Das Bundesgericht schafft im Urteil 6B_440/2019* Klarheit
Viktor Györffy, Rechtsanwalt, und Leonarda Mäder, BLaw, Zürich
Anmerkungen:
I. Zum Sachverhalt
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Ursprung des vorliegend zu beurteilenden Falls ist ein Artikel von einem Facebook-User «Indyvegan», der einen Schweizer Tierschützer, A., als «mehrfach wegen antisemitischen Äusserungen vorbestraft», «mehrfach verurteilter Antisemit» und den von ihm präsidierten und geführten Verein B. als «antisemitische Organisation» und «neonazistischer Tierschutzverein» bezeichnete. Diesen Artikel hat ein anderer Facebook-User – der Beschwerdeführer – im August 2015 auf Facebook mit seinen Freunden geteilt und einen eigens verfassten Kommentar hinzugefügt. A. strengte ein Strafverfahren wegen übler Nachrede gegen den Beschwerdeführer an. Einerseits hatte das Bundesgericht zu beurteilen, ob der Beschwerdeführer durch das Teilen dieses Artikels und das Hinzufügen eines Kommentars den Straftatbestand der üblen Nachrede nach Art. 173 StGB erfüllte, wobei es die Aussagen einzeln beurteilte, und andrerseits, ob die Verlinkung des Artikels unter das Medienprivileg gemäss Art. 28 StGB fiel.
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2017 wurde der Beschwerdeführer erstinstanzlich der üblen Nachrede gegenüber A. und dem Verein B. schuldig gesprochen, bezüglich der Weiterverbreitung des Antisemitismus-Vorwurfes erging ein Teilfreispruch. Die zweite Instanz verurteilte den Beschwerdeführer gesamthaft der üblen Nachrede und hob den teilweisen Freispruch auf. Das Bundesgericht spricht den Beschwerdeführer vom Vorwurf der üblen Nachrede gegenüber A. frei. Mit Bezug auf den Verein B. wird das vorinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. In seinen Erwägungen setzt sich das Bundesgericht einlässlich mit den von A. getätigten Äusserungen auseinander. Weiter prüft es, ob sich der Beschwerdeführer auf das Medienprivileg nach Art. 28 StGB berufen kann und verneint dies, da das «Teilen» des Beitrages nicht mehr unter die medientypische Herstellungs- und Verbreitungskette falle. Es äussert sich dabei einlässlich zur Frage, inwieweit Social Media als «Medium» zu qualifizieren ist.
II. Üble Nachrede
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Zunächst charakterisiert das Bundesgericht die Aussagen “mehrfach wegen antisemitischer Äusserungen vorbestraft” und “mehrfach verurteilt” als Tatsachenbehauptungen, da sie mittels Beweisen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden können.[1] Zwar kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass der Beschwerdeführer diese Aussage in Wahrnehmung seiner Meinungsäusserungsfreiheit weiterverbreiten durfte, da A. diese selbst in einem Interview gemacht hätte. Denn damit müsse dieser in Kauf nehmen, dass seine Aussagen später aufgegriffen werden. Allerdings: Die Aussage, A. sei “mehrfach” vorbestraft und verurteilt worden, sei objektiv unwahr, es liege diesbezüglich lediglich ein rechtskräftiger Schuldspruch vor, was kein unbedeutendes Detail darstelle. [2]
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Danach subsumiert das Bundesgericht die Äusserungen “Antisemit” respektive “antisemitische Organisation”/”neonazistischer Tierschutzverein” als gemischte Werturteile, da diese einen erkennbaren Bezug zu Tatsachen hätten.[3] Die Vorinstanz hatte nur Beweise der letzten fünf Jahre berücksichtigt, da es um einen aktuellen Antisemitismus-Vorwurf gehe und kam zum Schluss, dass A. provoziere und sich mit einem “antisemitischen Nimbus umgebe”. Das Bundesgericht findet diese starre Befristung fraglich und bezieht unter anderem auch das Urteil vom Jahr 2000 mit ein, indem A. wegen “mehrfacher” Rassendiskriminierung verurteilt wurde. Das Urteil könne nicht ignoriert werden. Ältere Belege können miteinbezogen werden, wenn sie durch aktuelle Aussagen “konserviert” würden. Um eine möglichst reale Beweislage zu schaffen, bedarf es dem Miteinbezug aller möglicherweise relevanten Beweise, damit ein Gesamtbild entsteht.[4]
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Gegen diese differenzierte und sorgfältige Auseinandersetzung des Bundesgerichts mit der Frage, ob die zu prüfenden Aussagen der Wahrheit entsprechen, ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Wichtig ist das Fazit, dass der Vorwurf des Antisemitismus gegenüber A. als gerechtfertigt erscheint, und richtigerweise hat das Bundesgericht hierfür die Äusserungen von A. in seiner Gesamtheit berücksichtigt.
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Der Weg bis zu dieser Feststellung des höchsten Gerichts war allerdings lang und steinig, und der von diesem Verfahren Betroffene ist bei weitem nicht der einzige, der seine Erfahrungen als Prozessgegner von A. machen musste: Anlässlich des veganen Festivals «Veganmania» 2015 gab es viele Facebook-Einträge und rege Diskussionen über A.. A. hat in der Folge ca. zwanzig Tierrechtsaktivisten und Tierrechtsaktivistinnen mit Verfahren eingedeckt. Der Strafanzeige hängte er meist parallel eine zivilrechtliche Klage an. A. bedient sich seit über zwanzig Jahren antisemitischer Stereotype in der Öffentlichkeit. Bei Benennung dieser Tatsache muss man damit rechnen, in jahrelange Verfahren verwickelt zu werden, mit dem damit verbundenen beträchtlichen Kostenrisiko.[5] Das hier besprochene Urteil dürfte dem ein Stück weit ein Ende bereiten. Es kann einem aber zu denken geben, wie lange dies dauerte angesichts der über Jahrzehnte dokumentierten Aussagen von A. und der grossen Zahl von Gerichtsverfahren darum herum. Es brauchte Bundesrichterinnen und Bundesrichter, welche in einem Urteil den Antisemitismus von A. und seinen Äusserungen herausarbeiten, und mit dem gleichzeitigen, ihnen abschliessend zustehenden Entscheid, diese Charakterisierung sei gerechtfertigt, die Gefahr aus der Welt schaffen, wegen dieser Qualifikation der üblen Nachrede schuldig gesprochen zu werden.
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Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig es ist, die Balance zwischen dem Schutz vor ehrverletzenden Äusserungen und dem Schutz der freien Meinungsäusserung gut auszutarieren. Dabei sollten die Anforderungen an eine Person, welche den Wahrheitsgehalt allenfalls ehrverletzenden Äusserungen vorab zu klären hat, nicht überspannt werden, gerade wie in Fällen wie dem hier beurteilten, zumal – wie das Bundesgericht richtigerweise feststellt – der Antisemitismusvorwurf als innere Tatsache keinem direkten Beweis zugänglich ist. Das Bundesgericht führt dazu aus, der Wahrheitsbeweis könne in diesen Fällen regelmässig einzig durch Äusserungen oder das Verhalten einer Person bewiesen werden. Der Schluss aus äusseren Umständen (Handlungen, Äusserungen) auf innere Tatsachen (Absichten, Motive) könne naturgemäss kein naturwissenschaftlich exakter sein. Sehr wichtig erscheint die Feststellung des Bundesgerichts, dass die Gefahr besteht, dass auch begründete Kritik nicht mehr vorgebracht wird, wenn das Strafrecht zu hohe Anforderungen an kritische Äusserungen stellt (“chilling-effect”).[6]
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Der Wahrheitsbeweis war hier in zwei Aspekten zu erbringen: in Bezug auf einzelne Aspekte und in Bezug auf die grundsätzliche Charakterisierung von A. als Antisemit. Das vom Beschwerdeführer vorgetragene und vom Bundesgericht verworfene Argument, dass A. tatsächlich nicht «mehrfach» wegen antisemitischer Äusserungen verurteilt worden sei, sei als unbedeutende Ungenauigkeit zu qualifizieren, erscheint vor dem skizzierten Hintergrund alles andere als abwegig. Eine Person, welche die Äusserungen von A. charakterisieren will, riskiert auf dem Boden der Erwägungen des Bundesgerichts, letztlich wegen eines unbewiesenen Details in den Hammer zu laufen, und dies womöglich wegen eines Details, dass diese Person lediglich durch Teilen eines fremden Beitrags weiterverbreitet hat. Um einen “chilling-effect” zu vermeiden, ist dieses Risiko gebührend zu berücksichtigen bei der Beurteilung der Frage, inwieweit nicht bewiesene Details im Gesamtkontext – wenn also gesamthaft bewiesen worden ist, dass rassistische bzw. antisemitische Äusserungen getätigt worden sind – als unbedeutende Ungenauigkeit zu taxieren sind. Was die Charakterisierung von A. als Antisemit betrifft, setzt das Urteil seine Erwägungen zu den Schwierigkeiten, eine Gesinnung beweisen zu können, konsequent um. Zentral dabei erscheint, dass A. u.a. immer wieder gegen Juden gerichtete Stereotype bedient und gleichzeitig vor Gericht für sich beansprucht hat, von anderen nicht als Antisemit bezeichnet werden zu dürfen. Das Bundesgericht hat dem einen Riegel geschoben.
III. Social Media, Medienbegriff und Medienprivileg
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Art. 28 StGB ist eine Kernbestimmung für die freie Kommunikation in einer demokratischen Gesellschaft und gewährleistet damit die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 16 BV, Art. 10 EMRK, Art. 19 UNO-Pakt II). Zweck der Medienfreiheit (Art. 17 BV) ist der ungehinderte Nachrichtenfluss und freie Meinungsaustausch.[7] Unter ihrem Schutz steht insbesondere die Recherchetätigkeit der Journalisten und Journalistinnen zur Herstellung von Medienerzeugnissen und deren ungehinderte öffentliche Verbreitung. Die Medien sind als Informationsträger zugleich ein Bindeglied zwischen Staat und Öffentlichkeit, wie auch Kontrollorgan behördlicher Tätigkeit und sorgen für Transparenz. Transparenz ist in einer funktionierenden Demokratie essenziell, damit das Volk wo nötig Kontrolle ausüben kann.[8]
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Der grundrechtliche Schutzbereich der Medienfreiheit wird seit jeher weit gefasst, dazu gehören unter anderem auch verletzende, schockierende oder unwahre Äusserungen.[9] Das Strafrecht sieht eine gewisse Privilegierung für die freie Meinungsäusserung vor. Die ratio legis des Medienstrafrechts ist nicht die bestmögliche Bekämpfung allfälliger Missbräuche der Medien mittels des Strafrechts, sondern die Privilegierung der freien Meinungsäusserung.[10]
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Ursprünglich wurde dieser Artikel für die Druckerpresse konzipiert, als es noch kein Radio, Fernsehen oder andere neue Kommunikationsmittel gab. Wie der Botschaft von 1996 zu entnehmen ist, wurde mit der Revision des Medienstrafrechts 1996 der Begriff der Medien ausgeweitet, um nebst der Presse auch Radio, Fernsehen und weitere elektronische Medien strafrechtlich mitzuerfassen. Damit sollte der fortschreitenden technischen Entwicklung im Informationszeitalter Rechnung getragen werden.[11]
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Art. 28 Abs. 1 StGB verankert den Grundsatz, dass sich alleine der Autor oder die Autorin strafbar macht, wenn eine strafbare Handlung durch Veröffentlichung in einem Medium begangen wird und sie sich in der Veröffentlichung erschöpft. Dies verankert die exklusive Strafbarkeit des Autors oder der Autorin. [12]
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Das Bundesgericht gelangte im konkreten Fall zum Ergebnis, das «Teilen» eines fremden und ehrenrührigen Facebook-Eintrages sei nicht vom Medienprivileg erfasst, da der Beschwerdeführer sich nicht mehr innerhalb der medientypischen Herstellungs- und Verbreitungskette bewegte.[13]
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Das Urteil enthält ausführliche Erwägungen zur Frage, ob bzw. in welchen Konstellationen Facebook als «Medium» zu qualifizieren sei. Im Urteil 6B_1114/2018 hatte das Bundesgericht diese Frage noch offengelassen.[14] Im vorliegenden Urteil legt es die Bestimmung teleologisch, historisch und nach Wortlaut aus und kommt zum Schluss, dass der «Medienbegriff» weit auszulegen sei. Diesbezüglich besteht breite Einigkeit auch in der Lehre.[15] Das Bundesgericht äussert sich in diesem Entscheid nicht dazu, ob der Begriff «Medium» für Medienstrafrechtstatbestände einheitlich auszulegen ist oder nicht. Im Entscheid BGE 136 IV 145 E. 3.2. f. hatte das Bundesgericht definiert, was ein periodisch erscheinendes Medium ist. Weiter stellte es den Quellenschutz nach Art. 28a StGB in Zusammenhang mit Art. 28 und Art. 322bis StGB. Insgesamt wird u.E. aus der bestehenden Praxis nicht klar, ob der Begriff des «Mediums» in Art. 28 und Art. 28a StGB gemäss Bundesgericht gleich auszulegen ist.[16]
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Das Bundesgericht legt fest, dass diese Weite des «Medienbegriffs» nicht dazu führe, Social Media gemeinhin als «Medium» zu qualifizieren. Das ausschlaggebende Kriterium sei im Einzelfall, dass das Medienerzeugnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht würde. Es konzentriert sich dann in seinen Erwägungen darauf, was unter Veröffentlichung zu verstehen ist, ohne sich weiter mit der Frage aufzuhalten, was den Begriff des Mediums an sich ausmacht. Die Veröffentlichung setze voraus, dass der Beitrag nicht nur an bestimmte Personen, sondern (innerhalb des Kreises) an irgendwen, der sich für den Inhalt interessiert, abgegeben würde. Grundsätzlich würden sich Social Media-Beiträge an die Öffentlichkeit richten, ausser sie seien aufgrund persönlicher Einstellungen nur einem beschränkten Personenkreis zugänglich.[17] Das BGer stützt sich auf Entscheide von 1948 (BGE 74 IV 129, E.2.), 1956 (BGE 82 IV 71 E.4) und 2002 (BGE 128 IV 53, E. 5c) und auf Lehrmeinungen. Schwarzenegger schreibt dazu, dass das Kriterium der Veröffentlichung erfüllt sei, wenn die Information von unbestimmt vielen Personen oder von einem grösseren, nicht durch persönliche Beziehungen zusammenhängenden Personenkreis wahrgenommen werden kann.[18] Die Kenntnisnahme durch Dritte sei dabei nicht vorausgesetzt.[19] Demnach kommt es gemäss Bundesgericht auf die persönliche Konto-Einstellung an. Ab wann genau ein Beitrag veröffentlicht wurde, ist aber weiterhin im Einzelfall zu klären. Die Grenze zeigt das Bundesgericht nicht klar auf. Aufgrund der stetigen technologischen Entwicklung und der sich möglicherweise divergierenden Sachverhaltsvarianten erscheint es sinnvoll, hier einen gewissen Spielraum beizubehalten.
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Der Beschwerdeführer hat den auf Facebook geteilten Beitrag an seine 2’500 «Freunde» gepostet. Es erscheint vorliegend richtig, hier von einer unbestimmten Vielzahl von Personen und demnach einer Veröffentlichung auszugehen.
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Weiter bedingt Art. 28 StGB zur Vollendung des Delikts, dass sich die strafbare Handlung in der Veröffentlichung erschöpft. Dazu wird ausgeführt, dass aufgrund der Weite des «Medienbegriffs» im Einzelfall geprüft werden muss, wer noch zur medientypischen Herstellungs- und Verbreitungskette gehört.[20] Das Bundesgericht knüpft nicht an die Person des Autors oder der Autorin an und ob diese als medienschaffende Person zu gelten hat oder nicht. Ausschlaggebend ist die Tathandlung des «Weiterverbreitens» und ob die Privilegierung von Art. 28 StGB auf diese Anwendung finden kann.[21]
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Das Bundesgericht verneint, dass der Beschwerdeführer zur medientypischen Herstellungs- und Verbreitungskette gehörte. Es bemerkt, dass der Ausgangsartikel durch den Post von «Indyvegan» in Verkehr gebracht wurde. Damit wurde er der Kontrolle des Herstellers entzogen. Das «Teilen» würde lediglich bedeuten, dass ein fremder, bereits veröffentlichter Beitrag verlinkt worden wäre.[22] Das Bundesgericht benutzt die «Kontrolle des Herstellers» als ausschlaggebendes Kriterium, das «Teilen» des Posts nicht mehr unter die medientypische Herstellungs- und Verbreitungskette zu subsumieren.
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2016 hatte das Bezirksgericht Zürich einen Fall zu entscheiden, bei dem es um einen Retweet auf der Social Media Plattform Twitter ging. Das Bezirksgericht kam damals zum Schluss, dass ein Retweet Teil des Geschäftsmodells von Twitter sei und demnach Teil der von Twitter geplanten und gewollten Verbreitungskette eines Tweets. Kriterien zur Beurteilung, was zur Herstellungs- und Verbreitungskette gehöre, seien die «Absichten des Betreibers» und das «Verhalten der Nutzer». Obwohl das Retweeten einer ehrenrührigen Kurznachricht den Tatbestand des Weiterverbreitens erfüllt, bleibt es deshalb gemäss diesem Entscheid gestützt auf Art. 28 Abs. 1 StGB straflos.[23] Dieses Urteil wurde in der Literatur kritisiert. [24]
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Um Beiträge auf Facebook weiterzuverbreiten müssen sie mittels dem «Teilen»-Bottom verlinkt werden. Um auf Twitter einen «Tweet» weiterzuverbreiten, kann man den Button «Retweet» drücken.[25] Es gestaltet sich als schwierig, die unterschiedlichen Kommunikationsplattformen wie Facebook, YouTube, LinkedIn, Twitter etc. zu unterscheiden, da sich ihre Anwendungsbereiche überschneiden.[26] Zwar können diese beiden Fälle aufgrund der unterschiedlichen Sachverhalte schlecht miteinander verglichen werden. Jedenfalls liegt das Bundesgericht im hier besprochenen, Facebook betreffenden Urteil nicht auf derselben Linie wie der Twitter-Entscheid des Bezirksgerichts Zürich, zu dem Schwarzenegger richtigerweise bemerkt, dass es gemäss diesem Entscheid möglich wäre, dass ein strafrechtlich geahndeter Tweet durch Retweets ad infinitum straflos weiterverbreitet werden dürfte.[27]
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Das Bundesgericht verhalf dem Standpunkt des Beschwerdeführers, die Verurteilung verletze ihn in seiner Meinungsäusserungsfreiheit, damit im Ergebnis nicht zum Durchbruch. Es handelt dies – wie schon die Vorinstanz – auf der Grundlage des Medienprivilegs nach Art. 28 StGB ab. Seine Argumentation, weshalb das hier zu beurteilende Teilen und Kommentieren eines anderen Facebook-Users ausserhalb der medientypischen Herstellungs- und Verbreitungskette steht und der Beschwerdeführer damit die Privilegierung von Handlungen innerhalb dieser Kette nicht in Anspruch nehmen kann, ist dabei gut nachvollziehbar und verdient Zustimmung. Schwieriger zu fassen ist der in Art. 28 StGB enthaltene Medienbegriff und dessen Anwendung auf den konkreten Fall. Entscheidendes Kriterium ist gemäss Bundesgericht das Erfordernis, dass das Medienerzeugnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. xxGerade in dem zu beurteilenden Kontext versteht sich damit aber nicht von selbst, was als Medienerzeugnis gilt. Zwar wendet das Bundesgericht das Kriterium der Veröffentlichung ohne Weiteres auf Social Media an, indem es ausführt, dass Social Media nicht gemeinhin als «Medium» zu qualifizieren sei, sondern dann, wenn das Erfordernis der Veröffentlichung im konkreten Fall erfüllt ist. Dies erscheint durchaus als präzise genug, um im Einzelfall entscheiden zu können, ob ein Medienerzeugnis vorliegt oder nicht. In Bezug auf die Form dieses Medienerzeugnisses und der Funktion des Urhebers ging die Praxis im Übrigen schon seit Langem von einem weiten Begriff aus.[28]
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Gleichzeitig ist allerdings festzuhalten, dass Social Media von unterschiedlichsten Personen für verschiedenste Zwecke verwendet werden, und dass der persönliche oder berufliche Hintergrund dieser Personen und der Grund, wofür sie Social Media nutzen einerseits und der Entscheid darüber, wie offen der Personenkreis ist, mit welchem Social-Media-Beiträge geteilt werden andererseits, nicht zwingend deckungsgleich ist. Ein Merkmal von Social Media ist gerade, dass verschwimmt, was privat und was öffentlich ist. Dazu gehört auch, dass Personen typischerweise auf Social Media über dieselben Kanäle ebenso private, belanglose Informationen teilen wie Informationen, welche für breitere Kreise von Relevanz sind.
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Schwarzenegger konstatiert, dass der Anwendungsbereich des Medienstrafrechts unklar sei und in seinen Konsequenzen für das Internet und die sozialen Medien unberechenbar. Er plädiert für eine Neuregelung im StGB, vor allem in Hinblick auf die aufkeimenden «Fake News», die vorwiegend über die Verbreitungskanäle der Social Media funktionieren. U.a. fordert er, der Anwendungsbereich des Medienstrafrechts sei auf unternehmerisch organisierte Massenmedien zu beschränken. Im Bereich Internet sollen die am Kommunikationsprozess beteiligten Dienste gesetzlich definiert und solle ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit oder Straffreiheit differenziert nach der Nähe zum Veröffentlichungsprozess geklärt werden.[29]
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Unseres Erachtens ist der vom Bundesgericht eingeschlagene Weg klar vorzuziehen. Die im hier besprochenen Entscheid dargelegte Praxis vermag nach unserer Einschätzung die sich stellenden Abgrenzungsfragen wie dargelegt mit hinreichender Klarheit zu beantworten. Gesetzgeberischen Regelungsbedarf sehen wir insoweit nicht.
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Gleichzeitig sind wir der Auffassung, dass der von Schwarzenegger vorgeschlagene Regelungsansatz in die falsche Richtung ginge. Erstens darf nicht übergangen werden, wie vielfältig die Verbreitungswege von «Fake News» sind. Wohl weist Schwarzenegger zu Recht auf die grosse Bedeutung von Social Media in diesem Zusammenhang hin. «Fake News» werden aber durchaus auch ausserhalb von Social Media verbreitet, und Social Media werden zunehmend auch von unternehmerisch organisierten Massenmedien genutzt. Zweitens erscheint fraglich, wie weit das Erfordernis von unternehmerisch organisierten Massenmedien als Qualitätskriterium tragen würde. Jedenfalls ist festzustellen, dass es durchaus derartige Massenmedien gibt, welche «Fake News» verbreiten, dies mitunter sehr gezielt. Drittens ist zu berücksichtigen, dass Social Media die Möglichkeit bietet, Informationen sehr wirksam zu verbreiten, ohne dass es einer unternehmerisch organisierten Einheit bedarf, über welche dies läuft. Dies kommt gerade auch zum Tragen, wenn Journalistinnen und Journalisten Social Media nutzen; es ist für sie nicht von entscheidender Bedeutung, ob sie Social Media in Anbindung an eine unternehmerisch organisierte Einheit nutzen oder losgelöst davon. Beispiele aus dem investigativen Journalismus, etwa die Aufdeckung des NSA-Skandals, zeigen, wie vielfältig die Zusammenarbeits- und Publikationsformen im Journalismus mittlerweile sind. Die Dynamik von Social Media ist sehr vielfältig und kann ebenso über Einzelpersonen führen wie über informell organisierte Gruppen oder auch völlig spontan sein (beispielsweise bei einem «Shitstorm»). Dies ist Teil der dynamischen Entwicklung der Informationsverbreitung über elektronische Kanäle insgesamt, welche wiederum Auswirkungen auf die Funktionsweise und das Selbstverständnis der Medien hat.
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Ein sinnvoller Medienbegriff kann sich von dem nicht abkoppeln. Dies gilt auch für den Medienbegriff im Strafrecht.
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Beschränkungen und Definitionen, was Medien im Sinne des Strafrechts sind, welche Dienste im Internet darunterfallen und welche Beteiligung an dem darauf bezogenen Veröffentlichungsprozess strafrechtlich zu beurteilen sind, erscheinen damit nicht als sachgerecht, sondern würden wohl unweigerlich die grundrechtlich zu gewährleistende freie Kommunikation und die Rolle der Medien darin beeinträchtigen. Das Bundesgericht weist zu Recht darauf hin, dass sich die Grenze zwischen Produzenten- und Konsumentenrolle bei der medialen Kommunikation in gewissen Bereichen nicht mehr leichthin ziehen lässt und dass heute jede Person auf eine «Produktionsstätte für Medienveröffentlichungen» zurückgreifen kann. Es bekräftigt seine Praxis, wonach das Medienprivileg für alle Personen gilt, die an der Herstellung oder Verbreitung eines Medienerzeugnisses mitwirken, und diese nicht Teil eines Medienunternehmens sein müssen. [30] Dies erscheint als sachgerecht. Es ist weiterhin geboten, die anwendbaren medienrechtliche Regelungen und Begriffe so auszugestalten, dass sie der bestehenden Dynamik zu folgen vermögen und dabei den Anspruch auf freie Meinungsäusserung nicht aus den Augen verlieren, selbst wenn dies mit gewissen Unsicherheiten in der Praxis verbunden sein kann. Der hier besprochene Entscheid zeigt u.E., dass die Rechtsprechung durchaus für die erforderliche Klarheit sorgen kann.
* Das Urteil ist inzwischen pubiziert als BGE 147 IV 65
Fussnoten:
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Urteil 6B_440/2019 vom 18. November 2020, E. 2.2.1.; BGE 118 IV 41, E. 3. ↑
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Urteil 6B_440/2019 vom 18. November 2020, E. 4.2.3. ↑
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Urteil 6B_1270/2017 vom 24. April 2018, E. 2.1. ↑
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Urteil 6B_440/2019 vom 18. November 2020, E. 4.3.4. f. ↑
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Urteil 5A:801/2018 vom 30 April 2019; Urteil 6B_1114/2018 vom 29. Januar 2020; Urteil 5A_546/2019 vom 5. Februar 2020; Strupler Merièm, Klagen am laufenden Band, WOZ Artikel vom 5. April 2018 (https://www.woz.ch/-89c6); Hollenstein Pascal, A. straflos “Nazi” und “Antisemit” genannt, Artikel Tagblatt vom 7. November 2019 (https://www.tagblatt.ch/schweiz/A.-straflos-nazi-und-antisemit-genannt-ld.1166587); Siehe u.a. auch: Interview mit A. vom 26. Februar 2014 in der Thurgauer Zeitung; Beiträge von 1998 und 2000 auf Verein B. Website, BGE 129 II 49, Urteil 5A_801/2018 vom 30. April 2019; Urteil 6B_1114/2018 vom 29. Januar 2020; Urteil 5A_546/2019 vom 5. Februar 2020. ↑
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BGE 131 IV 23, E. 3.1. ↑
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BGE 137 I 8, E. 2.5.; Zeller Franz, BSK-StGB, Art. 28, N 1 (Zeller, S.). ↑
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BGE 137 I 209, E. 4.2. ↑
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EGMR vom 21. Juni 2012, i.S. SRG vs. Schweiz (Nr. 34124/06, N 51). ↑
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Zeller, N 28; Riklin Franz, Medialex 2000, S. 203 ff. ↑
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BBI 1996, Botschaft zur Revision des Medienstrafrechts vom 17. Juni 1996, S. 526 (BBI 1996, S.). ↑
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Urteil 6B_440/2019 vom 18. November 2020, E. 5.3. ff.; Schwarzenegger, S. 223 ff. ↑
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Urteil 6B_440/2019 vom 18. November 2020, E. 5.6. ↑
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Urteil 6B_1114/2018 vom 29. Januar 2020; Steiger Martin, Bundesgerichtsurteil: Facebook als „Medium“ gemäss Art. 28 StGB, 15. Dezember 2020 (https://steigerlegal.ch/2020/12/15/facebook-medium-art-28-stgb/). ↑
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Siehe: E. 5.4.4.; BBI 1996, S. 525 ff.; Schwarzenegger Christian, Twibel – «Tweets» und «Retweets» mit ehrenrührigem Inhalt aus strafrechtlicher Sicht, in: Festschrift für Andreas Donatsch, 2017, S. 217-231, S. 223 f. (Schwarzenegger, S.); Steiger Martin, Urteil: Adolf Hitler-Retweet ist persönlichkeitsverletzend, aber nicht strafbar, 12. April 2016 (https://steigerlegal.ch/2016/04/12/adolf-hitler-retweet-urteil-volltext/) (Steiger, E.). ↑
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Für eine einheitliche Auslegung in Art. 28 StGB und Art. 28a StGB/Art. 172 StPO: Steiger, E. 4.3.3. ↑
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Urteil 6B_440/2019 vom 18. November 2020, E. 5.4.4. ↑
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Schwarzenegger, S. 224; BGE 130 IV 111, E. 3. ↑
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Schwarzenegger, S. 225; BGE 111 IV 151, E. 3. ↑
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Urteil 6B_440/2019 vom 18. November 2020, E. 5.5. ↑
-
Urteil 6B_440/2019 vom 18. November 2020, E. 5.1. ↑
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Urteil 6B_440/2019 vom 18. November 2020, E. 5.6. ↑
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Steiger, E. 4.5.2. ff.; BG ZH Urteil 2016 GG150250, E. 4.5 ff.; Schwarzenegger, S. 228 f.; siehe auch Studer, «Retweet-Urteil: Journalist durch Strafechts-Richter wegen (zivilrechtlicher) Persönlichkeitsverletzung verurteilt» (mit Teilabdruck des Urteils des Bezirksgerichts Zürich) in medialex 04/2016, Jahrbuch S. 127 ff. ↑
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Schwarzenegger, S. 228 f. ↑
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Schwarzenegger, S. 227. ↑
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Bähler Regula, Tweet und Retweet: Mitgegangen, mitgefangen – Aber nicht immer, in: Medialex, 2017, S. 40-44, S. 41. ↑
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Schwarzenegger, S. 229 f. ↑
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vgl. die in Stefan Trechsel/Marc Jean-Richard-dit-Bressel, Praxiskommentar StGB, Art. 28 N 4 f., erwähnten Beispiele, insb. den in BGE 125 IV 183 zu entscheidenden Fall der Versand eines Rundschreibens an die begrenzte Zahl von 250 Mitgliedern eines Interessenvereins ↑
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Schwarzenegger, S. 231; Juris, Kein neuer Regulierungsbedarf für Social Media, in: Jusletter IT, 18. Mai 2017. ↑
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Urteil 6B_440/2019 vom 18. November 2020, E. 5.4.3. ↑
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