Aufnahme an einem Ort entstand, der grundsätzlich nicht öffentlich zugänglich ist und an dem Kachelmann selbst als prominente Person keinerlei Grund hatte, mit einer Fotografie zu rechnen. Weniger überzeugt war der EGMR vom Argument der deutschen Justiz, die publizierte Fotografie mit dem halbnackten Moderator dokumentiere keine neue Tatsache, sondern beschreibe bloss bereits bekannte Umstände und habe keinen inneren Zusammenhang zum Text des Zeitungsartikels. Solche Aspekte sind nach der Strassburger Rechtsprechung nicht ausschlaggebend. Grundsätzlich seien Journalisten frei, einen Textbeitrag bildlich zu illustrieren. Dies gelte jedenfalls, wenn der Bezug der Fotografie zum Artikel nicht dünn, gekünstelt oder willkürlich sei (§ 34). Gesamthaft sah der Gerichtshof keinen ernsthaften Grund, die ordnungsgemässe Abwägung der deutschen Gerichte zu korrigieren und gegen die bescheidene Sanktion einzuschreiten.

b) Einsatz der versteckten Kamera bei public figures
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Das EGMR-Urteil «Alpha Doryforiki Tileorasi Anonymi Etairia c. Griechenland» (Heimliche Kamera in der Spielhalle) N° 72562/10 vom 22.2.2018 betrifft versteckte Aufnahmen eines Parlamentariers, die der griechische Fernsehsender ALPHA 2002 ausgestrahlt hatte. Das erste Video zeigte den Parlamentarier, der damals als Vorsitzender des Parlamentsausschusses für elektronische Glücksspiele amtete, beim Betreten einer Spielhalle und dem Spielen an zwei Slot-Maschinen. Das zweite Video zeigte ein Treffen zwischen dem Parlamentarier und Mitarbeitern des Moderators im Fernsehstudio, die ihm das erste Video vorspielten. Im dritten Video war ein Treffen zwischen dem Parlamentarier und dem Moderator in dessen Büro zu sehen. Wegen der Ausstrahlung der drei heimlich gefilmten Videos sanktionierte der nationale Hörfunk- und Fernsehrat (NRTC) die Veranstalter des Fernsehprogramms ALPHA mit einer Geldsumme von insgesamt 200‘000 Euro. Das Rechtsmittel des Veranstalters an den Verwaltungsgerichtshof blieb erfolglos.

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Der Gerichtshof hielt in seinem einstimmigen Urteil fest, dass der Einsatz der versteckten Kamera im griechischen Recht nicht absolut verboten, sondern unter strengen Voraussetzungen zulässig ist. Die Berichterstattung von ALPHA habe eine Angelegenheit öffentlichen Interesses betroffen. Wichtig sei aber auch das Verhalten der Fernsehmitarbeitenden (§ 62): Das erste Video war an einem öffentlichen Ort gefilmt worden, an dem der Politiker als public figure mit einer Beobachtung seines Verhaltens rechnen musste. Die Sanktion gegen den Fernsehveranstalter verstiess deshalb gegen Art. 10 EMRK. Anderes galt für die beiden anderen heimlich gefilmten Videos, die in privaten Räumen entstanden. Die Journalisten handelten hier nicht in gutem Glauben und versuchten, den Politiker unter Druck zu setzen. Das Einschreiten der griechischen Behörde gegen diese beiden Aufnahmen war konventionskonform.

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Kommentar: Dies ist das dritte richtungsweisende Strassburger Urteil zum Einsatz der versteckten Kamera. Erstmals befasste sich der EGMR am 24.2.2015 in seinem Urteil „Haldimann u.a. c. Schweiz“ (Kassensturz) N° 21830/09 mit dieser praktisch wichtigen journalistischen Arbeitstechnik. Er akzeptierte deren Einsatz für eine anonymisierte Berichterstattung, die primär auf die kritisierte Versicherungsbranche zielte und weniger auf den einzelnen Berater (medialex Jahrbuch 2015, S. 61ff.). Am 13.10.2015 zog der Gerichtshof im Urteil “Bremner c. Türkei“ N° 37428/06 der versteckten Kamera eine deutliche Grenze, wenn sie vorher unbekannte Personen der öffentlichen Entblössung preisgibt (in casu einen der türkischen Bevölkerung nicht bekannten australischen Auslandkorrespondenten, der in der Türkei das Christentum propagierte). Der EGMR mahnte zur Zurückhaltung und zur Beachtung der Berufsethik, denn der Einsatz heimlicher Aufnahmen müsse ultima ratio („outil de dernier ressort“) bleiben. In Betracht komme diese Methode, falls allgemein interessierende Informationen sonst schwierig erhältlich wären. In seinem Urteil „Alpha c. Griechenland“ befasst sich der Gerichtshof nun erstmals mit versteckten Aufnahmen prominenter Personen (public figures). Es zeigt sich, dass der Gerichtshof eine differenzierte Sichtweise wählt. Er macht die Benutzung dieses problematischen Arbeitsinstruments bei Themen von erheblichem öffentlichem Interesse (wie dem Geldspiel eines für dessen Regelung mitverantwortlichen Politikers und seiner fragwürdigen Reaktion auf dessen Überführung) nicht zuletzt vom Verhalten der Fernsehmitarbeitenden abhängig. Der Ort der versteckten Aufnahme und die Art der beobachteten Tätigkeiten spielen dabei eine wesentliche Rolle. Aufgezeichnete Beobachtungen ohnehin stattfindender Vorgänge in öffentlich zugänglichen Lokalitäten (wo Prominente höchstens beschränkt auf Privatheit vertrauen dürfen) sind etwas anderes als von den Medienleuten inszenierte Situationen, in denen die Prominenten faktisch in eine Falle gelockt werden.

6. Primärer Eingriffszweck: Schutz von Interessen der Allgemeinheit

A.  Notwendigkeit von Eingriffen zum Schutz staatlicher Geheimnisse

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Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Kurt c. Türkei“ (Bruch des Untersuchungsgeheimnisses) N° 9763/12 vom 18.9.2018 betraf zwei Artikel der Tageszeitung „Hürriyet“ über eine strafrechtliche Untersuchung, die im Anschluss an die Strafklage eines hochrangigen Beamten gegen dessen Ex-Freundin eröffnet worden war. Die Zeitung warf dem Manager eines städtischen Betriebs vor, er habe seiner früheren Lebensgefährtin verschiedene Wohnungen angeboten. Seine Kritik untermauerte der Journalist durch Ausschnitte aus geheimen Aussageprotokollen. Wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Untersuchungsverfahrens verurteilte ihn die türkische Strafjustiz zu einer bedingten Freiheitsstrafe von rund 19 Monaten. Der Journalist argumentierte in Strassburg vergeblich, er habe nicht über eine Privatsache berichtet, sondern einen Korruptionsverdacht thematisiert. Die 2. Kammer des EGMR beurteilte den Schuldspruch einstimmig als gesetzeskonform, legitimen Zielen (Schutz einer wirksamen Strafuntersuchung und der Autorität der Justiz, aber auch der Rechte des Beschuldigten) dienend und auch als verhältnismässig. Es lasse sich nicht sagen, die Rechtsanwendung der türkischen Justiz sei unvereinbar mit den Beurteilungskriterien der Strassburger Rechtsprechung (wie sie der Gerichtshof 2016 im Fall „Bédat c. Schweiz“ aufgestellt hatte.) Der Gerichtshof wies die Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet zurück.

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Kommentar: Prima vista scheint dieser Zulässigkeitsentscheid auf der Linie des Urteils der Grossen EGMR-Kammer im Fall „Bédat c. Schweiz“ (Inhaftierter Automobilist) N° 56925/08 vom 29.5.2016 zu liegen, welches in der Begründung des Falls „Kurt c. Türkei“ denn auch erwähnt wird. Danach dienen Strafen für die Verletzung des Untersuchungsgeheimnisses nicht nur dem guten Funktionieren der Strafjustiz, sondern auch dem Anspruch des Beschuldigten auf einen fairen Prozess und auf Achtung seines Privatlebens (Fall Bédat, § 81). Allerdings enthält die extrem knapp geratene Entscheidbegründung keine Güterabwägung, welche diesen Namen verdienen würde. Sie begnügt sich letztlich mit dem Hinweis, die nationalen Gerichte könnten die Angelegenheit besser beurteilen als der EGMR und sie hätten den ihnen eingeräumten Beurteilungsspielraum nicht gesprengt. Die Begründung wirkt denk- und schreibfaul. Die oberflächliche Beurteilung des EGMR erstaunt umso mehr, als die Sanktion im türkischen Fall ungleich schärfer war als im Leiturteil Bédat: Während die schweizerische Justiz den Journalisten Arnaud Bédat lediglich mit einer Busse im Betrag von 4‘000 Franken bestraft hatte, lautete das Urteil der türkischen Justiz gegen Nurettin Kurt auf eine bedingt zu vollziehende Freiheitsstrafe von 18 Monaten und 22 Tagen. Hinsichtlich dieser auffällig harten Sanktion belässt es der EGMR bei der lapidaren Feststellung, der Einsatz strafrechtlicher Mittel sei als Reaktion auf eine solche Geheimnisverletzung nicht unverhältnismässig. Offen bleibt damit die Frage, ob der Gerichtshof in einer ähnlichen Konstellation selbst eine mehrjährige unbedingte Freiheitsstrafe akzeptieren würde.

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Das EGMR-Urteil „Girleanu c. Rumänien“ N° 50376/09 (Dokumente zum Afghanistan-Einsatz) vom 26.6.2018 betraf einen Journalisten, dem ein Datenträger mit geheimen Informationen zum Afghanistan-Einsatz des rumänischen Militärs zugespielt worden war. Noch vor einer Publikation wurde er festgenommen, sein Telefon wurde überwacht und die Festplatte seines Computers wurde beschlagnahmt. Letztlich bestrafte ihn die rumänische Strafjustiz mit einer Busse von 240 Euro. Der Gerichtshof bejahte einstimmig einen Verstoss gegen Art. 10 EMRK. Für die Beurteilung der Notwendigkeit stützte sich der EGMR auf die im Leiturteil „Stoll c. Schweiz“ N° 69698/01 vom 10.12.2007 entwickelten Abwägungskriterien. Journalist Girleanu habe sich die Informationen nicht mit unrechtmässigen Mitteln beschafft. Grundsätzlich liege es in der Verantwortung des Staates, Geheimdienste und Streitkräfte so zu organisieren sowie das Personal so auszubilden, dass keine vertraulichen Informationen nach aussen gelangen. Darüber hinaus hätte eine allfällige Veröffentlichung der veralteten Informationen zu keiner Gefährdung der nationalen Sicherheit geführt.

B. Aufrufe zu Diskriminierung, Intoleranz, Hass und Gewalt

a) Bundesgericht
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Nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt war laut BGer-Urteil 6B_620/2018 (Pauschalherabsetzung von Muslims) vom 9. 10. 2018 die islamfeindliche Polemik einer politischen Partei. Sie hatte im Anschluss an einen isolierten Vorfall 2011 auf ihrer Internetseite Muslime wegen ihrer Religion als rückständig und minderwertig dargestellt: „Warum scheissen Muslime auf die Altäre und urinieren in Taufbecken? Warum vergewaltigen muslimische Drittklässler Kindergartenmädchen auf dem Schulweg? Die Sache ist ganz einfach und liegt im Koran, dem heiligen Lehrbuch aller Muslime.“ In einem anderen Text wurden männliche Muslime pauschal bezichtigt, die sexuelle Integrität von Frauen zu missachten. Diese Vorwürfe setzten Muslims in ihrer Würde als gleichwertige Menschen herab (Art. 261bis Abs. 4 StGB) und rechtfertigten einen Schuldspruch wegen Rassendiskriminierung gegen den zumindest mitverantwortlichen Kantonalpräsidenten der Partei.

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Das BGer-Urteil 6B_267/2018 („muzz“ verbrennen) vom 17. 5. 2018 bestätigte den Schuldspruch der Waadtländer Strafjustiz nach einem Eintrag auf Facebook. Im Anschluss an den Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo hatte der Verfasser eines französischsprachigen Eintrags angekündigt, er organisiere nun eine Kristallnacht zwecks Verbrennung von „muzz“. Nach einer ersten Rückweisung an die kantonale Vorinstanz (BGE 143 IV 380) teilte das Bundesgericht im zweiten Umgang die Ansicht der Waadtländer Strafjustiz, die schwierig auszulegende Bezeichnung „muzz“ beziehe sich nicht nur auf islamistische Terroristen, sondern erfasse die gesamte muslimische Gemeinschaft (und damit eine «Religion» im Sinne von Art. 261bis Abs. 1 StGB).

65

Im Rahmen des Erlaubten bewegte sich hingegen 2016 der «Blick», als er einen wegen des Umgangs mit dem Personal kritisierten Geschäftsmann als «frechster Sikh der Schweiz» titulierte. Laut BGer-Urteil („Frechster Sikh“) 6B_335/2018 vom 18.12.2018 E. 3 ist die sachfremde Verbindung der Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe mit dem Gegenstand der Berichterstattung zwar problematisch, denn sie könnte Ressentiments gegen die betroffene Gruppe hervorrufen oder verstärken. Nach Art. 261bis StGB verboten wäre eine solche Berichterstattung aber nur, wenn sie die angegriffene Person in ihrer Eigenschaft als Angehöriger der Sikhs abwerten würde. Unbefangene Durchschnittsleser mussten das angebliche Fehlverhalten eines einzelnen Sikhs laut Bundesgericht nicht gleichsam als typische Eigenschaft der Bevölkerungsgruppe verstehen. Es lag daher keine strafbare Rassendiskriminierung (Art. 261bis StGB) vor.

66

Kommentar: Dieses Urteil des Bundesgerichts illustriert, dass nicht jede gesellschaftlich unerwünschte (und medienethisch fragwürdige) Formulierung eine strafrechtliche Beschränkung der Medienfreiheit nach sich zieht.

b) EGMR
67

Auch der EGMR hatte sich im Berichtsjahr öfters mit der Frage zu befassen, ob bestimmte Publikationen im fraglichen Kontext zu Diskriminierung, Intoleranz, Hass oder Gewalt aufriefen.

68

Dies galt etwa für zum Hass gegen Serben aufstachelnde Äusserungen in einem Internet-Forum. Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid “Abedin Smajic c. Bosnien-Herzegowina” (Hass gegen Serben) N° 48657/16 vom 16.1.2018 stufte die wegen Verletzung der Meinungsfreiheit eingereichte Beschwerde als offensichtlich unbegründet ein. Der Gerichtshof gab zu bedenken, dass die höchst beleidigenden Formulierungen die äusserst heiklen ethnischen Beziehungen in Nachkriegs-Bosnien berührten. Die verhängten Sanktionen (bedingte Freiheitsstrafe sowie Beschlagnahme des Computers) seien nicht unverhältnismässig.

69

Das EGMR-Urteil „Stomakhin c. Russland“ N° 52273/07 (Newsletter zu Tschetschenien) vom 9.5.2018 betraf den Herausgeber eines Newsletters über den Krieg in Tschetschenien, der wegen Verherrlichung des Terrorismus und Aufruf zu Hass zu einer fünfjährigen Haftstrafe und einem Verbot journalistischer Tätigkeit für drei Jahre verurteilt worden war. Nach Auffassung des EGMR waren nicht alle Beiträge unzulässig. Eine enge Auslegung von «hate speech»-Verboten sei zentral, damit nicht unter dem Deckmantel der Hassbekämpfung legitime Kritik an der Regierung oder ihrer Politik unterdrückt werde. Darüber hinaus war die verhängte langjährige unbedingte Haftstrafe unverhältnismässig. Der EGMR stellte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest und verurteilte Russland mit 4:3 Stimmen dazu, Stomakhin eine Entschädigungssumme von 12‘500 Euro zu bezahlen.

70

Einen Verstoss gegen die Meinungsfreiheit bejahte der EGMR auch bei islamischen Büchern, welche die russische Justiz als extremistische Literatur bezeichnete, weshalb sie deren Publikation und Verbreitung verbot. Im EGMR-Urteil „Ibragim Ibragimov u.a. c. Russland” (Verbot islamischer Bücher) N° 1413/08, 28621/11 vom 28.8.2018 liess sich der Gerichtshof vom Argument der russischen Behörden nicht überzeugen, die in rund 50 Sprachen übersetzten Bücher des Theologen Said Nursi behaupteten eine religiöse Überlegenheit des Islam und könnten ernsthafte religiöse Konflikte mit unabsehbaren Folgen provozieren. Der EGMR räumte ein, dass die Behauptungen Nursis bestimmte Individuen oder Gruppen beleidigen konnten. Dies mache die Bücher aber noch nicht zu „hate speech“. Im massgebenden Zusammenhang handelte es sich nicht um eine Förderung von Gewalt, Hass oder Intoleranz. Nicht-Muslims wurden weder verleumdet noch lächerlich gemacht. Es gab auch keine Anzeichen dafür, dass Nursis Publikationen dazu angetan waren, zu öffentlichem Aufruhr zu führen (§ 114ff.).

C. Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung von Völkermord

a) Bundesgericht
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Besonders anspruchsvoll ist die Anwendung von Art. 261bis Abs. 4 in fine StGB. Diese Strafnorm verbietet die Leugnung, gröbliche Verharmlosung oder Rechtfertigung von Völkermord aus diskriminierenden Motiven. Das Bundesgericht orientiert sich für die Grenzziehung immer stärker an der Strassburger Rechtsprechung:

72

In BGE 145 IV 23 (Srebrenica) war die Bestrafung eines Verfassers von Print- und Onlinepublikation zu beurteilen, der den Genozid an den bosnischen Muslimen in Srebrenica bestritten hatte („Srebrenica, come sono andate [veramente] les cose“). Den Schuldspruch nach Art. 261bis Abs. 4 StGB überprüfte das Bundesgericht nicht allein anhand strafrechtlicher Dogmatik. Für den Ausgang des Rechtsstreits zentraler war die Beurteilung im Lichte der Abwägungskriterien, welche die Grosse Kammer des EGMR im Fall „Perinçek c. Schweiz“ N° 27510/08 vom 15.10.2015 (konventionswidrige Bestrafung wegen Leugnung des Völkermords an den Armeniern) aufgestellt hatte: Die Strafrechtliche Abteilung prüfte den Schuldspruch der Tessiner Strafjustiz systematisch und minutiös auf seine Vereinbarkeit mit Art. 10 EMRK.

73

Das Bundesgericht kam zum Schluss, die Beschränkung der Meinungsfreiheit sei in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig (Art. 10 Abs. 2 EMRK). Wesentlich war laut der ausführlichen Begründung (E. 5) insbesondere, dass der Autor weder zu Gewalt oder Hass aufrief noch Vorwürfe gegen die bosnischen Muslime erhob. Seine Behauptungen erschienen auch nicht in einem brisanten zeitlichen, geschichtlichen oder geografischen Kontext. Zwar beleidigten die respektlosen Kommentare das Andenken an die Opfer. Sie tangierten die Würde bosnischer Muslime aber nicht in strafbarem Mass. Wichtig war auch, dass es sich um Aussagen zu einem allgemein interessierenden Thema handelte, welche die Strassburger Rechtsprechung ausgeprägt schützt. Dieser erhöhte Schutz gilt laut Bundesgericht auch, wenn der Autor weder Jurist noch Historiker ist. Das Recht auf grosszügig geschützte Äusserungen dürfe nicht einem beschränkten Personenkreis (bspw. Akademikern) vorbehalten bleiben.

74

Ebenfalls auf das Strassburger Perinçek-Urteil berief sich später ein Autor, der in seinen antisemitischen Publikationen unter anderem den Holocaust bagatellisierte und den verurteilten Gaskammerleugner Robert Faurisson unterstützte. Das BGer-Urteil 6B_350/2019 (Gaskammerleugnung) vom 29.5.2019 bestätigte jedoch den Schuldspruch der Waadtländer Strafjustiz. Auch hier spielten menschenrechtliche Aspekte eine wesentliche Rolle. In Erwägung 2 rekapitulierte das Bundesgericht die Strassburger Rechtsprechung zur Leugnung des Holocaust. Es erwähnte insbesondere den EGMR-Zulässigkeitsentscheid „M’Bala M’Bala c. Frankreich“ N° 25239/13 vom 20.10.2015. Der Komiker Dieudonné hatte Robert Faurisson eine humoristisch bemäntelte Plattform für seine negationistischen Thesen geboten und wurde deswegen bestraft, was der EGMR unterstützte. Für das Bundesgericht liegt der Waadtländer Fall auf der gleichen Linie. Es verneinte, dass sich der Autor auf dem Terrain seriöser wissenschaftlicher Recherchen oder hassfreien politischen Diskurses bewegt hatte. Unter dem Deckmantel einer behaupteten Wahrheitssuche habe er die Nachkommen der Holocaustopfer der Geschichtsklitterung beschuldigt und damit zum Hass gegen die Juden aufgerufen.

75

Kommentar: Die beiden Urteilsbegründungen verdeutlichen den hohen Stellenwert, den die Strassburger Rechtsprechung zumindest teilweise für die Anwendung kommunikationsbeschränkender Gesetzesbestimmungen im StGB einnimmt. Für die anspruchsvolle Anwendung von Art. 261bis StGB stellt das Bundesgericht mittlerweile besonders stark auf die vom EGMR entwickelten Beurteilungskriterien ab. In anderen Bereichen (z.B. im zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz) besteht diesbezüglich noch Steigerungspotenzial.

b) EGMR
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Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Nix c. Deutschland“ (Hakenkreuz) N° 35285/16 vom 13.3.2018 bestätigte die Verurteilung eines deutschen Bloggers wegen Verwendung staatsfeindlicher Symbole in einem Beitrag, der Kritik an einem Jobcenter übte („Das Jobcenter will in rassistischer und diskriminierender Weise meine Tochter in einen Billiglohnjob verfrachten“). Weil der Blogger seinen Text mit einem Foto von Heinrich Himmler in Uniform samt Hakenkreuzarmbinde illustriert hatte, wurde er zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt. Der EGMR wies seine Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet zurück. Er bejahte die besondere moralische Verantwortung jener Staaten, welche den Horror der Nazis erlebt hatten, sich von deren Gräueltaten zu distanzieren. Aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen sei der Gebrauch von Nazi-Symbolen in Deutschland tabu. Dass der Blogger keine totalitäre Propaganda im Schilde führte, vermochte ihm nicht zu helfen.

D.  Massnahmen zum Schutz von Sittlichkeit und Moral

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Anhand hoheitlicher Kommunikation befasste sich BGE 144 II 233 (Informationskampagne «LOVE LIFE») mit den Grenzen, die das strafrechtliche Verbot der Pornographie (Art. 197 StGB) gerade zum Schutz von Kindern und Jugendlichen errichtet. Das Bundesgericht äusserte sich zur staatlichen Informationskampagne «LOVE LIFE – bereue nichts» (u.a. mit TV-Spot und Plakaten), welche von bestimmten Eltern als pornographisch empfunden wurde. Laut Bundesgericht setzt Pornographie zweierlei voraus: Zum einen muss die Darstellung objektiv darauf ausgelegt sein, den Konsumenten sexuell aufzureizen. Zum anderen muss die gezeigte Person als blosses Sexualobjekt erscheinen, über das nach Belieben verfügt werden kann. Erlaubt seien hingegen erotische oder „sexualisierte“ Darstellungen, welche gerade durch die Werbebranche oft verwendet werden. Kinder und Jugendliche seien damit unausweichlich konfrontiert. Die Informationskampagne des Bundesamts für Gesundheit über verantwortungsvolles Sexualverhalten unterscheide sich von pornographischen Darstellungen. Bei entsprechender Erziehung könnten Jugendliche die Bilder und die damit vermuteten sexuellen Handlungen korrekt erkennen und einordnen, wozu sie angesichts verbreiteter sexualisierter Darstellung im öffentlichen Raum ohnehin befähigt sein müssten. Das Bundesgericht vermochte in der Kampagne keine Inhalte zu erkennen, vor denen Kinder und Jugendliche nach Art. 11 Abs. 1 BV zu schützen wären (E. 8.2).

E.  Schutz des religiösen Friedens und religiöser Empfindungen

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Im EGMR-Urteil „E.S. c. Österreich“ (Pädophile Tendenzen von Mohammed) N° 38540/12 vom 25.10.2018 akzeptierte der Gerichtshof einstimmig einen Schuldspruch wegen Herabwürdigung religiöser Lehren. An einem Vortrag zum Thema „Grundlagen des Islam“ hatte die Rednerin E.S. dem Propheten Mohammed Pädophilie unterstellt, ohne ihre Zuhörerschaft in neutraler Weise über den historischen Hintergrund zu orientieren. § 188 des österreichischen Strafgesetzbuchs untersagt laut EGMR nicht jede Äusserung, die sich zur Verletzung religiöser Gefühle eignet oder Blasphemie bedeutet. Strafbar sind nur Äusserungen, die geeignet sind, berechtigtes Ärgernis zu erregen. Damit ziele diese Strafnorm auf den Schutz des religiösen Friedens und der Toleranz ab. Die österreichische Justiz haben den Kontext der Äusserungen umfassend beurteilt und die Meinungsfreiheit der Rednerin sorgfältig gegen den Schutz der religiösen Gefühle und die Bewahrung des religiösen Friedens in Österreich abgewogen.

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Ebenfalls auf den Schutz der Rechte gläubiger Menschen berief sich Russland bei der Bestrafung von drei Mitgliedern der feministischen Punkband Pussy Riot, welche 2012 in einer Moskauer Kathedrale einen Protestsong aufgeführt hatten und deswegen zu Freiheitsstrafen von 23 Monaten Dauer verurteilt wurden. Im EGMR-Urteil „Mariya Alekhina u.a. c. Russland“ (Pussy Riot) N° 38004/12 vom 17.7.2018 hielt der Gerichtshof fest, der Auftritt lasse sich als Verletzung akzeptierter Verhaltensregeln an einem für Gottesdienste bestimmten Ort bezeichnen. Von einem Aufruf zu religiösem Hass könne allerdings nicht die Rede sein. Zum Schutz Gläubiger möge der unangemessene Auftritt von Pussy Riot gewisse Sanktionen rechtfertigen. Die (drakonische) Verurteilung zu Freiheitsstrafen von fast zwei Jahren Dauer schoss aber klar übers Ziel hinaus und beschränkte die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) übermässig.

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Nicht notwendig waren auch die Massnahmen gegen eine provokative Kleiderwerbung, welche auf Jesus und Maria anspielte. Das EGMR-Urteil „Sekmadienis Ltd c. Litauen“ („Jesus, was für Hosen!“) N° 69317/14 vom 30.1.2018 hielt fest, die litauische Justiz habe dem Schutz der Gefühle gläubiger Menschen absoluten Vorrang eingeräumt, ohne das Äusserungsrecht des sanktionierten Unternehmens ausreichend zu gewichten. Die Werbekampagne sei offenkundig weder grundlos beleidigend gewesen, noch habe sie religiösen Hass geschürt, noch habe sie religiöse Überzeugungen in unangemessener oder missbräuchlicher Art und Weise angegriffen. Selbst wenn eine Mehrheit von Litauens Bevölkerung diese Werbekampagne als anstössig empfinden möge, wäre dies kein Grund für ein staatliches Einschreiten. Es wäre mit den Werten der EMRK unvereinbar, wenn nur Mehrheitsmeinungen erlaubt wären.

F.  Weitere Vorschriften zum Schutz allgemeiner Interessen

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Im BGer-Urteil 6B_604/2017 (Wahlfälschung) vom 18. 4. 2018 befasste sich das Bundesgericht mit der Verurteilung eines Westschweizer Fernsehjournalisten wegen Wahlfälschung (Art. 282 StGB). Der Medienschaffende hatte die Unterlagen für eine eidgenössische Abstimmung doppelt erhalten (zunächst als Auslandschweizer, dann als Neuzuzüger in Genf) und stimmte zweimal elektronisch ab. Damit wollte er eine Schwachstelle im Informatiksystem offenlegen. Wenige Stunden nach der doppelten Stimmabgabe konfrontierte der Journalist die Genfer Staatskanzlei mit seinen Erfahrungen. Das Bundesstrafgericht verurteilte ihn zu einer Geldstrafe, doch das Bundesgericht hiess seine Beschwerde gut. Der Journalist habe mit seinem Vorgehen nicht bezweckt, das Ergebnis der Abstimmung zu fälschen. Da kein tatbestandsmässiges Verhalten vorlag, brauchte das Bundesgericht die (von der Vorinstanz verworfene) Behauptung des Journalisten gar nicht erst zu prüfen, die Medienfreiheit vermöge in seinem Fall einen Rechtsbruch zu rechtfertigen.

7. Notwendigkeit von Eingriffen wegen Straftaten bei der Recherche

A.  Bundesgericht: Wahrung berechtigter Interessen

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Im Vorfeld einer Publikation werden mitunter Straftatbestände verletzt, sei es durch die recherchierenden Medienschaffenden, sei es durch ihre Informanten. In Ausnahmefällen bleibt solches Verhalten straffrei, weil es der Wahrung berechtigter Interessen dient. Das BGer-Urteil 6B_200/2018, 6B_210/2018 (Whistleblower im Fall Hildebrand) vom 8.8.2018 illustriert, dass das Bundesgericht diesen übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund nur zurückhaltend gewährt. Ein wegen Verletzung des Bank- und Geschäftsgeheimnisses (Bekanntgabe des privaten Devisenkaufs von Nationalbankpräsident Hildebrand) verurteilter Bankmitarbeiter berief sich vergeblich auf die „gewohnheitsrechtliche Whistleblowing-Rechtsprechung“. Das Bundesgericht bestätigte seine bisherige Praxis und unterstrich, der Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen komme nur zum Tragen, wenn die Straftat den einzigen Weg zur Lösung des Interessenkonflikts darstellte. Dass die Verletzung der Geheimnispflicht deutlich leichter wiege als das Interesse der Öffentlichkeit an den Transkationen des Nationalbankpräsidenten, vermöge nicht zu genügen. Der Bankfachmann hätte zunächst die Aufsichtsbehörden orientieren müssen und nicht einen befreundeten Kantonsrat (E. 3).

B.  EGMR-Rechtsprechung

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Im EGMR-Zulässigkeitsentscheid «Endy Gesina-Torres c. Polen» (Verdeckte Recherche in Flüchtlingslager) N° 11915/15 vom 15.3.2018 beurteilte der Gerichtshof eine verdeckte Recherche eines Fernsehjournalisten. Für eine Dokumentation über die bedenklichen Zustände in einem polnischen Internierungslager für Flüchtlinge liess er sich 2013 unter fiktivem Namen an der Grenze festnehmen und unterzeichnete Dokumente mit diesem falschen Namen. Aufgrund eines Gerichtsbeschlusses wurde er in ein geschlossenes Lager für Ausländer gebracht, wo er drei Wochen lebte und Aufzeichnungen mit dem in seiner Uhr versteckten Gerät anfertigte. Die polnische Strafjustiz verurteilte ihn wegen Urkundenfälschung, Falschaussage und Behinderung der Rechtspflege zu einer Geldstrafe von 2‘000 polnischen Zloty.

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Der EGMR hielt fest, als Journalist habe Gesina-Torres gewusst, dass die Verwendung gefälschter Dokumente und einer falschen Identität strafbar war. Der Journalist vermochte den EGMR nicht davon zu überzeugen, dass der Gesetzesverstoss die einzige Möglichkeit war, die nötigen Informationen über die Situation in Internierungslagern zu beschaffen. Zur fraglichen Zeit habe es bereits öffentlich bekannte Informationen über die schlechte Behandlung von Ausländern in den Lagern gegeben. So berichtete die Presse schon im Oktober 2012 über einen Hungerstreik im Lager. Die verdeckte Recherche des Journalisten war daher laut EGMR nicht dazu angetan, neue und unbekannte Fakten zu Tage zu fördern. Der Gerichtshof bezeichnete die Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet.

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Kommentar: Der Sachverhalt dieses Zulässigkeitsentscheids hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem Fall des deutsch-pakistanischen Journalisten Ul Haq Shams, der 2016 unter falschem Namen in der Empfangsstelle Kreuzlingen weilte und seine Erlebnisse anschliessend in der „SonntagsZeitung“ dokumentierte. Die Staatsanwaltschaft Kreuzlingen stellte ein wegen Betrugs, Verweigerung der Namensangabe und anderer Delikte eröffnetes Strafverfahren 2017 ein, da es dem Journalisten die Wahrung berechtigter Interessen zubilligte (Rudolf Mayr von Baldegg/ Dominique Strebel, Medienrecht für die Praxis, 5. Aufl., Zürich 2018, S. 90f.). Im Falle eines Schuldspruchs durch die schweizerische Strafjustiz wären die Erfolgsaussichten beim EGMR vermutlich gering gewesen. Der Strassburger Entscheid gegen den polnischen TV-Journalisten passt nahtlos zu einer Reihe neuerer EGMR-Entscheide, welche strafrechtliche Massnahmen gegen recherchierende Journalisten absegnen. Dazu gehören die Rechtssachen „Diamant Salihu u.a. c. Schweden“ N° 33628/15 vom 10.5.2016 (Kauf von einer Schusswaffe), „Boris Erdtmann c. Deutschland“ N° 56328/10 vom 5.1.2016 (Mitführen einer Waffe in Flugzeuge), „Brambilla u.a. c. Italien N° 22567/09 vom 23.6.2016 (Abhören von Polizeifunk) sowie das Urteil der Grossen Kammer „Pentikäinen c. Finnland“ N° 11882/10 vom 20.10.2015 (Pressefotograf an polizeilich aufgelöster, gewalttätiger Kundgebung). Die meisten der bisherigen Strassburger Entscheide betrafen Konstellationen, in denen das gesetzwidrige Vorgehen der Medienleute zumindest eine theoretisch denkbare Gefahr für Leib und Leben schuf. Im nun beurteilten Fall der verdeckten Recherche im polnischen Flüchtlingslager traf nicht einmal dies zu. Wer unerschrockene und unkonventionelle journalistische Recherchen über gravierende Missstände im In- und Ausland begrüsst, wird den jüngsten Strassburger Entscheid mit Ernüchterung zur Kenntnis nehmen.

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Das EGMR-Urteil „Butkevich c. Russland“ (G8-Demo) N° 5865/07 vom 13.2.2018 betraf die Festnahme und Verurteilung eines ukrainischen Journalisten, der 2006 in St. Petersburg während des G8-Gipfels von einer Protestveranstaltung gegen die Globalisierung berichtet hatte. Anders als bei der Rechtssache „Pentikäinen c. Finnland“ N° 11882/10 fand der EGMR in den Verfahrensakten keine Hinweise darauf, dass die Demonstration unfriedlich gewesen wäre oder in Gewalt umgeschlagen hätte. Für die polizeilichen Anordnungen an die Adresse des Journalisten gab es nach einstimmiger Ansicht des Gerichtshofs keine ausreichenden Gründe. Und die russische Justiz unterliess eine angemessene Würdigung des Umstandes, dass Butkevich seine Rolle als Journalist wahrgenommen hatte. Dies verstiess gegen Art. 10 EMRK.

8. Redaktionsgeheimnis / Quellenschutz (Art. 17 Abs. 3 BV und Art. 10 EMRK)

A. Urteile des Bundesgerichts

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Am Rande wurde der journalistische Quellenschutz im BGer-Urteil 1C_211/2016, 1C_212/2016 (Tessiner Vermummungsverbot) vom 20.9.2018 thematisiert (nicht publizierte E. 8 von BGE 144 I 281). Die Beschwerdeführer bemängelten, dass die neuen Vorschriften im Kanton Tessin die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum verbieten. Bei Medienauftritten (z.B. am Fernsehen) sei sie hingegen zulässig und profitiere dort mittelbar vom Quellenschutz für Medienschaffende (Art. 28a StGB bzw. 172 StPO). Das Bundesgericht verwarf den Einwand, die neue Tessiner Vorschrift missachte die Rechtsgleichheit (Art. 8 BV). Es argumentierte u.a., das Risiko von (kollektiven) Gewaltakten sei bei anonymen Auftritten in den Medien weniger ausgeprägt als draussen auf der Strasse. Darüber hinaus zog das Bundesgericht die Rechtsprechung der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) herbei: Anonymisierte Fernsehauftritte verstossen gemäss UBI-Praxis zwar nicht generell gegen die Programmvorschriften, doch sind sie nur unter besonderen Voraussetzungen rundfunkrechtlich zulässig (so schon der UBI-Entscheid vom 5.7.1989 in VPB 55.10: Auftritt einer maskierten «Stadthexe» in einer TV-Diskussionssendung).

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Kommentar: Anzufügen ist, dass die Kreise durch das Radio- und Fernsehgesetz (RTVG) verpflichteter (audiovisueller) und durch das Redaktionsgeheimnis geschützter Medien nicht deckungsgleich sind. So geniessen professionelle Onlineportale von Zeitungsverlagen als periodische Medien den gesetzlichen Quellenschutz, an die programmrechtlichen Vorgaben des RTVG sind sie aber nicht gebunden. Das bundesgerichtliche Zusatzargument vermag schon deshalb nicht restlos zu überzeugen. Abgesehen davon dürfte auch die UBI-Praxis zur ausnahmsweise unbedenklichen Anonymisierung grosszügiger sein als das Tessiner Vermummungsverbot.

89

BGE 144 I 126 (Vorratsdatenspeicherung) bezeichnete die sechsmonatige Aufbewahrungsdauer von Randdaten der Telekommunikation als rechtmässig. Die Beschwerdeführer hatten u.a. eine Schmälerung des journalistischen Quellenschutzes bemängelt. Das Bundesgericht hielt fest, durch die Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs werde eine Datenspur erfasst, die allenfalls Rückschlüsse auf das Kommunikationsverhalten der Betroffenen, auf die Recherchetätigkeit von Medienschaffenden sowie auf journalistische Quellen zulasse. Es sei nicht auszuschliessen, dass dies allfällige Informanten davor abschrecken könnte, mit Journalisten in Kontakt zu treten (E. 4.2, S. 133). Die Voraussetzungen für einen Grundrechtseingriff waren laut Bundesgericht aber erfüllt. Art. 15 Abs. 3 des bis zum 28.2.2018 geltenden Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (aBÜPF) biete eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Speicherung und Aufbewahrung, welche namentlich der Aufklärung von Straftaten und damit einem gewichtigen öffentlichen Interesse diene. Zum Schutz vor behördlichem Missbrauch gebe es wirksame datenschutzrechtliche Garantien. Die Angelegenheit ist nun beim EGMR hängig.

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Kommentar: Die ausführliche Urteilsbegründung des Bundesgerichts zum früheren BÜPF enthält keine vertiefte Auseinandersetzung mit der spezifischen Problematik der Vorratsdatenspeicherung für den journalistischen Quellenschutz. Welche praktischen Probleme bereits das alte und erst recht das seit 2018 geltende, revidierte Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs für die Medienschaffenden birgt, ist nachzulesen in den Anmerkungen zu BGE 144 I 126 von Michael Reinle, Die Vorratsdatenspeicherung führt zu einer weiteren Gefährdung des journalistischen Quellenschutzes, medialex Jahrbuch 2018, S. 141ff.

B. EGMR-Rechtsprechung

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Das mehr als 200 Seiten dicke EGMR-Urteil “Big Brother Watch, Bureau of Investigative Journalism & Alice Ross c. Vereinigtes Königreich” (Britische Fernmeldeüberwachung) N° 58170/13, 62322/14 und 24960/15 vom 13.9.2018 befasste sich u.a. mit dem journalistischen Quellenschutz. Im Anschluss an die Enthüllungen von Edward Snowden hatte sich eine Reihe von Beschwerdeführern gegen verschiedene Aspekte der Fernmeldeüberwachung im United Kingdom beschwert. Die Beschwerde betraf nicht nur das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Korrespondenz (Art. 8 EMRK), sondern namentlich auch die von der Journalistenvereinigung TBIJ (Bureau of Investigative Journalism) und der Medienschaffenden Alice Ross ins Feld geführte Medienfreiheit (Art. 10 EMRK). Die Beschwerdeführer wurden in Strassburg unterstützt durch die britische und irische Journalistengewerkschaft (National Union of Journalists), die Internationale Journalisten-Föderation (IFJ), die Media Lawyers’ Association (Vereinigung britischer Medienanwälte) und die Helsinki Foundation for Human Rights.

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Nach mehrheitlicher Auffassung der 1. Kammer des EGMR boten die britischen Vorschriften zur Massenüberwachung keinen ausreichenden Schutz für journalistische Quellen oder vertrauliches journalistisches Material. Mit 6:1 Stimmen bemängelte der Gerichtshof, dass im Vereinigten Königreich keine veröffentlichten Garantien existierten, welche die gezielte Durchsuchung und Überprüfung solchen Materials durch die Nachrichtendienste regelten. Bei der Abfrage von Kommunikationsdaten eines Journalisten sei eine mittelbare Beschränkung des Quellenschutzes wahrscheinlich. Der EGMR bezeichnete den Schutz journalistischer Quellen einmal mehr als Eckpfeiler der Pressefreiheit. Durchsuchungen in der Wohnung und am Arbeitsplatz von Medienleuten seien drastischere Massnahmen als eine Anordnung, die Identität der Quelle bekannt zu geben. Die Überwachung der Kommunikation, welche vertrauliches journalistisches Material und vertrauliche personenbezogene Daten umfasst, bedürfe besonderer Garantien. Diese fehlten, denn der Schutz journalistischer Quellen war nur lückenhaft geregelt. Darüber hinaus gab es keine spezifischen Vorschriften, die den behördlichen Zugriff auf den Zweck der Bekämpfung von Kapitalverbrechen beschränkten.

93

Kommentar: Das Urteil der siebenköpfigen 1. Kammer ist nicht endgültig. Am 10. Juli 2019 befasste sich die 17köpfige Grosse Kammer mit der Angelegenheit. Dies geschah auf Begehren der Beschwerdeführer. Sie hatten sich zwar hinsichtlich des journalistischen Quellenschutzes und einiger weiterer Punkte durchgesetzt, waren aber mit einer Reihe anderer Rügen gescheitert. Angesichts dieser prozessualen Ausgangslage erscheint es eher unwahrscheinlich, dass sich die Grosse Kammer in diesem Fall nochmals vertieft zur Frage des journalistischen Quellenschutzes äussern wird.

9. Staatliche Pflicht zur Gewährleistung freier Kommunikation (Art. 10 EMRK)

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In bestimmten Konstellationen trifft den Staat die Pflicht, die freie Kommunikation durch aktive Vorkehren zu sichern („obligations positives“ – staatliche Schutz- und Gewährleistungspflichten). Dazu gehören zum Beispiel wirkungsvolle Massnahmen gegen die Versuche von Privatpersonen, die Medienfreiheit zu beschränken.

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Das EGMR-Urteil „Mariya Alekhina u.a. c. Russland“ (Pussy Riot) N° 38004/12 vom 17.7.2018 erinnerte daran, dass sich aus Art. 10 EMRK kein automatisches Recht auf Zutritt zu privatem oder öffentlichem Gelände ableiten lässt. § 213: “In particular, that provision does not require the automatic creation of rights of entry to private property, or even, necessarily, to all publicly owned property, such as, for instance, government offices and ministries (see Appleby and Others v. the United Kingdom, no. 44306/98, § 47, ECHR 2003-VI, and Taranenko v. Russia, no. 19554/05, § 78, 15 May 2014).” Wer sich eigenmächtig Zutritt verschafft und  Verhaltensregeln verletzt, müsse grundsätzlich mit einer (massvollen) Sanktion rechnen.

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Das EGMR-Urteil “Kaboglu + Oran c. Türkei“ N° 1759/08, 50766/10, 50782/10 vom 30.10.2018 betraf die staatliche Pflicht, die Rechte heftig angegriffener Universitätsprofessoren zu schützen, welche sich zuvor in einem kontroversen Bericht für Minderheitenrechte stark gemacht hatten. In mehreren Zeitungsberichten wurden die Professoren aufs Übelste beschimpft und massiv attackiert. Die Publikationen enthielten Aufrufe zu Gewalt und stigmatisierende Begriffe (z.B. «Verräter» oder «subversive Elemente, welche die Todesstrafe verdienen würden»). Entschädigungsforderungen der Professoren blieben bei der türkischen Ziviljustiz erfolglos. Der EGMR urteilte einstimmig, dass die hasserfüllten Publikationen die angegriffenen Personen einem realen Risiko von Gewaltakten aussetzten. Diese Gefahr dürfe nicht unterschätzt werden, wie der Fall des von einem fanatischen Nationalisten ermordeten Journalisten Firat Dink (EGMR-Urteil N° 2668/07 vom 14.9.2010) gezeigt habe. Die Türkei vermochte gemäss EGMR keinen fairen Ausgleich zwischen ihrer Pflicht zum Schutz des Privatlebens der Professoren (Art. 8 EMRK) und der Medienfreiheit (Art. 10 EMRK) der kritisierenden Zeitungen herzustellen und handelte daher konventionswidrig.

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Kommentar: Der EGMR stellte in diesem Fall eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) fest. Nicht eingegangen ist er hingegen auf die Rüge, die staatliche Untätigkeit habe auch die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) missachtet. Diese enge Sichtweise wird mit einleuchtenden Argumenten kritisiert von Sophia Sideridou, Kaboglu and Oran v. Turkey: protecting the private life of scholars, yet failing to recognize the academic freedom dimension at issue, im Blog http://strasbourgobservers.com.

II. Informationszugang für Medien und Allgemeinheit (Art. 17 und 16 Abs. 3 BV; Art. 10 EMRK)

Informationszugang gestützt auf die Bundesverfassung und die EMRK

A.  Praxis des Bundesgerichts

98

Gemäss BGer-Urteil 1C_137/2018, 1C_139/2018 (Amtsblatt nur noch Online) vom 27.11.2018 tangiert die im Kanton Zürich beschlossene Abschaffung des gedruckten Amtsblattes die grundrechtlich garantierte Informationsfreiheit (Art. 16 Abs. 3 BV). Zwar beinhalte die Informationsfreiheit grundsätzlich keinen Anspruch darauf, dass der Staat jedermann die Instrumente zur Ausübung des Freiheitsrechts zur Verfügung stellt. Bedinge die Ausübung bestimmter Rechte (z.B. Einsprache- und Beschwerderechte oder politische Rechte) aber einen Informationszugang, so könnten sich „Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Zugangsformen ergeben.“ Für Personen ohne täglichen Zugang zum Internet erschwere der Wechsel von einer (wöchentlichen) Printversion auf eine (tägliche) Onlinepublikation die Informationsbeschaffung. Der Eingriff in ihre Grundrechte sei allerdings bloss geringfügig. Der amtliche Verzicht auf die Herausgabe einer Papierpublikation liege im überwiegenden öffentlichen Interesse (Reduktion des Aufwandes für die Staatskanzlei) und beschränke die Informationsfreiheit nicht übermässig. Wer das Amtsblatt nicht über einen Internetzugang konsultieren könne oder wolle, habe ein Recht auf Einsichtnahme bei der Gemeinde. Bei Bedarf habe sie die nachgefragten Informationen auszudrucken (E. 4).

B. EGMR-Rechtsprechung

99

Im EGMR-Urteil „Rodionov c. Russland“ (Informationszugang im Gefängnis) N° 9106/09 vom 11.12.2018 akzeptierte der Gerichtshof die Beschlagnahme des Radioempfangsgeräts eines inhaftierten Drogenhändlers. Die massgebenden Vorschriften untersagten den Häftlingen den Besitz eines eigenen Radios. Da elektrische Apparate in den Zellen ein Sicherheitsrisiko darstellten und im Gefängnis fix eingebaute Empfangsgeräte existierten, war die Beschränkung der Informationsfreiheit (Art. 10 EMRK) verhältnismässig (§ 205). Unverhältnismässig war hingegen die Beschlagnahme von Zeitungen und Zeitschriften, die der Inhaftierte von Angehörigen zugesandt erhalten hatte. Diese Druckwerke gefährdeten weder die Sicherheit, noch störten sie die Gefängnisordnung, noch dienten sie der Begehung von Straftaten. Dass der Inhaftierte diese Printprodukte vorschriftswidrig nicht bei der Anstaltsleitung gekauft hatte, war laut EGMR kein überzeugendes Argument für eine Grundrechtsbeschränkung (§ 206).

2. Informationszugang gestützt auf das BGÖ

100

Der Zugang zu amtlichen Informationen wird auf eidgenössischer Ebene durch das Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (BGÖ) geregelt. Die Anwendung des BGÖ beschäftigte die Justiz auch im Berichtsjahr immer wieder. Für eine ausführliche Erörterung der Gerichtspraxis vgl. den Überblick über praxisrelevante Entscheide zum BGÖ in den Jahren 2018/2019 von Annina Keller/Daniel Kämpfer, welcher 2020 auf der medialex-Website (www.medialex.ch) publiziert werden wird.

101

Generell ist festzustellen, dass das Bundesgericht und das Bundesverwaltungsgericht Ausnahmen vom BGÖ-Grundsatz des Anspruchs auf Zugang zu amtlichen Dokumenten nur zurückhaltend akzeptieren. Dies galt etwa für die Ausnahmebestimmung zum Schutz privater Geschäfts- oder Fabrikationsgeheimnisse (Art. 7 Abs. 1 lit. g BGÖ), deren Tragweite im BGer-Urteil 1C_562/2017 (Swissmedic) vom 2.7.2018 erörtert wurde.

3. Informationszugang gestützt auf kantonales Recht

102

Im BGer-Urteil 1C_390/2018 (Koch-Areal) vom 21.11.2018 bejahte das Bundesgericht den auf kantonales Recht gestützten Anspruch eines SRF-Redaktors auf umfassende Einsicht in eine Verfügung zur Besetzung des Koch-Areals. Die von den kantonalen Behörden geschwärzten Passagen enthielten laut Bundesgericht keine Hinweise auf konkrete polizeitaktische Massnahmen (E. 4). Berechtigt war einzig die Schwärzung der Telefonnummer einer Kontaktperson, an der ein überwiegendes privates Interesse bestand (E. 5).

103

Im BGer-Urteil 1C_461/2017 vom 27. 6. 2018 (= BGE 144 I 170) korrigierte das Bundesgericht das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn. Es hatte eine Pflicht der kantonalen IV-Stelle zur Auskunft über die Ergebnisse von Arbeitsunfähigkeitsgutachten zweier Ärzte verneint. Laut Bundesgericht durfte das Verwaltungsgericht zwar verlangen, dass das schutzwürdige Interesse am Aktenzugang umso grösser sein muss, je massiver der Aufwand für die Zugangsgewährung ausfällt. Die Vorinstanz berücksichtigte aber nicht genügend, dass ein erhebliches Interesse am Aktenzugang bestand. Das Verfassungsrecht des Kantons Solothurn beschränke den Informationsanspruch nicht auf öffentlich zugängliche Akten; das kantonale Informations- und Datenschutzgesetz schliesse auch Verwaltungsjustizakten nicht vom Zugangsanspruch aus. Es enthalte einen sehr weitgehenden Öffentlichkeitsanspruch.

104

Kommentar: Die Urteilsbegründung im Fall 1C_461/2017 vom 27. Juni 2018 interessiert nicht zuletzt wegen der allgemeinen Ausführungen zum Grundrecht der Informationsfreiheit (Art. 16 Abs. 3 BV). Sie sind nachzulesen in Erwägung 5 (welche in der BGE-Publikation keine Aufnahme gefunden hat). Das Bundesgericht wiederholte seine früher geäusserten Zweifel daran, dass das Recht auf Informationsherausgabe auch künftig auf allgemein zugängliche Quellen beschränkt bleiben soll. Diese Zweifel hatte das oberste Gericht schon in BGE 137 I 8 E. 2.7 S. 14 f. geäussert. Die Urteilsbegründung vom Juni 2018 vertiefte diesen Aspekt letztlich nicht, zumal der hier anwendbare Art. 11 Abs. 3 KV/SO ohnehin weitergeht als die Bundesverfassung, denn er beschränkt den Informationsanspruch nicht auf allgemein zugängliche Quellen (E. 5.1).

105

Das BGer-Urteil 1C_472/2017 (Asylbewerberzentrum) vom 29.5.2018 bejahte den auf kantonales Recht gestützten Anspruch auf Zugang zu einem 2013 verfassten Untersuchungsbericht über die Vorfälle in einem (damals noch kantonalen) Zentrum für Asylbewerber. Das im Auftrag der Kantonsregierung Neuenburg erstellte Dokument enthülle Missstände in einer staatlichen Einrichtung, an deren Kenntnis ein evidentes öffentliches Interesse bestehe. Die vom Kantonsgericht angeführten Risiken einer Herausgabe (bspw. die Störung des ordnungsgemässen Betriebs des mittlerweile eidgenössischen Zentrums) seien rein hypothetisch. Stufe man die Geheimhaltungsanliegen in einem solchen Fall höher ein als die Transparenz, so bedeute dies letztlich eine systematische Verweigerung der Bekanntgabe von Dokumenten über Mängel in der Staatsverwaltung. Mit wenigen Worten verwarf das Bundesgericht überdies den Einwand der kantonalen Behörden, der Untersuchungsbericht sei möglicherweise ungenau und mittlerweile auch veraltet (E. 3.3).

106

Kommentar: Die höchstrichterliche Auffassung zur Frage einer Herausgabeverweigerung aus dem Grund angeblich veralteter Information verdient Zustimmung, denn die Medienunternehmen hatten ihr Einsichtsgesuch bereits 2013 gestellt. Es wäre unbefriedigend, wenn sich das jahrelange Hin und Her um die Herausgabe eines Dokuments in der Sache letztlich zum Nachteil der Gesuchsteller auswirken würde. Dies könnte letztlich einen unerwünschten Anreiz zu behördlichem Spiel auf Zeit schaffen.

4. Anspruch auf rechtsgleiche und willkürfreie amtliche Information (Art. 8 und 9 BV)

107

Zum Anspruch auf rechtsgleiche und willkürfreie behördliche Orientierung gab es im Jahr 2018 keine erwähnenswerte Rechtsprechung.

5. Gerichtsöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 6 EMRK)

A.  Öffentlichkeit der Verhandlung

108

Im BGer-Urteil 1B_87/2018 (Bundesratssohn) vom 9.5.2018 wies das Bundesgericht eine Beschwerde gegen die Zulassung akkreditierter Gerichtsberichterstatter zum Strafprozess gegen den Sohn eines Bundesrats ab. (Vorgeworfen wurden ihm ein Autounfall unter Alkoholeinfluss, Vermögensdelikte sowie Gewalt und Drohung gegen Beamte.) Es bestehe ein überwiegendes öffentliches Interesse an Medienberichten über den Inhalt des Strafverfahrens. Nur die Schilderung der konkreten Straftatbestände und des Strafmasses erlaubte laut Bundesgericht eine wirksame Justizkontrolle durch die Öffentlichkeit.

109

Der Sohn des Bundesrates sei allerdings keine Person der Zeitgeschichte und habe grundsätzlich Anspruch auf eine anonymisierte Berichterstattung. Seinem Persönlichkeitsschutz habe das Bezirksgericht mittels Auflagen an die Gerichtsberichterstatter Rechnung zu tragen. Es könne sicherstellen, dass die Medien neben dem bereits bekannten Nachnamen keine weiteren persönlichen Daten (z. B. Vorname, Alter, Wohnort) und keine Bildaufnahmen publizieren (E. 3.5). Für den Beschuldigten war unklar, wie der Passus «keine weiteren persönlichen Daten» zu verstehen ist. Sein Gesuch um klärende Erläuterung hat das Bundesgericht mit BGer-Urteil 1G_4/2018 vom 13.6.2018 abgewiesen.

110

Vgl. die Anmerkungen zu diesem Urteil von Dominique Strebel, Hohe Hürden für den Ausschluss der Medien von der Hauptverhandlung, medialex Jahrbuch 2018, S. 129ff.

B.  Öffentliche Bekanntgabe des Entscheids

111

Im BGer-Urteil 1B_510/2017 (Kreisgericht St. Gallen) vom 11.7.2018 wies das Bundesgericht die Beschwerde des 2014 verurteilten Straftäters A. gegen die Herausgabe eines rechtskräftigen Strafurteils des Kreisgerichts St. Gallen an einen interessierten Journalisten ab. Dieser recherchierte damals in einem umfangreichen Genfer Betrugsfall, bei dem A. zu den Beschuldigten gehöre. Der Journalist benötigte laut Bundesgericht eine Einsicht in die Urteilsbegründung, damit er sein mit Blick auf die Medienfreiheit berechtigtes Informationsinteresse befriedigen könne. Diese Urteilsherausgabe bedeute keinen unverhältnismässigen Eingriff in das Recht des Verurteilten auf Privatsphäre. A. habe kein Recht auf Vergessen des vor weniger als fünf Jahren verhängten Schuldspruchs (E. 3.4).

112

Vgl. die Anmerkungen zu diesem Urteil von Christoph Born, Medienschaffende können sich auch im Nachhinein auf den Grundsatz der öffentlichen Urteilsverkündung berufen, medialex Jahrbuch 2018, S. 126ff.

6. Amtliche Pflicht zur Anonymisierung von Informationen

113

Das eben erwähnte BGer-Urteil 1B_510/2017 (Kreisgericht St. Gallen) vom 11.7.2018 befasste sich auch mit der Frage, ob die Angaben im herauszugebenden Urteil des Kreisgerichts zu anonymisieren sind. Das Bundesgericht bejahte einen Anspruch auf Einsicht mit Namensnennung, denn ein vollständig anonymisiertes Urteil wäre für den Journalisten „unbrauchbar, da er dann nicht wüsste, was dem Beschwerdeführer im kreisgerichtlichen Urteil zur Last gelegt wird.“ (E. 3.4)

114

Dass die Justiz die Transparenz zu weit treiben kann, illustriert das EGMR-Urteil „Vicent Del Campo c. Spanien“ (Mobbingvorwurf gegen Lehrer) N° 25527/13” vom 6.11.2018. Ein spanisches Gericht hatte in der Begründung eines nicht anonymisierten verwaltungsgerichtlichen Urteils festgestellt, ein Lehrer (der selber nicht Prozesspartei war), habe eine Kollegin am Arbeitsplatz belästigt und schikaniert. Laut EGMR schützt das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) zwar nicht vor einem Reputationsverlust, welcher die voraussehbare Konsequenz eigenen Fehlverhaltens ist (z.B. des Begehens einer Straftat). Vorliegend wurde der Lehrer aber weder strafrechtlich belangt noch wusste er um den von einer Arbeitskollegin gegen das Erziehungsdepartement angestrengten Staatshaftungsprozess. Das Interesse an einer transparenten Justiztätigkeit wog hier weniger schwer als das Anliegen des Lehrers, vor einer stigmatisierenden Enthüllung dieser Vorwürfe (und deren absehbarer Publikation in den Medien) verschont zu bleiben. Die verwaltungsrechtliche Abteilung des Gerichtshofs von Castilla-León hätte den Namen des Lehrers anonymisieren können und müssen.

115

Die Anonymisierung zum Schutz des Privatlebens von Prozessparteien oder Betroffenen entspreche auch der Praxis des spanischen Verfassungsgerichts. Mangels Kenntnis vom fraglichen Prozess konnte der Lehrer von den Gerichtsverantwortlichen auch keine rechtzeitige Anonymisierung verlangen. Das urteilende Gericht konnte die Herausgabe der Urteilsbegründung an Aussenstehende nicht kontrollieren (und damit auch nicht verhindern). Es fehlte daher an angemessenen und wirksamen Vorkehren zum Schutz des Privatlebens des betroffenen Lehrers (§ 53). Der EGMR verpflichtete Spanien, den Lehrer mit einer Genugtuungssumme von 12‘000 Euro zu entschädigen.

116 

Kommentar: Dieses Urteil betrifft die nicht selten anzutreffende Situation, dass Einzelheiten eines Gerichtsurteils das Ansehen von Personen tangieren, die nicht als Prozessparteien in das Verfahren einbezogen sind. Ihre legitimen Diskretionsbedürfnisse haben die zuständigen Gerichte zu bedenken, wenn sie die Begründungen von Urteilen anonymisieren, welche der Allgemeinheit bekanntgegeben werden. Werden die Urteilsbegründungen hingegen ausschliesslich an akkreditierte Medienschaffende abgegeben, kommen weniger rigorose Schutzmassnahmen als eine Anonymisierung in Betracht (z.B. eine Auflage, die Identität bestimmter Beteiligter nicht zu nennen).

117 

Im Falle einer notwendigen Anonymisierung stellt sich die Frage, wie viel Aufwand den Behörden zuzumuten ist. Der oben (N 103) erwähnte BGE 144 I 170 (IV-Stelle Kanton Solothurn) betraf die Herausgabe zahlreicher Dokumente, welche gesundheitliche Angaben von Drittpersonen enthalten. Es war unbestritten, dass diese Akten besonders schützenswerte Personendaten enthielten und vor einer Herausgabe an den Gesuchsteller anonymisiert werden mussten. Nach solothurnischem Informations- und Datenschutzgesetz (InfoDG) kommt eine Verweigerung der Akteneinsicht in Betracht, wenn die Anonymisierung einen ausserordentlichen Aufwand verursachen würde. Dies wäre laut Bundesgericht der Fall, wenn sie den amtlichen Geschäftsgang erheblich beeinträchtigen bzw. nahezu lahmlegen würde. In der Tat würde das Anonymisieren von 109 Gutachten die Verwaltung ausserordentlich stark belasten. Das Bundesgericht konnte den administrativen Aufwand allerdings nicht mit genügender Klarheit abschätzen. Es wies die Streitsache zur vertieften Prüfung an das kantonale Verwaltungsgericht zurück.

III.  Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK)

118 

Gegen überbordende Kommunikation der Massenmedien können sich Betroffene gestützt auf die ihnen garantierte Achtung des Privat- und Familienlebens sowie des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs (Art. 8 EMRK) wehren. Die (Justiz-) Behörden haben die Aufgabe, diese Anliegen im Konfliktfall gegen die Medienfreiheit (Art. 10 EMRK) auszubalancieren. Die massgebende Rechtsprechung zu dieser Kollision der Grundrechte von Medienleuten und von der Berichterstattung Betroffenen ist oben unter Ziff. I/5 (N 18 ff. sowie N 96) dargestellt.

119 

Den Staat trifft daneben (und in erster Linie) die Pflicht, eigene Verletzungen von Art. 8 EMRK zu unterlassen. Diese Pflicht verletzte bspw. die spanische Justiz, als sie in der Begründung eines nicht anonymisierten verwaltungsgerichtlichen Entscheids einen Lehrer (der selber nicht Prozesspartei war) unter voller Namensnennung des Mobbings gegen eine Arbeitskollegin bezichtigt hatte. Im EGMR-Urteil „Vicent Del Campo c. Spanien“ (Mobbingvorwurf gegen Lehrer) N° 25527/13” vom 6.11.2018 bejahte der Gerichtshof einstimmig einen Verstoss gegen Art. 8 EMRK. Vgl. dazu vorne Ziff. II/6 (N 114 ff.).

120 

Ebenfalls verletzt wurde Art. 8 EMRK durch falsche Anschuldigungen des georgischen Justizministers im Fernsehen und einem Zeitungsinterview. Der Gerichtshof hiess im EGMR-Urteil „Jishkariani c. Georgien“ N° 18925/09 vom 20.9.2018 die Beschwerde der zu Unrecht angegriffenen Vorsitzenden einer Nichtregierungsorganisation gut. Laut EGMR musste die Vorsitzende selbst als public figure nicht hinnehmen, dass sie ein Regierungsmitglied mit gravierenden Vorwürfen eindeckte, denen eine tatsächliche Grundlage fehlte.

IV.  Radio und Fernsehen (Art. 93 BV; Art. 10 EMRK)

1. Redaktioneller Inhalt von Radio- und Fernsehprogrammen

A.  Bundesgerichtspraxis

121 

Die inhaltlichen Anforderungen an Radio- und Fernsehsendungen werden durch die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) geprüft (vgl. die Übersicht über die UBI-Rechtsprechung im Jahr 2018 von Oliver Sidler; medialex Newsletter 3/2019).

122

Im BGer-Urteil 2C_125/2017 (RTS 1: «Affaire Giroud, du vin en eaux troubles») vom 15.2.2018 beurteilte das Bundesgericht eine Reportage von Fernsehen RTS über den Weinhandel. Die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) hatte mehrheitlich einen Verstoss gegen das Gebot der Sachgerechtigkeit (Art. 4 Abs. 2 RTVG) bejaht. Der Bericht über den Weinproduzenten Giroud sei tendenziös gewesen, denn er brachte lange zurückliegende Vorkommnisse und religiöse Überzeugungen (Kampf gegen Abtreibung und Homosexualität) ins Spiel, die gar keinen Zusammenhang mit dem eigentlichen Sendungsthema hatten. Das Bundesgericht wies die Beschwerde der SRG ab und verwarf ihren Einwand, der UBI-Entscheid missachte die Medienfreiheit (Art. 10 EMRK). Die UBI-Rechtsprechung gewähre einer kritisierten Person keineswegs ein faktisches Vetorecht gegen die Ausstrahlung unerwünschter Inhalte. Die UBI verlange lediglich, dass der Standpunkt des Angegriffenen im Beitrag ausreichend zur Geltung komme. Dies sei vorliegend nicht geschehen (E. 6).

B.  Rechtsprechung des EGMR

123

Im EGMR-Zulässigkeitsentscheid «Roj TV A/S c. Dänemark» N°24683/14 vom 17.4.2018 bestätigte der Gerichtshof die Massnahmen der dänischen Justiz gegen einen kurdischen Fernsehsender, der zwischen 2006 und 2010 in seinem aus Dänemark ausgestrahlten Fernsehprogramm die Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) verherrlicht haben soll. Da Dänemark die PKK als Terrororganisation betrachtet, kamen die dänischen Vorschriften zur Bekämpfung des Terrorismus zur Anwendung. Die dänische Strafjustiz ordnete neben einer Geldstrafe auch den Entzug der Sendelizenz an. Der EGMR fand keine Anhaltspunkte dafür, dass die dänischen Gerichte ihre Erkenntnisse nicht auf eine hinlängliche Bewertung der massgebenden Tatsachen gestützt hatten. Die von Roj TV verlangte Überprüfung des dänischen Vorgehens auf seine Vereinbarkeit mit Art.10 EMRK verweigerte der Gerichtshof. Roj TV habe versucht, die Medienfreiheit zu Zwecken zu verwenden, die der Konvention widersprechen (Aufrufe zur Gewalt und Unterstützung terroristischer Aktivitäten). Deshalb brachte der EGMR Art. 17 EMRK zur Anwendung (Verbot des Missbrauchs von Rechten der Konvention). Der EGMR unterstrich, Art. 17 EMRK komme nur in Extremfällen zum Tragen. Vorliegend war für den EGMR von grosser Bedeutung, dass die einseitige Berichterstattung (mit Anstiftung zur Teilnahme am Kampf, Aufrufen zum PKK-Beitritt und Glorifizierung getöteter Kämpfer) nach den Feststellungen der dänischen Justiz nicht nur eine Sympathiekundgebung darstellte, sondern eigentliche Propaganda des von der PKK mitfinanzierten Fernsehsenders.

2. Weitere Aspekte

124

Das BGer-Urteil 2C_1024/2016 (Beteiligung der SRG an Werbevermarktungsfirma) vom 23.2.2018 betraf die nach eigenen Angaben grösste schweizerische Vermarktungsfirma «Admeira». Die SRG hatte dem Bundesamt für Kommunikation im Juli 2015 angezeigt, sie plane ein Joint Venture mit der Ringier AG und der Swisscom AG. Der Verband Schweizerischer Medien ersuchte das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) im Dezember 2015 darum, den Vollzug des Joint Venture zu untersagen und den Verband im hängigen Verfahren als Partei zuzulassen. Das UVEK verweigerte dies. Das Bundesgericht bejahte hingegen die Parteistellung, denn die konkurrierenden Medienunternehmen hätten ein schutzwürdiges Interesse, an der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken und ihre Argumente einbringen zu können. Art. 29 Abs. 2 RTVG diene gerade dem Schutz ihres Entfaltungsspielraums vor erheblicher Beschränkung durch Geschäftspraktiken der SRG oder von ihr beherrschter Unternehmen (E. 3.4.3).

V.  Verfassungsrechtliche Aspekte der Online-Kommunikation (Art. 16, 17 und 27 BV; Art. 10 EMRK)

1. Recht auf Zugang zu Online-Informationen

A. Faktische Hürden des Zugangs zu Onlineinformation

125

Beim vorne Ziff. II/1A N 98 erwähnten BGer-Urteil 1C_137/2018, 1C_139/2018 (Amtsblatt nur noch Online) vom 27.11.2018 hatte das Bundesgericht auch die Rüge zu prüfen, der Verzicht auf die bisherige Printversion des Amtsblattes diskriminiere ältere Menschen, denn für Betagte bedeute der Internetzugang eine hohe oder sogar unüberwindbare Hürde. Das Bundesgericht verneinte letztlich eine verfassungswidrige Diskriminierung wegen des Alters (Art. 8 Abs. 2 BV). Es räumte zwar ein, ältere Personen hätten mehr Probleme bei der Verwendung elektronischer Geräte als jüngere. Ihnen drohe bei einer Beschränkung des Informationszugangs ein Verlust der Teilhabe an (staatlichen) Leistungen und damit eine Ausgrenzung. Der Staat sei aber gehalten, in vernünftigem Rahmen Ausweichmöglichkeiten vorzusehen. Das sei im Kanton Zürich geschehen, denn die Gemeinden sind im Bedarfsfall zur Hilfeleistung verpflichtet. Abgesehen davon nehmen laut Bundesgericht „mit der breiten Etablierung des Internets und dem Zeitablauf die diesbezüglichen Kompetenzen der Bevölkerung laufend zu.“ (E. 5.4)

B. Anonymes Surfen im Netz: Herausgabe von Nutzerdaten an die Polizei

126

Das EGMR-Urteil „Benedik c. Slowenien“ (Kinderpornographie) N° 62357/14 vom 24.4.2018 betraf die Identifizierung des Nutzers einer dynamischen IP-Adresse. Im Rahmen polizeilicher Ermittlungen wegen Kinderpornographie hatten die Behörden des Kantons Wallis 2006 verschiedene IP-Adressen ausfindig gemacht. Gestützt auf die schweizerischen Angaben gelangte die slowenische Polizei an einen slowenischen Internet Service Provider und verlangte Angaben über den Nutzer einer bestimmten IP-Adresse. Der Provider lieferte die verlangten Informationen über den hinter der IP-Adresse stehenden Kunden. Dessen Sohn wurde 2009 zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Vor der slowenischen Justiz argumentierte der Sohn vergeblich, die Polizei habe sich die Auskunft über seine Identität mangels gerichtlicher Anordnung rechtswidrig beschafft.

127

Der EGMR bejahte einen Verstoss gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK), denn die slowenische Regelung des polizeilichen Zugriffs war unklar und bot keinen genügenden Schutz gegen staatliche Willkür. Mit 6:1 Stimmen verwarf der Gerichtshof das Argument des slowenischen Verfassungsgerichts, der Nutzer könne sich gar nicht auf Art. 8 EMRK berufen, weil er beim Surfen seine IP-Adresse nicht verschleiert habe. Nach Auffassung der EGMR-Mehrheit durfte der Nutzer dennoch vernünftigerweise auf Privatheit vertrauen. Die Möglichkeit anonymer Suche nach Informationen ist laut EGMR ein wichtiger Aspekt des Anspruchs auf Privatheit im Internet (Online Privacy; § 117).

2. Verantwortlichkeit für rechtswidrige Äusserungen

A.  Haftung für Links

128

In einem Urteil von grundsätzlicher Bedeutung hat sich der Gerichtshof zur zivilrechtlichen Verantwortlichkeit für das Setzen von Hyperlinks geäussert: Das EGMR-Urteil „Magyar Jeti Zrt c. Ungarn“ (Haftung für Links) N° 11257/16 vom 4.12.2018 schützte die Meinungsfreiheit des Online-Newsportals «444.hu». Es hatte 2013 in einem redaktionellen Beitrag über einen Angriff betrunkener Fussballfans auf eine Grundschule mit vielen Roma-Kindern einen Link auf ein Youtube-Video eingefügt, in dem ein Roma-Vertreter die Jobbik-Partei für den Vorfall verantwortlich machte. Auf Klage der Jobbik-Partei hielt die ungarische Ziviljustiz fest, gemäss Artikel 78 des ungarischen Zivilgesetzbuchs sei Magyar Jeti als Betreiberin des News-Portal objektiv haftbar für das Verbreiten des rechtswidrigen Inhalts im Video. Magyar Jeti wurde dazu verurteilt, Auszüge aus dem Urteil zu publizieren und den Hyperlink zum Youtube-Video aus dem Online-Artikel zu entfernen.

129

Der EGMR bejahte einstimmig einen Verstoss gegen Art. 10 EMRK, da das ungarische Recht eine strikte Haftung vorsah. Die Verantwortlichkeit sei aber nicht schematisch zu beurteilen, sondern in einer Einzelfallprüfung anhand einer Reihe von Kriterien (§ 77): (I) Hat der Journalist den umstrittenen Inhalt befürwortet; (II) hat der Journalist den umstrittenen Inhalt wiederholt (ohne ihn zu befürworten); (III) hat der Journalist lediglich einen Hyperlink zu dem umstrittenen Inhalt gesetzt (ohne ihn zu befürworten oder zu wiederholen); (IV) wusste der Journalist oder hätte er vernünftigerweise wissen müssen, dass der umstrittene Inhalt verleumderisch oder sonstwie rechtswidrig war; (V) hat der Journalist in gutem Glauben gehandelt, die ethischen Grundsätze des Journalismus geachtet und die im verantwortungsvollen Journalismus erwartete angemessene Sorgfalt angewandt?

130

Bei der Prüfung dieser Kriterien im Falle des Online-Newsportals «444.hu» bekräftigte der Gerichtshof, es sei mit der Rolle der Medien nicht vereinbar, dass Medienschaffende zur förmlichen Distanzierung vom Inhalt fremder Zitate verpflichtet werden. Dies hatte er schon vor einem Vierteljahrhundert festgehalten (im Urteil „Jersild c. Dänemark“ vom 23.9.1994 zu einem TV-Interview mit rassistischen Jugendlichen). Der Journalist des Newsportals durfte im massgebenden Zeitpunkt annehmen, dass sich die kontroversen Äusserungen des Roma-Vertreters im Bereich zulässiger Kritik bewegten und nicht eindeutig rechtswidrig waren (dies im Unterschied zu den krass beleidigenden User-Kommentaren im EGMR-Urteil „Delfi AS c. Estland“ N° 64569/09 vom 16.6.2015, §§ 136 und 140).

131

Kommentar: Die Begründung dieses richtungsweisenden Urteils belegt das Bemühen des Gerichtshofs, über die Beurteilung des konkreten Einzelfalls hinaus allgemein gültige Kriterien für typische Fallkonstellationen zu entwickeln. Stützen sich die nationalen Gerichte auf diese Kriterien, so erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der EGMR ihren Entscheid akzeptieren wird. Für Anmerkungen zum EGMR-Urteil vgl. Christiana Fountoulakis/Julien Francey, Aperçu de la jurisprudence fédérale, cantonale et internationale rendue durant l’année 2018 en matière de droit civil et de procédure civile en lien avec les médias, medialex Newsletter 1/2019, N 77ff.

3. Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten

A.  Zugang zu Videos der Punkband Pussy Riot

132

Das EGMR-Urteil „Mariya Alekhina u.a. c. Russland“ (Pussy Riot) N° 38004/12 vom 17.7.2018 beanstandete das harsche Vorgehen der russischen Behörden gegen die feministische Punkband Pussy Riot. Neben zahlreichen Verstössen in verfahrensrechtlicher Hinsicht stellte der Gerichtshof auch Verletzungen von Art. 10 EMRK fest. So hatte die russische Justiz im Internet abrufbares Videomaterial von Pussy Riot für extremistisch erklärt und den Zugang dazu verboten. Die 3. EGMR-Kammer bezeichnete die Sperre einstimmig als Verstoss gegen Art. 10 EMRK. Sie liess offen, ob die vage formulierten Vorschriften im Gesetz zur Unterdrückung von Extremismus als ausreichende Grundlage für den Grundrechtseingriff taugten (vgl. oben Ziff. I/3A N 12).

133

Jedenfalls war die Beschränkung der Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Die russische Justiz hatte auf eine eigene Analyse des fraglichen Videomaterials verzichtet. Sie verliess sich auf einen Bericht linguistischer Experten (welcher das Videomaterial auch in rechtlicher Hinsicht qualifizierte). Das Gericht unterliess jeden näheren Hinweis darauf, welche Elemente des Videos nach seiner Auffassung wegen Extremismus unzulässig waren. Das russische Recht sah nicht vor, dass die betroffene Partei in ein solches Verfahren einbezogen wird. Laut EGMR muss das zuständige Gericht bei seinem Entscheid über ein Zugangsverbot zu Online-Inhalten eine richterliche Überprüfung vornehmen und dabei die von den Behörden und auch der betroffenen Partei vorgebrachten Argumente ausreichend würdigen (§ 267).

B.  Zugang zu identifizierenden Medienberichten in Online-Archiven

134

Im EGMR-Urteil „M.L. und W.W. c. Deutschland“ (Sedlmayr-Mörder) N° 60798/10, 65599/10 vom 18.6.2018 behandelte der Gerichtshof die Beschwerde von zwei 1993 wegen Mordes am Schauspieler Walter Sedlmayr verurteilten Straftätern. Sie hatten bei der deutschen Ziviljustiz eine einstweilige Verfügung gegen die Wochenzeitschrift „Der Spiegel“, die Tageszeitung „Mannheimer Morgen“ und „Deutschlandradio“ verlangt. Der Bundesgerichtshof (BGH) lehnte jedoch 2009 ein gegen die Medienhäuser gerichtetes Verbot ab. Auch die 5. Kammer des EGMR sah keine ausreichenden Gründe für eine Pflicht, den Zugang zu Informationen über die Verurteilung der mit ihrem vollständigen Namen genannten Beschwerdeführer zu unterbinden.

135

Einstimmig teilte der EGMR die Auffassung, es gehöre zu den Funktionen der Medien, die Allgemeinheit mit alten Informationen aus ihrem Archiv zu versorgen. Dies möge zwar nicht ihre Kernaufgabe sein, habe aber doch eine gewisse Wichtigkeit. Digitalisierte Archive seien wertvolle Informationsquellen (§ 91). Gerade wegen des Verstärkereffekts von Suchmaschinen drohe allerdings bei Online-Informationen ein stärkerer Eingriff ins Privatleben der Betroffenen. Die Rechtspflichten von Suchmaschinenbetreibern seien daher nicht unbedingt deckungsgleich mit den Pflichten der ursprünglich Publizierenden (§ 97). Von den Medienhäusern werde vorliegend zwar nicht verlangt, dass sie ihre archivierten Informationen systematisch und permanent überprüfen. Selbst eine Pflicht zur Verifizierung (und Anpassung) im Falle individueller Anfragen von Betroffenen berge aber das Risiko, dass Medienhäuser künftig auf eine Archivierung nicht anonymisierter Informationen verzichten (bspw. mangels personeller Ressourcen für die Überprüfung solcher Anfragen). Laut EGMR ist grösste Zurückhaltung gegenüber Massnahmen angebracht, die dazu angetan sind, die Medien von der Beteiligung an der Diskussion allgemein interessierender Angelegenheiten abzuschrecken (§ 104). Der Gerichtshof sah keine Gründe, von den Überlegungen des BGH abzuweichen.

136

Kommentar: In ihren Anmerkungen zu diesem EGMR-Urteil schreiben Christiana Fountoulakis/Julien Francey, Aperçu de la jurisprudence fédérale, cantonale et internationale rendue durant l’année 2018 en matière de droit civil et de procédure civile en lien avec les médias, medialex Newsletter 1/2019, N 101, dieses EGMR-Urteil enthalte keine neuen Grundsätze zum „droit à l’oubli“ („Recht auf Vergessen“ bzw. „Recht auf Vergessenwerden“). In der Tat beruht die Strassburger Güterabwägung auf den seit Jahren etablierten Kriterien. Dennoch ist die Urteilsbegründung bemerkenswert. Mit seinen Ausführungen zum Nutzen der Online-Archive von Medienhäusern und zu den tendenziell schärferen Pflichten für Suchmaschinenbetreiber scheint der Gerichtshof zumindest teilweise neues Terrain betreten und Pflöcke für künftige Streitfälle eingeschlagen zu haben.

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