Fragliche Anwendung des Quellenschutzrechts im Lichte der heutigen Individualkommunikation
Daniel Glasl, Dr. iur., H.E.E. (Bruges), Rechtsanwalt, Zürich *
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Der Quellenschutz ist gesetzlich in Art. 28a Abs. 1 StGB verankert, und zwar mit folgendem Wortlaut:
Verweigern Personen, die sich beruflich mit der Veröffentlichung von Informationen im redaktionellen Teil eines periodisch erscheinenden Mediums befassen, oder ihre Hilfspersonen das Zeugnis über die Identität des Autors oder über Inhalt und Quellen ihrer Informationen, so dürfen weder Strafen noch prozessuale Zwangsmassnahmen gegen sie verhängt werden.
I. Ein neues Phänomen
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Das Phänomen der anonymen Online-Kommentare auf News-Portalen war dem Gesetzgeber bei der Einführung des Quellenschutzes im Jahr 1998 fremd. Die digitale Revolution hat zu einer neuen Medienlandschaft geführt, in der sich Individualkommunikation und Medienarbeit vermischen. In den Sozialen Medien und auf Internetplattformen können Inhalte innert Sekunden verbreitet werden; Milliarden von Smartphone-Besitzern können jederzeit und überall mit einem Klick einen Kommentar hochladen, oft ohne Registrierung und ohne vorgängige Moderation bzw. Selektion. Man muss nicht so weit gehen wie der Sozial-Philosoph Jürgen Habermas, der mahnt, dass die Sozialen Medien die Demokratie gefährden (Habermas Jürgen, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022). Es gibt sie aber, die Tendenzen der Verrohung der Sprache, der Enthemmung im Internet, der Verbreitung von Hate Speech, Beleidigungen und Blossstellungen, persönlichen Abrechnungen und dergleichen. Dies ist (auch) Teil der heutigen Medienrealität. So nimmt der Kampf gegen Hassrede beispielsweise in der EGMR-Rechtsprechung einen wachsenden Stellenwert ein (vgl. Zeller Franz, Entscheidübersicht Verfassungsrecht und EMRK: Medienrelevante Rechtsprechung 2020, medialex 10/21).
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Angesichts der «neuen» (oder «Sozialen») Medien stellen sich zahlreiche Anwendungsfragen zum Medienstrafrecht, ja bereits die Frage, was überhaupt ein Medium im Sinne von Art. 28 f. StGB sei. Vorliegend soll das Augenmerk einzig auf die Frage gerichtet werden, ob es gerechtfertigt ist, anonyme Online-Kommentare mit mutmasslich strafbarem Inhalt, welche im Nachgang zu Medienberichten auf Medienportalen veröffentlicht werden, unter den Geltungsbereich des Quellenschutzes zu subsumieren und damit zu verhindern, dass die Staatsanwaltschaft die Identität des oder der Kommentierenden eruieren kann.
II. Historie und Zweck des Quellenschutzes
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Mit der Revision des Medienstrafrechts von 1998 wurde in Art. 28a (damals 27bis) StGB der Schutz der Quellen eingeführt (eine analoge Bestimmung findet sich in Art. 172 StPO; zum Ganzen: Zeller Franz, in: Basler Kommentar, Strafrecht Bd. I, 4. Aufl. 2019 [nachfolgend: BSK-StGB], Art. 28a StGB m.w.H.).
Dem ging ein bahnbrechendes Urteil des EGMR voraus, Goodwin vs. Grossbritannien (Urteil vom 27. März 1996, Nr. 17488/90). Im Urteil (das sich mit 11 zu 7 Stimmen für den Schutz der Quelle des Journalisten aussprach) betonten die Strassburger Richter die Wichtigkeit der Meinungsäusserungsfreiheit als eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft. Der Schutz journalistischer Quellen sei eine der Grundvoraussetzungen für die Pressefreiheit. Ohne einen solchen Schutz könnten Quellen davon abgehalten werden, die Presse bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu unterstützen. Infolgedessen könnte die wichtige Rolle der Presse als Wächterin der Öffentlichkeit untergraben und die Fähigkeit der Presse, genaue und zuverlässige Informationen zu liefern, beeinträchtigt werden.
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Die Revision zum Medienstraf- und Verfahrensrecht bezweckte – nebst dem (kaum geglückten) Einbezug der «elektronischen Medien» –, der im Laufe der Zeit gewachsenen «Bedeutung der Medien für die Meinungsbildung in unserer demokratischen Gesellschaft» angemessen Rechnung zu tragen. Es gelte, insbesondere die «vom Strafrecht gesetzten Bedingungen für die Arbeit der Medienleute» so anzupassen, dass diese «ihre Aufgabe sachgerecht erfüllen können.» Der Quellenschutz richte sich «primär an die Berufsjournalisten, die in periodischen Medien (insbesondere Presse, Radio, Fernsehen) Informationen vermitteln» (Botschaft zum Medienstraf- und Verfahrensrecht vom 17. Juni 1996, BBl 1996 IV 525 [nachfolgend: Botschaft], S. 526). Der Journalist bediene sich oft der «Dienste sogenannter Informanten», um «im Rahmen von Recherchen zu seinen Informationen zu gelangen», wobei sich letztere darauf verlassen können müssten, dass der Medienschaffende «seine Informationsquelle nicht preisgibt» (Botschaft, S. 533). Mit der Einschränkung des persönlichen Geltungsbereichs auf «Personen, welche beruflich mit der Veröffentlichung von Informationen im redaktionellen Teil eines periodisch erscheinenden Mediums befasst sind» werde deutlich gemacht, dass nicht für jede öffentliche Informationsvermittlung der gesetzliche Quellenschutz gewährt werde; dieser solle vielmehr derjenigen publizistischen Tätigkeit zukommen, die zur freien Meinungsbildung in der demokratischen Gesellschaft beitrage und für die erwünschte und nötige Transparenz in öffentlichen Dingen sorge, kurz: eine letztlich «im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe» erfülle (Botschaft, S. 553 f.). Gemäss Bundesgericht dient der Schutz journalistischer Informationsquellen der Transparenz in öffentlichen Angelegenheiten und erleichtert den Zugang der Medienschaffenden zu Informationen, «welche ihnen erst erlauben, die in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrliche Wächterfunktion der Medien wahrzunehmen» (BGE 132 I 181 E. 2.1).
III. Geltungsbereich des Quellenschutzes
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Gemäss Art. 28a Abs. 1 StGB kann der Quellenschutz nur von Personen, die sich beruflich mit der Veröffentlichung von Informationen im redaktionellen Teil eines periodisch erscheinenden Mediums befassen, angerufen werden (persönlicher Geltungsbereich). Zum Begriff der Information im redaktionellen Teil siehe unten V.2 und 3.
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Der sachliche Geltungsbereich betrifft das Zeugnis über die Identität des Autors, die Quelle der Information sowie den Inhalt der Information. Das umfasst (gemäss Botschaft, S. 557) (1) beim «Autor» seinen Namen und weitere zu seiner Identifizierung dienenden Angaben, (2) bei der «Quelle» den Namen und weitere identifizierende Angaben des Informanten, sowie (3) beim «Inhalt der Information» alle vom Informanten gegenüber dem Medienschaffenden gemachte Aussagen einschliesslich «Unterlagen jeder Art, die der Medienschaffende von Dritten im Hinblick auf ihre publizistische Verwertung erhalten hat» (Hervorhebung hinzugefügt). Diese drei Kategorien können in einen Autorenschutz einerseits und einen Quellenschutz im engeren Sinn andererseits eingeteilt werden.
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Bei einem anonymen Kommentar im Nachgang zu einem journalistischen Medienbericht geht es nicht um den Quellenschutz im engeren Sinn. Der Medienbericht ist zu diesem Zeitpunkt bereits geschrieben und Leserinnen und Leser können nach dessen Veröffentlichung mit anonymen Kommentaren darauf oder auf vorangegangene Kommentare reagieren. Ausnahmen, etwa wo ein nachträglicher Online-Kommentar Informationen enthält, die der Recherche für einen weiteren Medienbeitrag dienen, sind denkbar. Zur Frage, ob nachträglich und anonym Kommentierende unter den Autorenschutz fallen, s. unten V.1.
IV. Judikatur und Literatur
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Mit BGE 136 IV 145 hat das Bundesgericht den Quellenschutz des Schweizer Fernsehens in Bezug auf einen anonymen Kommentar bejaht, infolgedessen das Fernsehen die Identität der Kommentierenden nicht preisgeben musste. Dabei setzte sich das Bundesgericht insbesondere mit der Frage auseinander, ob es sich beim vom Schweizer Fernsehen betriebenen Blog und dem dazu ergangen Kommentar, der, schwer nachvollziehbar, wegen Namensanmassung als ehrverletzend empfunden wurde, um Informationen im redaktionellen Teil gemäss Art. 28a Abs. 1 StGB handle. Dazu führte es aus, der fragliche Kommentar sei in einen vom Schweizer Fernsehen zu verantwortenden Blog eingebettet, der seinerseits Bezug auf eine TV-Sendung nahm, womit die Kommentarspalten zum redaktionellen Teil gehörten (E. 3.4). Sodann hielt das Bundesgericht prinzipiell fest, dass der Begriff der Information weit, derjenige der Unterhaltung dagegen restriktiv auszulegen sei, was sich aus dem Stellenwert der Medienfreiheit und dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit ergebe (E. 3.8). Zu den Informationen gehörten nicht nur seriöse Botschaften, sondern auch Belanglosigkeiten. Irrelevant seien zudem der Wahrheitsgehalt, die Ernsthaftigkeit oder ob die Botschaft im allgemeinen und öffentlichen Interesse liege (E. 3.5). Auch persönliche Stellungnahmen, eigene Erfahrungen, Plaudereinen und Mischformen von Realität und Phantasie sowie Klatsch mit mehr oder weniger Zusammenhang zur Sendung fallen darunter (E. 3.7). Das Bezirksgericht Zürich schützte 2020 das Quellenschutzrecht in Bezug auf die Identität eines anonymen Kommentators auf der Webseite von «20 Minuten» (Urteilsbesprechung von Györffy Viktor, Quellenschutz erfasst nicht nur so genannt seriöse Botschaften, medialex 09/2020).
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BGE 136 IV 145 wurde in der Lehre verschiedentlich diskutiert. Zeller (Zeller Franz, Quellenschutz gilt auch für Kommentare in Blogs des Schweizer Fernsehens, Urteil des Bundesgerichts vom 10. November 2010 [1B_44/2010], medialex 2011, 55 ff.) führt aus, dass der Informationscharakter des Blog-Kommentars der einzige Streitpunkt bei der öffentlichen Beratung des Urteils darstellte, mit dem Resultat, dass zwei Richter den Informationscharakter verneinten und drei diesen bejahten. Ferner merkt er an, dass auch die Gerichtsmehrheit nicht sämtliche Einträge in Kommentarspalten unter den weit verstandenen Begriff der Information subsumieren wollte, im Ergebnis aber seines Erachtens fast jeder darunterfalle, da ein Kommentar selten rein unterhaltend sein dürfte. Weiter gibt Zeller, obschon dem Urteil zustimmend, zu bedenken, dass die vom Gesetzeber gewollte Abgrenzung zwischen Information und Unterhaltung auf publizistische Leistungen von Redaktionen passe, nicht aber auf Beiträge von redaktionsfremden Aussenstehenden. Die beiden Kategorien erschienen für Äusserungen aus dem Medienpublikum schlicht ungeeignet.
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Kritischer äussert sich Abo Youssef, welcher generell die Frage aufwirft, ob der von einem unbekannten Autor verfasste Kommentar überhaupt zur freien Meinungsbildung in der demokratischen Gesellschaft beitrage und für die erwünschte und nötige Transparenz in öffentlichen Dingen sorge (Abo Youssef Omar, Blog-Kommentar als quellengeschützte Informationen? Zugleich Besprechung von BGE 136 IV 145, forumpoenale 4/2011, 251 ff., S. 252). Dieser Autor kritisiert auch, dass die Strafverlagerung nach Art. 28 bzw. Art. 322bis StGB auf den verantwortlichen Redaktor unbefriedigend sei und gar zur generellen Straflosigkeit führen könne (Anm. Verf.: wie im Ausgangsfall der nicht erkennbaren Namensanmassung). Das Recht auf Strafverfolgung gegen die für die Straftat verantwortliche Person sollte in Fällen, in denen es um persönliche Angriffe auf eine bestimmte Person unter Verwendung von Kommentarspalten in Online-Medien gehe, nicht allzu leicht ausgehebelt werden. Dem Geschädigten und letztlich auch dem Staat könne es nicht gleichgültig sein, wer (der Kommentierende oder der verantwortliche Redaktor) für welche Tat (Ehrverletzung oder Nichtverhinderung einer strafbaren Veröffentlichung) strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werde. In Fällen von mutmasslich ehrverletzenden Kommentaren in Online-Zeitungen habe der dafür verantwortliche Autor (Verfasser des Kommentars) geradezustehen, es müsse in Kauf genommen werden, dass diesfalls der Quellenschutz nicht greife (Abo Youssef, S. 255 f.).
V. Kritische Würdigung
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Das Quellenschutzrecht von Medienschaffenden ist unbestrittenermassen ein wichtiger Eckpfeiler der Medienfreiheit in unserer demokratischen Gesellschaft. Sein Anwendungsbereich muss angesichts der neuen Realitäten aber neu gedacht und auf den ursprünglichen Zweck zurückgeführt werden. Die apodiktisch anmutende Unterstellung von anonymen Online-Kommentaren unter den Quellenschutz (mit Ausnahme von rein unterhaltenden Inhalten) überzeugt nicht. Die aus der «Prä-Blog-Epoche» (Zeller, medialex 2011, S. 56) stammende Bestimmung muss indessen nicht geändert werden, um zu einer sachgerechten Verneinung des Zeugnisverweigerungsrechts bei strafbaren Online-Kommentaren zu gelangen (a.A. Abo Youssef, S. 256).
1. Kein Autorenschutz für Online-Kommentare
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Ein erster Ansatz bezweifelt, dass für anonym Kommentierende der Schutz der Identität des Autors beansprucht werden kann (oben III., sachlicher Geltungsbereich). Das Bundesgericht hat diese Frage im Leiturteil nicht geprüft, wohl aber implizit bejaht. Der Wortlaut von Art. 28a Abs. 1 StGB legt nahe, dass primär der «Autor» des redaktionell bearbeiteten Medienberichts mit «Identität des Autors» gemeint ist, sagt das aber nicht explizit. Die Botschaft und die Materialien untermauern diese Auslegung, erwähnen am Rande aber auch Leserbriefe.
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Der Autorenschutz war bereits im StGB von 1937/1942 enthalten (s. Art. 27 Ziff. 3 Abs. 2 a.F.). Damals waren kämpferische Pseudonyme von Autoren von Presseartikeln (z.B. die von Kurt Tucholsky verwendeten Peter Panter oder Theobald Tiger) «gang und gäbe», weshalb die Anonymität von Autoren in jener Zeit die aktuelle Ausprägung des Redaktionsgeheimnisses darstellte (Botschaft, S. 544). Gemäss Botschaft ist der Autorenschutz «im (heute nur noch seltenen) Fall des anonymen Medienbeitrags von Bedeutung» (Botschaft, S. 557, Hervorhebungen hinzugefügt). Wer schreibe, als Berufsjournalist oder gelegentlicher Verfasser von Leserbriefen, tue dies in der Regel unter Namensangabe (Botschaft, S. 528).
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Der Vergleich von Kommentaren in der virtuellen Welt mit Leserbriefspalten in der gedruckten Presse zeigt grosse Unterschiede: Erstens sind Leserbriefe viel spärlicher als Online-Kommentare. Zweitens werden Leserbriefe üblicherweise von der Redaktion handverlesen und (ggf.) gekürzt oder angepasst. Es findet eine Selektion statt, ob der Inhalt zum publizierten Medienbeitrag passt. Beides fehlt bei Aufschaltung von hunderten von Online-Kommentaren innert weniger Stunden.
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Daraus lässt sich ableiten, dass anonyme Online-Kommentar-Verfasser nicht unter den Autorenschutz im Sinne von Art. 28a Abs. 1 StGB fallen, sondern als Autoren für den mutmasslich strafbaren Inhalt geradezustehen haben.
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Das entspricht auch der Branchenregelung: Die meisten Verlage verlangen die Zeichnung von Leserbriefen mit Klarnamen. Gemäss Ziff. 5.3 der Richtlinien des Schweizer Presserats müssen Online-Kommentare grundsätzlich wie Leserbriefe (mit Klarnamen) gezeichnet werden, die Anonymisierung ist nur ausnahmsweise zulässig. Der Presserat hat verschiedentlich Verstösse dagegen festgestellt, sogar bei redigierten Online-Kommentaren (vgl. Stellungnahmen 37/2015 und 16/2016). Online-Kommentare fallen somit nicht per se unter Quellenschutz. Andernfalls würde der Presserat, der den Schutz der Quelle seinen Mitgliedern sogar vorschreibt (Ziff. 6.1 der Richtlinien, Ziff. 6 der Erklärung der Pflichten), die Namensnennung des Online-Kommentar-Verfassers gerade nicht zur Pflicht machen.
2. Beschränkung auf den redaktionellen Teil
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Ein zweiter Ansatz zielt auf die Auslegung der Passage «im redaktionellen Teil eines periodisch erscheinenden Mediums». Mit der Beschränkung auf den redaktionellen Teil wollte der Gesetzgeber den Anzeigeteil in Printmedien sowie die Werbeblöcke von Radio- und Fernsehprogrammen aus dem Schutzbereich des Quellenschutzes ausschliessen. Diese würden zwar Informationen enthalten, die dahinter liegenden partikulären Interessen aber keinen Quellenschutz rechtfertigen (Botschaft, S. 555).
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In der heutigen Online-Medienwelt kann keine strikte Trennung zwischen redaktionellem Beitrag und Werbung mehr vorgenommen werden. Bei sog. Sponsored Content, Publireportagen oder überall platzierten Werbebannern vermischen sich die Grenzen. Ob ein Kommentar tatsächlich zum redaktionellen Teil gehört, sollte daher nicht alleine deshalb bejaht werden, dass er nicht im «Anzeigeteil» steht (BGE 136 IV 145 E. 3.4).
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Einige Autoren machen zudem geltend, dass Online-Kommentare für die Zuordnung zum redaktionellen Teil einer hinreichenden redaktionellen Prüfung unterliegen müssen, da, wenn keine Zusammenarbeit zwischen dem Zeugnisverweigerungsberechtigten und dem Kommentator bestehe, der Quellenschutz als nicht gerechtfertigt erscheine. Die Vertreter dieser Auffassung präzisieren, dass die Einhaltung einer blossen „Netiquette“ dafür nicht genüge, da Anstandsregeln auch im Anzeigenteil üblich seien (Trechsel Stefan/Jean-Richard-dit-Bressel Marc, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2021, N. 4 zu Art. 28a StGB). Dem ist zuzustimmen. Der Quellenschutz muss tatsächlich verstanden werden als Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Informanten und Medienleuten (Zeller, BSK-StGB, N. 4 zu Art. 28a StGB m.w.H.).
3. «Information» ist nicht alles, was nicht «reine Unterhaltung» ist
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Ein dritter Ansatz postuliert die Abkehr von der apodiktischen Zweiteilung von anonymen Kommentarinhalten in (weit verstandene) Information und (restriktiv anzunehmende) Unterhaltung. Denn es handelt sich hier nur um eine vermeintliche Dichotomie (Abo Youssef, S. 252 ff.). Schnittmengen und weitere Kategorien sind denkbar. Die Abgrenzung zwischen Information und Unterhaltung ist schon auf die publizistische Leistung von Redaktionen schwer nachzuvollziehen. Für Spontan- und Individualkommunikation aus dem Massenpublikum ist sie untauglich (Zeller, medialex 2011, 55 ff., S. 56); in diesen Fällen führt das einzig zum stossenden Ergebnis, Online-Kommentaren immer der «Information» zuzurechnen.
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Auszugehen ist vom Gesetzeswortlaut, der Information voraussetzt, nicht aber Unterhaltung ausschliesst, und von der ratio legis, mittels Quellenschutz zur freien Meinungsbildung in der demokratischen Gesellschaft beizutragen (oben II.). Ohne vom weiten Informationsbegriff grundsätzlich abzurücken, bleibt dennoch zu prüfen, ob eine bestimmte Äusserung in einem anonymen Kommentar einen genügenden Informationsgehalt aufweist, der als Beitrag zur freien Meinungsbildung in der demokratischen Gesellschaft zu werten ist und für die erwünschte und nötige Transparenz in öffentlichen Dingen sorgt, sodass sich eine Erschwerung der Strafverfolgung rechtfertigt. Dies analog der Überlegung, «Unterhaltung» nicht vom Quellenschutzrecht zu erfassen, weil es sich «nicht rechtfertigt, allein um der Unterhaltungsbedürfnisse Willen die Strafverfolgung zu erschweren» (Botschaft, S. 555). Dass Kommentare mit offensichtlichen Unwahrheiten, aber auch mit Beleidigungen, verbalen Angriffen, persönlichen Abrechnungen (vgl. Art. 173 ff. StGB) oder rassistischen Äusserungen (vgl. Art. 261bis StGB), zur freien Meinungsbildung in der demokratischen Gesellschaft beitragen und für die erwünschte und nötige Transparenz in öffentlichen Dingen sorgen, dürfte zu verneinen sein. Es ist – bei allem Bemühen um Rechtssicherheit – nicht nachvollziehbar, dass solchermassen verpönte Äusserungen stärkeren Schutz beanspruchen können als «rein unterhaltende» Äusserungen.
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Gemäss Bundesgericht spricht es für die Zuordnung des Kommentars zur Information, wenn eine «sich bedingenden Einheit» zwischen Kommentar und Medienbeitrag vorliege (BGE 136 IV 145 E. 3.6). Dies ist ein taugliches Kriterium, nicht hinreichend zwar, aber erforderlich. Die Antwort ist im Einzelfall anhand des Inhalts des fraglichen Kommentars und den konkreten Publikationsmodalitäten zu eruieren. Verlangt das Medium einen Bezug des Kommentars zum publizierten Thema und setzt es dies bei der Freischaltung von Kommentaren durch eine hinreichende redaktionelle Prüfung auch konsequent durch, dürfte eine sich bedingende Einheit vorliegen. In Fällen, wo die Kommentarspalten für alles offen sind, insbesondere bei Uploads ohne vorgängige Registrierung und Moderation und ohne vorausgehendes Editing, fehlt diese Einheit typischerweise. Erscheinen innert Stunden Dutzende oder hunderte von Kommentaren, manifestiert sich darin vielmehr eine Abkoppelung vom Medienbeitrag, es entwickelt sich eine (oft von partikulären Interessen getriebene) Eigendynamik, die Kommentare verselbständigen sich gewissermassen. Auf solche Fälle ist der Quellenschutz nicht anwendbar.
4. Quellenschutzrecht vs. Redaktionsgeheimnis
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Das Medienhaus kann, muss sich aber nicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht stützen. Ein nachträglicher Online-Kommentator muss sich auch nicht darauf verlassen können, dass seine Identität nicht offengelegt wird. In der Praxis wird denn auch regelmässig auf die Siegelung verzichtet, etwa bei rassistischen und hetzerischen Kommentaren. Es geht im Ergebnis darum, ein sachgerechtes Verständnis der Medien- und Informationsfreiheit im Sinne des Wächteramts durchzusetzen, bei dem der freie Informationsfluss nicht gestört wird und kein chilling effect entsteht. Die vorstehenden Überlegungen mögen dazu dienen, eine objektiv nachvollziehbare Praxis zu entwickeln, in der das Quellenschutzrecht verantwortungsvoll ausgeübt wird und nicht leichthin als rechtsfreien Raum für strafbare, nicht der freien Meinungsbildung in unserer demokratischen Gesellschaft dienende Inhalte missbraucht werden kann.
* Daniel Glasl, Dr. iur., H.E.E. (Bruges), Rechtsanwalt, Partner bei Bratschi AG, praktiziert als Wirtschaftsanwalt in Zürich. Er ist u.a. spezialisiert in Fragen des Medienrechts und leitet die Fachgruppe Medienrecht des Zürcher Anwaltsverbands.
Dank gebührt Frau MLaw Dinah Stricker für die Mitarbeit an diesem Beitrag.
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