Bundesratsansprachen vor Abstimmungen

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Rechtsprechungsübersicht 2022 der unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI

Oliver Sidler, Dr. iur., Rechtsanwalt, Küssnacht am Rigi

Résumé: Même si l’impression générale d’une émission est toujours déterminante pour l’évaluation des plaintes relatives aux programmes, une petite partie d’une émission peut également susciter un intérêt accru auprès du public en raison de l’attente particulière qu’elle suscite. L’AIEP a donc jugé que l’interview 1:1 dans une émission de débat constituait une violation du principe de la présentation fidèle des événementsivité. Les traditionnelles allocutions du Conseil fédéral avant les votations doivent respecter le principe de la pluralité, car la loi actuelle sur la radio et la télévision ne prévoit plus d’obligation de diffusion sous la responsabilité de l’autorité. Ce sont là deux des nombreux thèmes qui ont occupé l’AIEP durant l’année sous revue.

Zusammenfassung: Auch wenn zur Beurteilung von Programmbeschwerden immer der Gesamteindruck einer Sendung massgebend ist, kann ein kleiner Teil einer Sendung aufgrund der besonderen Erwartungshaltung zu einem erhöhten Interesse beim Publikum führen. Das 1:1-Interview in einer Diskussionssendung beurteilte die UBI entsprechend als Verletzung des Sachgerechtigkeitsgebots.
Die traditionellen Bundesratsansprachen vor Abstimmungen müssen das Vielfaltsgebot beachten, denn das geltende Radio- und Fernsehgesetz sieht keine Ausstrahlungspflicht unter Verantwortung der Behörde mehr vor. Dies sind zwei der vielen Themen, welche die UBI im Berichtsjahr beschäftigte.

I. Überblick

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Von den 27 erledigten Beschwerdeverfahren konnte die unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI im letzten Jahr 23 materiell-rechtlich beurteilen (2021: 31). Auf vier Beschwerden wurde nicht eingetreten (2021: 8). Gutgeheissen wurden fünf, teilweise gutgeheissen eine Beschwerde. Bei 17 Beschwerden wurde keine Verletzung des programmrechtlichen Sachgerechtigkeitsgebot von Art. 4 Abs. 2 RTVG oder Vielfaltsgebot von Art. 4 Abs. 4 RTVG festgestellt. Im Folgenden wird eine Auswahl der im Jahr 2022 abgeschlossenen Verfahren vorgestellt.

II. Nichteintretensentscheide

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Die meisten Nichteintretensentscheide betrafen Fälle, bei denen die formellen Voraussetzungen zur Beschwerdeführung nicht vollständig gegeben waren. Entweder lag keine enge Beziehung zum Sendegegenstand im Sinne von Art. 94 Abs. 1 RTVG vor oder die Beschwerdeführenden reichten innert der gesetzten Nachfrist nicht die notwendigen Unterzeichner nach, um den Voraussetzungen für eine Popularbeschwerde gemäss Art. 94 Abs. 2 RTVG zu genügen.

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Zwei Nichteintretensentscheide betrafen die Sendung „Meteo“ von Fernsehen SRF. Einmal (b. 934) wurde geltend gemacht, die Ombudsstelle habe sich geweigert, sich ernsthaft mit den relevanten Fakten zur politischen Propaganda und populistischen Desinformation in der Sendung zu befassen. Die UBI erinnerte aber daran, dass eine solche Rüge mit einer Aufsichtsbeschwerde gegen die Ombudsstelle der SRG beim Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) geltend zu machen wäre (Art. 91 Abs. 4 i.V. mit Art. 86 Abs. 1 RTVG). In einem anderen Fall (b. 925) wurde beanstandet, der Moderator in der Sendung habe nicht von einer aktuellen Gefahrensituation mit schweren Unwettern gewarnt und sich zudem in unwissenschaftlicher Weise über den Klimawandel geäussert. Die UBI sah kein öffentliches Interesse an der materiellen Behandlung dieser Beschwerdesache, zumal es zur Verletzung des Sachgerechtigkeitsgebots bereits eine umfassende und etablierte Rechtsprechung gebe und sich dazu keine grundsätzlichen neuen Fragen stellten. Ebenfalls kein öffentliches Interesse erkannte die UBI an der materiellen Beurteilung einer Beschwerde zu einer Reportage „rec.“ auf dem YouTube-Kanal von Fernsehen SRF zu in der Schweiz im Untergrund operierenden Zirkeln von Satanisten. Als Opfer von ritueller Gewalt wurde der Beschwerdeführer nicht zur Betroffenheitsbeschwerde gemäss Art. 94 Abs. 1 RTVG zugelassen (b. 913).

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Verfahrensgebühren in der Höhe von CHF 350.- wurde einer Beanstanderin aus dem italienischen Teil der Schweiz auferlegt, nachdem diese mit ähnlichen Beanstandungen immer wieder die Arbeiten der Ombudsleute, der SRG und der privaten Radio- und Fernsehstationen kritisierte sowie die Voraussetzungen zur Einreichung von Individualbeschwerden nicht erfüllte. Die Beschwerdeführerin wurde in verschiedenen Verfahren auf die Mängel ihrer Eingaben hingewiesen respektive über den korrekten Rechtsweg informiert (b.909. Siehe auch Rechtsprechungsübersicht 2021, in: Medialex 6/2022, N 3).

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Hinzuweisen ist schliesslich auf einen Nichteintretensentscheid der UBI (b. 901 vom 22. Oktober 2021) vom vorletzten Jahr zur Löschung eines Kommentars einer Nutzerin auf der Webseite von SRF (siehe dazu auch Rechtsprechungsübersicht 2021, in: Medialex 6/2022, N 4). Die UBI hatte damals ihre Zuständigkeit zur Beurteilung von nutzergenerierten Inhalten im Übrigen publizistischen Angebot der SRG (üpA) verneint. Das Bundesgericht hob mit Urteil 2C_1023/2021 vom 29. November 2022 (BGE 149 I 2) diesen Entscheid mit der Begründung auf, dass die SRG grundrechtsgebunden sei und Kommentare wie auch der dazugehörige redaktionelle Beitrag eine Einheit darstellten. Mit der Löschung von Kommentaren oder dem individuellen, vorübergehenden oder dauernden Ausschluss von Personen von der Kommentarfunktion greife die SRG in die Meinungsäusserungsfreiheit der Betroffenen ein. Deshalb müsse ein Rechtsweg offenstehen, der den Anforderungen der Bundesverfassung (Artikel 29a BV) genüge, weil zivil- oder strafrechtliche Rechtsmittel in diesem Zusammenhang nicht hinreichend wirksam seien (kritisch dazu: Sidler Oliver, UBI muss Beschwerden zu Löschungen von Kommentaren durch die SRG behandeln, in: Medialex 2/23).

III. Sendungen im Zusammenhang mit Covid-19

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Zweimal musste sich die UBI mit der Berichterstattung respektive der Nicht-Berichterstattung über Demonstrationen gegen die Covid-19-Massnahmen, welche am 23. Oktober, 2021 in Bern (b. 907) und am 20. November 2021 in Zürich (b. 912) stattfanden, befassen. In beiden Beanstandungen wurde gerügt, dass in den nächtlichen Nachrichtenbulletins von Radio SRF eins zwischen 23:00 Uhr und 3:00 Uhr nicht über diese Demonstrationen berichtet worden sei, an welchen einige Tausend, wenn nicht zehntausende Personen teilgenommen hätten. Über weit kleinere Kundgebungen in Frankreich und Katalonien sei dagegen berichtet worden oder über die Verschärfung der Covid-19-Massnahmen der österreichischen Regierung. Geltend gemacht wurden die Nichterfüllung des Leistungsauftrages und eine Verletzung des Sachgerechtigkeitsgebots, des Transparenzgebots und der Missachtung der Menschenwürde. Zur Nichterfüllung des Leistungsauftrages verweist die UBI mangels Zuständigkeit an die Aufsichtsbehörde, das Bundesamt für Kommunikation (Art. 86 Abs. 1 RTVG). Auch eine Verletzung des Sachgerechtigkeitsgebots war für sie nicht ersichtlich, weil ein nicht behandeltes Thema gerügt wurde. Zur Prüfung der Vielfalt gehört auch die Gewährleistung der Vielfalt der Themen bzw. Ereignisse in der Berichterstattung (Art. 4 Abs. 4 RTVG). Zu beiden Demonstrationen berichtete Radio SRF tagsüber mehrere Male in ihren Nachrichtenbulletins und in anderen Sendungen. Die UBI hält fest, dass sich „aus dem Programmrecht keine Pflicht für konzessionierte Veranstalter und speziell für die SRG ableiten lässt, über wichtige aktuelle Ereignisse wie die Demonstrationen von Bern [und von Zürich] in bestimmter Weise und insbesondere in bestimmten Sendungen zu bestimmten Zeiten zu informieren“. Im Rahmen der Programmautonomie seien die Veranstalter frei bei der Wahl der Themen, dem Sendekonzept, der Gewichtung und der Programmgestaltung im Allgemeinen. Die Beanstandungen wurden entsprechend einstimmig abgewiesen.

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Abgewiesen hat die UBI auch eine Beschwerde gegen drei Berichte in der Tagesschauhauptausgabe von Fernsehen RTS. Thematisiert wurde dort ein Artikel des „Tages-Anzeigers“, wonach der Bund auf ein Angebot, bei Lonza eine eigene Produktionslinie für den Impfstoff Covid-19 einrichten zu können, nicht eingegangen sei. Beanstandet wurde vor allem, dass von den interviewten Exponenten zu dieser Thematik schwere Vorwürfe gegen Bundesrat Berset erhoben worden seien und die Stellungnahme von Bundesrat Berset an einer Pressekonferenz zu dieser Thematik nicht korrekt wiedergegeben worden sei. Somit sei die Öffentlichkeit nicht klar über das Dementi von Alan Berset informiert worden. Für die UBI war klar, dass die Zuschauerin und der Zuschauer, welche über ein Vorwissen zur Covid-19-Problematik verfügten, sich auch zur Darstellung der Informationen aus dem Zeitungsartikel des „Tages-Anzeigers“ eine eigene Meinung bilden konnten, da die Informationen aus diesem Artikel im Tagesschau-Beitrag im Konjunktiv dargestellt worden seien. Die vom Interviewpartner im Beitrag geäusserten Vorwürfe hätten nicht Alain Berset persönlich, sondern die Bundesbehörden, d. h. den Bundesrat und das BAG in Bezug auf ihre Strategie zur Beschaffung von Impfstoffen gegen Covid-19 betroffen. Über die Pressekonferenz mit dem Dementi von Alain Berset wurde zwar erst am darauffolgenden Tag in der Tagesschau berichtet, sie lieferte aber die wichtigsten klärenden Elemente, wie sie Bundesrat Alain Berset in seiner Rede an der Pressekonferenz darlegt hatte. Damit wurde dem Publikum ermöglicht, sowohl die Situation zwischen Lonza und dem Bund zu verstehen, die zu der durch den Artikel des „Tages-Anzeigers“ ausgelösten Polemik geführt hatte, als auch die Gründe für die Weigerung der Bundesbehörden, eine eigene Produktionslinie bei der Lonza einzurichten. Insgesamt konnte die UBI keine Verletzung der Programmbestimmungen feststellen (b. 916).

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Ebenfalls die Tagesschau von Fernsehen RTS betraf eine Beanstandung zum Beitrag „Face au coronavirus, la stratégie suédoise montre ses limites“ vom 23. August 2020. Im Beitrag wurde über die schwedische Strategie zur Bekämpfung des Coronavirus, welche sich stark von derjenigen der meisten anderen europäischen Ländern unterschied, berichtet. Gerügt wurde,  der Beitrag sei einseitig und tendenziös gewesen und habe falsche Informationen enthalten. Er habe vermittelte insbesondere das Bild vermittelt, das in Schweden eine unerbittliche Selektion zulasten von älteren, kranken und schwachen Menschen stattgefunden habe. Diese Einschätzung beruhte insbesondere auf den Aussagen eines Mannes, der vom Tod seines Vaters erzählte, dem im Spital das überlebensnotwendige Beatmungsgerät verwehrt worden sei, sowie auf ein vermeintlich offizielles Dokument, in welchem aufgeführt wurde, es sei nicht notwendig, das Leben von über 80-jährigen, kranken und vorbelasteten Personen in jedem Fall zu verlängern. Am Schluss des Beitrags äusserte sich noch kurz ein Vertreter der schwedischen Gesundheitsbehörde. Insgesamt kommt die UBI zum Schluss, dass es die Redaktion unterlassen habe, zusätzliche relevante Informationen zu den thematisierten Aspekten zu vermitteln und eine Einordnung vorzunehmen. Die kurze Stellungnahme der schwedischen Gesundheitsbehörde am Ende des Beitrags ändere nichts am einseitigen und tendenziösen Charakter des Beitrags. Mit sechs zu drei Stimmen hiess die UBI eine Verletzung des Sachgerechtigkeitsgebots gut (b.900).

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Im Rahmen der Sendung „Mise au Point“ vom 14. November 2021 strahlte Fernsehen RTS eine Reportage über das vergiftete politische Klima in der Schweiz im Vorfeld der Volksabstimmung vom 28. November 2021 über die Änderung des Covid-19-Gesetzes aus. Daran gerügt wurde, dass die Gegner der staatlichen Massnahmen unzureichend zu Wort gekommen seien und auf die Gründe für das verschlechterte politische Klima und der Verantwortung der Massnahmen-Befürworter dafür nicht eingegangen worden sei. Die Ausstrahlung der Reportage war in der sensiblen Phase vor einer Volksabstimmung erfolgt und somit für die Willensbildung zur Volksabstimmung relevant. Mit sechs zu drei Stimmen war die UBI dieser Meinung, dass Reportage die Willensbildung der Stimmberechtigten habe beeinflussen können, obwohl die Vorlage nicht das eigentliche Thema der Reprotage war, in der mehrheitlich Stimmen zu Wort kamen, welche über Drohungen und Beleidigungen wegen ihrer positiven Haltung zu den staatlichen Covid-Massnahmen geklagt hatten. Personen, welche die Massnahmen ablehnten, kamen nur am Rande in viel kürzeren Sequenzen und sehr allgemein gehalten zur Sprache. Dieses Ungleichgewicht und die dadurch vermittelte Stimmung benachteiligten nach Auffassung der UBI die Gegnerschaft des Covid-19-Gesetzes führte zu einer Unausgewogenheit. Die aus dem Vielfaltsgebot abgeleiteten besonderen Anforderungen zur Gewährleistung der Chancengleichheit im Hinblick auf bevorstehende Volksabstimmungen habe die Redaktion deshalb nicht erfüllt (b. 915).

IV. Zur Rolle und Aufgabe des Moderators in Sendungen

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An die Programmautonomie der Veranstalter erinnerte die UBI auch im Entscheid b. 914 zur Sendung „Infrarouge“ vom 15. September 2021 von Schweizer Radio und Fernsehen RTS 1. Bei dieser Diskussionssendung ging es um praktische und ethische Probleme, die sich aus der Einführung des Covid-Zertifikats ergaben. Radio und Fernsehen sind in Bezug auf die Programmgestaltung, d. h. insbesondere die Art und Weise der inhaltlichen Aufbereitung und Präsentation sowie die Wahl des Themas, des Blickwinkels und der Interviewpartner frei. Die Diskussionssendung behandelte Fragen im Zusammenhang mit der Umsetzung des Covid-Zertifikats; es ging dabei nicht um eine allgemeine Diskussion über Impfstoffe oder die Impfungspolitik des Bundes, auch wenn eine gewisse Beziehung zum Covid-Zertifikat bestand. Das Thema war somit insofern eingegrenzt. Die UBI erinnerte daran, dass das Publikum zum Zeitpunkt der Ausstrahlung des beanstandeten Beitrags bereits über ein breites Vorwissen zur Covid-19-Thematik, insbesondere zur gesundheitlichen und medizinischen Situation sowie zur Gesundheitspolitik der Schweizer Behörden im Allgemeinen verfügt habe. Die Auswahl der Diskussionsteilnehmer, die nach Ansicht der Beschwerdeführer nicht ausgewogen war, bestand gemäss UBI aus Personen mit unterschiedlichen und versierten Meinungen, die den Zuschauern einen breiteren Blick auf das Covid-Zertifikat und die damit verbundenen Probleme ermöglicht habe. Die Debatte habe einen Einblick in die Gründe für den Positionswechsel einiger Gäste, insbesondere eines (wissenschaftlichen) Medizinethikers gegeben. Die Beschwerdeführer kritisierten weiter, einige Diskussionsteilnehmer hätten Lügen verbreitet, ohne dass diese vom Moderator hinterfragt worden seien. Die UBI erinnert daran, dass der Moderator einer Live-Diskussionssendung vor allem die Aufgabe habe, die Diskussion fair und anständig ablaufen zu lassen. Er habe sowohl den Befürwortern des Covid-Zertifikats das Wort erteilt, damit sie sich zu den Äusserungen der Gegenseite hätten äussern können, als auch umgekehrt. Dadurch sei eine Ausgewogenheit der Debatte gewährleistet gewesen. Der Moderator habe die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Diskussion ihr Ziel erreiche, nämlich die notwendigen Anhaltspunkte für die Beurteilung der behandelten Fragen zu liefern, erfüllt (vgl. dazu auch b. 784). Mit sechs zu drei Stimmen wies die UBI die Beschwerde ab (b. 914).

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Auch in einem anderen Verfahren warfen die Beschwerdeführer dem Moderator vor, in einem Interview die Antworten des Gastes zu wenig zu hinterfragen und mit kritischen Fragen einzugreifen. Die Sendung „Tribu“ vom 22. Juni 2021 auf Radio RTS La Première thematisierte in einem rund 25 minütigen Beitrag die Bedeutung von Geschlechterfragen bei der Ablehnung des islamischen Schleiers, und zwar bei nicht-muslimischen Personen. Als Gast war eine Oberassistentin am Institut für Psychologie der Universität Lausanne eingeladen, welche das Buch „Genre et Islamophobie. Discriminations, préjugés et représentations en Europe» verfasst hatte. Die UBI verwies wiederum auf die Programmautonomie und das Vorwissen der Zuhörerschaft über die Thematik des islamischen Schleiers bzw. der Vollverschleierung. Nach Ansicht der UBI wurde der Gast korrekt vorgestellt und die Zuhörer konnten ihre Gedanken und Meinungen klar erkennen. Auch die Fragen des Moderators und die Antworten des Gastes waren klar. Erkennbar sei auch gewesen, dass die Antworten der Interviewpartnerin entweder Ergebnisse ihrer sozialpsychologischen Forschung und Studien oder ihre persönliche Meinung waren. Es sei nicht nötig gewesen, dem Gast kritische Fragen zu stellen, das Gespräch durch weitere Fragen zu vertiefen oder den Standpunkt der Gegner der Gesichtsverhüllung oder des Kopftuchs darzustellen. Es habe sich um ein Interview mit einem Gast und nicht um eine kontroverse Diskussion mit verschiedenen Fachleuten gehandelt. Hörerinnen und Hörer hätten sich frei eine eigene Meinung zum Thema der Sendung bilden können (b. 918).

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Zum Thema Scharia, das Rechtssystem des Islams, strahlte Radio SRF 4 am 19. August 2021 ein Expertengespräch mit einem Islamwissenschaftler aus. Gerügt wurde – wie auch schon im erwähnten Fall b.918 – die Wahl des Experten, dessen Religionszugehörigkeit nicht erwähnt wurde, wie auch der Verzicht darauf, dem Experten kritische Fragen zu stellen. Die UBI wies die Beschwerde einstimmig ab und verwies betreffend Auswahl einer Expertin oder eines Experten auf die Programmautonomie. Vorliegend sei der Experte klar und transparent vorgestellt worden und seine Religionszugehörigkeit sei zur Meinungsbildung nicht notwendig gewesen. Aufgrund der Anmoderation sowie des Gesprächs sei klar erkennbar gewesen, dass im Beitrag die Sichtweise des Experten und damit die Ansichten dieses Islamwissenschaftlers wiedergegeben worden seien und nicht wissenschaftliche Fakten. „Expertinnen und Experten werden im Rundfunk häufig beigezogen, um komplexe Sachverhalte zu erklären und verständlich zu machen. Die Redaktionen dürften, je nach beigezogener Person, nicht immer gleichlautende Antworten auf ihre Fragen erhalten, gibt es doch regelmässig unterschiedliche oder zumindest differenzierte Meinungen unter Fachleuten zu Themen innerhalb einer Wissenschaftsdisziplin. Dieser Umstand kann auch bei den Zuhörenden der beanstandeten Nachrichtensendung als bekannt vorausgesetzt werden“ (b. 903, Ziff. 3.3).

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In einer Diskussionssendung zur Volksabstimmung über das Bundesgesetz über ein Massnahmenpaket zugunsten der Medien im Rahmen der Sendung „Tagesgespräch“ von Radio SRF vom 14. Januar 2022 rügte ein Beschwerdeführer, dass die Aussage einer Teilnehmerin, die „Freunde der Verfassung“, welche das Referendum gegen das Bundesgesetz über ein Massnahmenpaket zugunsten der Medien ergriffen hatten, hätten die Demokratie hätten stören wollen.  nicht berichtigt worden sei. Der Moderator habe andere Gesprächsteilnehmer damit konfrontiert und dabei seien die „Freunde der Verfassung“ als „Demokratiefeinde“ bezeichnet worden. Die UBI wies darauf hin, dass Vorwürfe gegen nicht anwesende Personen oder Vereinigungen im Lichte des Sachgerechtigkeitsgebots nicht unproblematisch seien und allenfalls einer Intervention des Moderators bedürften. „Vorliegend gilt es allerdings darauf hinzuweisen, dass sich die entsprechende Aussage von Aline Trede gegen eine politische Gruppierung richtete. In der politischen Debatte und insbesondere im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen sind raue Töne und angriffige Vorwürfe zwischen den verschiedenen Seiten keine Seltenheit. Werden daher in einer politischen Diskussionssendung gegen eine nicht vertretene (Gegen-)gruppierung Vorwürfe erhoben, wie dies Aline Trede in der beanstandeten Sendung getan hat, ist es nicht notwendig, dass der Moderator eingreift. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die freie Meinungsbildung der Zuhörenden zum eigentlich behandelten Thema nicht beeinträchtigt wird“ (b. 910, Ziff. 5.4).

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Die UBI scheint vorliegend einen Unterschied zu machen zwischen politischen Gruppierungen und anderen Vereinigungen. Tatsächlich dürfte diese Unterscheidung, die in einem Falle zur Intervention des Moderators führt und im anderen nicht, geeignet sein, im Lichte des Sachgerechtigkeitsgebots Meinungskämpfe und Debatten zu beleuchten. Es dürfte im vorliegenden Fall für die Durchschnittshörerinnen und -hörer jedoch etwas schwierig gewesen sein, diesen Vorwurf richtig einzuordnen. Offenbar bezog sich diese Aussage auf eine öffentliche Aussage des ehemaligen Mediensprechers der „Freunde der Verfassung“, der gesagt hatte, dass er keine bessere, sondern gar keine Regierung mehr wolle. Diese Einordnung fehlt im beanstandeten Beitrag und es wäre meines Erachtens Aufgabe des Moderators gewesen, zumindest ganz kurz auf diese Aussage hinzuweisen. Insgesamt wurde die Beschwerde von der UBI einstimmig abgewiesen (b. 910).

V. Vorverurteilung und Unschuldsvermutung

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Ein  wegen Urkundenfälschung angeklagter Rechtsanwalt beschäftigte die unabhängige Beschwerdeinstanz bereits 2021 (vgl. dazu Rechtsprechungsübersicht 2021, in: Medialex 6/22, N 22) und erneut auch im Berichtsjahr. Schweizer Radio und Fernsehen RTS La Première berichtete in einem ca. einminütigen Bericht über die Bestätigung des Kantonsgerichts (zweiter Instanz), dass ein Anwalt wegen Urkundenfälschung verurteilt worden sei. Dazu gab es auch einen kurzen Artikel auf der Webseite des Radiosenders. Der betroffene Anwalt rügte insbesondere, die Fakten seien nicht wahrheitsgemäss wiedergegeben worden. Zudem sei die Unschuldsvermutung sowie die Pflicht, ihm das Wort zu erteilen, verletzt worden. Die UBI wies die Beschwerde einstimmig ab und wies darauf hin, dass beide Beiträge über die Entscheidung des Kantonsgerichts berichteten, mit der die erstinstanzliche Verurteilung des Anwalts wegen Urkundenfälschung bestätigt worden war. Dies sei für die Zuschauerinnen und Zuschauer wie auch Leserinnen und Leser klar gewesen, hätten doch die Informationen vollständig aus Auszügen und Zitaten aus dem Urteil des Kantonsgerichts basiert, die korrekt und transparent wiedergegeben worden seien. In der Reportage wie auch im Online-Artikel sei der Name des betroffenen Rechtsanwaltes nie genannt worden. Ganz am Schluss des Beitrags habe der Journalist erwähnt, dass der Anwalt gegen das Urteil beim Bundesgericht rekurrieren könne und, falls das Urteil rechtskräftig würde, er mit dem Ausschluss aus der Anwaltskammer rechnen müsse. Mit diesem Schlussstatement war gemäss der UBI klar, dass die Entscheidung des zweitinstanzlichen Kantonsgerichts nicht endgültig und vollstreckbar war und die Strafsache vom Bundesgericht neu verhandelt werden könne, wenn der Anwalt Beschwerde einlege. Damit sei die Unschuldsvermutung respektiert wurden.

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Meines Erachtens ist es oft zweifelhaft, ob der lapidare Hinweis auf die Unschuldsvermutung ganz am Schluss eines Artikels oder eines Beitrags wirklich noch dazu beiträgt, dass der Leser respektive die Zuschauerin die zuvor gemachten Verdächtigungen zu relativieren vermag. Im vorliegenden Fall ging es aber nicht um Verdächtigungen, sondern um Tatsachen, die aus einem zweitinstanzlichen Urteil zitiert wurden. Ob es genügt, nur auf den möglichen weiteren Rechtsweg hinzuweisen, damit  Zuschauer und die Zuschauerinnen erkennen, dass ein Urteil noch nicht rechtskräftig ist, bezweifle ich. Für Rechtskundige mag dies der Fall sein, aber ob der Durchschnittsleser und -zuschauer daraus dieselben Schlüsse ziehen kann, muss offengelassen werden. Für die UBI konnte der Online-Beitrag aufgrund des gewählten Titels (welcher dem Verfasser nicht bekannt ist) suggerieren, dass der beschwerdeführende Rechtsanwalt (endgültig) verurteilt worden sei und als (unzweifelhaft) schuldig dargestellt werde. Da aber offenbar bereits in der Einleitung darauf hingewiesen worden war, dass der Anwalt beim Bundesgericht Beschwerde einlegen könne, fand die UBI, hätten Zuschauerinnen und Zuschauer verstehen müssen, dass der Entscheid noch nicht rechtskräftig war (b. 911).

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Das Bundesgericht bestätigte mit Urteil 2C_432/2022 vom 31. Oktober 2022 den Entscheid der UBI (b.863 vom 9. Dezember 2021) zu einem Bericht über den besagten Anwalt über die erstinstanzliche Verurteilung (siehe Rechtsprechungsübersicht 2021, in: Medialex 6/22, N. 22).

VI. Bundesratsansprachen und das Vielfaltsgebot

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Seit 1971 besteht die Tradition in Schweizer Radio und Fernsehen, Bundesratsansprachen vor eidgenössischen Initiativen auszustrahlen. Die alte Rundfunkgesetzgebung sah noch vor, dass Veranstalter auf Anordnung der Konzessionsbehörde behördliche Erklärungen verbreiten oder einer Behörde angemessene Sendezeit einräumen mussten. Mit der Gesetzesrevision von 2006 wurde diese Bestimmung fallen gelassen; für die Ausstrahlung der bundesrechtlichen Sichtweise vor eidgenössischen Abstimmungen besteht damit keine rundfunkrechtliche Pflicht mehr.

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Zurecht wies die UBI im Entscheid b. 919 vom 1. September 2002 darauf hin, dass auch Art. 10a des Bundesgesetzes über die politischen Rechte, welche eine gesetzlichen Informationsauftrag des Bundesrates statuiert, nicht als rundfunkrechtlichen Verpflichtung aufgefasst werden könne. Vielmehr sei das Vielfaltsgebot gemäss Art. 4 Abs. 4 RTVG massgebend und „der Zeitpunkt und die Intensität der Stellungnahme bedingen eine strenge Anwendung des Vielfaltsgebot mit den damit verbundenen besonderen Anforderungen für abstimmungsrelevante Sendungen“ (b. 919 Ziff. 5.7). Die beanstandete Sendung betraf die Volksabstimmung zur Übernahme der EU-Verordnung zur europäischen Grenz- und Küstenwache. Sie vermittelte naturgemäss den Standpunkt von Bundesrat und Parlament und war nach Ansicht der UBI parteilich und insgesamt unausgewogen. „Radio SRF 1 räumte dem Referendumskomitee keine gleichwertige Möglichkeit ein, seine Sichtweise darzulegen. Der Moderator wies auch nicht auf andere Sendungen im Programm hin, in denen die Sichtweise der ablehnenden Seite zum Ausdruck gekommen wäre oder noch zum Ausdruck kommen würde. Dem Prinzip der Chancengleichheit als wichtige journalistische Sorgfaltspflicht bei abstimmungsrelevanten Beiträgen wurde deshalb nicht Genüge getan“ (b. 919, Ziff. 5.9).

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Die UBI wies die Beschwerde einstimmig ab. Vor Bundesgericht ist ein Rekurs gegen diesen Entscheid der SRG abhängig.

VII. Umstrittenes konfrontatives Interview

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Um die Führung von Interviews ging es in den Entscheiden b. 920/921/922 vom 1. September 2022. Im Rahmen der Sendung „Arena“ vom 18. März 2022 „Parteispitzen zum Ukraine-Krieg“ führte der Moderator mit SVP-Politiker Thomas Aeschi ein sogenanntes 1:1-Interview, ein Format, bei dem kritische, harte und allenfalls provokative Fragen gestellt werden. Thema des kurzen Interviews war eine Aussage Aeschis, die dieser zuvor öffentlich gemacht hatte: „Es darf nicht sein, dass Nigerianer oder Iraker mit ukrainischen Pässen plötzlich 18-jährige Ukrainerinnen vergewaltigen. Das darf nicht zugelassen werden“. Der Moderator qualifizierte diese Aussage als „glasklar“ rassistisch und liess sich von Aeschi, der dies zu widerlegen versuchte, nicht beeindrucken. Er erwähnte die eidgenössische Kommission für Rassismus sowie nicht genannte Staatsanwälte und Strafrechtsexperten als Quelle für seine Qualifikation. Auf die Aeschis Bemerkung, dass die erwähnte Kommission links-politisch zusammengesetzt sei, erwidere der Moderator lediglich, dass dies „jetzt ganz billig sei“ und wiederholte die Reaktion von Staatsanwälten und Strafrechtsexperten, die betont hätten, die Aussage sei rassistisch gewesen. Nur aufgrund der parlamentarischen Immunität habe Aeschi keine strafrechtlichen Konsequenzen zu befürchten. Nach Meinung der UBI war für das Publikum die Einschätzung des Moderators nicht klar einzuordnen. So habe er sozialwissenschaftliche und strafrechtliche Gesichtspunkte des Rassismusvorwurfs vermischt, indem er verschwiegen habe, dass es sich bei der Stellungnahme der eidgenössischen Kommission für Rassismus, die den zentralen Beleg des Moderators bildete, um keine rechtliche Beurteilung handelte. Unvollständig seien auch die Ausführungen zur parlamentarischen Immunität gewesen: „Aufgrund der Wortwahl, des Tonfalls und seiner vorangegangenen Ausführungen ist jedoch davon auszugehen, dass es vom Publikum nicht nur im Sinne einer Eröffnung eines Strafverfahrens verstanden wurde, sondern dahingehend, dass der SVP-Fraktionspräsident auch verurteilt würde“ (b. 920/921/922 Ziff. 5.8). Zudem seien  Antworten Aeschi seitens des Moderators mehrmals verbal abgewertet worden. Nach Meinung der UBI konnte sich das Publikum zu den im 1:1-Interview vermittelten Informationen keine eigene Meinung bilden. Es habe die Transparenz bei den Quellen und ihrer Relevanz gefehlt, das Fairnessgebots sei bei der Anhörung  Aeschis nicht eingehalten worden und die  Recherche sei angesichts der gravierenden Vorwürfe, die gegen den SVP-Nationalrat erhoben wurden, ungenügend gewesen (b. 920/921/922, Ziff. 5.13). Auch wenn zur Beurteilung von Programmbeschwerden immer der Gesamteindruck massgebend ist und das Interview nur einen kleinen Teil der gesamten Diskussionssendung darstellte, geht die UBI davon aus, dass die Aussagen von Herrn Aeschi, die bereits vor der Sendung für grossen Wirbel gesorgt hatten, zu einem erhöhten Interesse beim Publikum führten und „eine besondere Erwartungshaltung für diesen Aspekt, welche im Übrigen auch einen Bezug zur Thema der Sendung aufwies (b. 920/921/922, Ziff. 5.14). Die UBI hiess die Beschwerden mit sieben zu zwei Stimmen gut. Der Entscheid ist rechtskräftig (b. 920/921/922).

VIII. Transidentitäten, Konversionstherapien und Gendersternchen

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Mit Entscheid vom 1. September 2022 wies die unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen eine Beanstandung gegen die Sendung „Rundschau“ vom 26. Januar 2022 mit einem Beitrag über „Heilung“ von Homosexualität mit anschliessendem Studiogespräch ab. Beanstandet wurde im Wesentlichen, dass von der Redaktion nur eine Lösung, nämlich ein Verbot der sogenannten Konversionstherapie, als richtig dargestellt worden sei. Auch das Interview mit dem Generalsekretär der schweizerischen evangelischen Allianz sei nicht fair geführt worden. Die UBI pflichtete den Beschwerdeführenden insofern bei, als der Beitrag und insbesondere der Filmbericht über das komplexe Thema von Konversionstherapien differenzierter hätte ausgestaltet werden können. Insgesamt jedoch seien die wesentlichen Fakten korrekt dargestellt worden und persönliche Ansichten als solche erkennbar gewesen. Die Standpunkte der im Filmbericht kritisierten Therapeutinnen und des Seelsorgers sowie der Gegner eines Konversionstherapieverbots seien im Beitrag in angemessener Weise zum Ausdruck gekommen (b. 917).

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RTS strahlte im Rahmen der Fernsehsendung „36.9°“ vom 12. Januar 2022 einen Bericht aus zu Fragen der Transidentität im Zusammenhang mit der Gesundheit, insbesondere der Betreuung in der Westschweiz von Personen, bei denen eine Geschlechtsdysphorie diagnostiziert wurde, sowie von deren Angehörigen. Die Beschwerdeführer rügten, die Reportage habe eine einseitige und partielle Sicht auf das Phänomen der Transidentität und deren medizinische Auswirkungen dargestellt. Insbesondere sei sie auch geeignet gewesen, ein jugendliches Publikum zu beeinflussen. Nach Ansicht der UBI aber hatten die Zuschauer Vorkenntnisse über diese Thematik, und der medizinische (trans-affirmative) Ansatz sei transparent und erkennbar als solcher dargestellt worden, wodurch die Zuschauer nicht getäuscht worden seien. Nicht notwendig sei gewesen, eine Gegenstimme zu Wort kommen zu lassen, da es sich nicht um eine Debattenreportage gehandelt habe. Zwar seien einzelne Behandlungen nicht erwähnt worden, aber dennoch seien verschiedene Behandlungsmöglichkeiten vorgestellt worden mit dem Schwerpunkt auf begleitende psychiatrische Beratung.

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In Bezug auf die mögliche Beeinflussung von Jugendlichen meinte die UBI, der Umstand, dass ein Bericht so beschaffen sei oder sein könne, dass er ein jugendliches Publikum beeinflusse oder verwirre, stelle noch keinen Verstoss gegen das Programmrecht dar. Diese Feststellung machte die UBI nicht unter dem Aspekt des Sachgerechtigkeitsgebots, sondern unter dem Titel der Verletzung von Art. 5 RTVG (Jugendschutz).

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Meines Erachtens ist der UBI insofern zuzustimmen, als die Aussagen für Jugendliche nicht unangemessen waren und auch keine unangemessenen Bilder gezeigt wurden, sondern ein aktuelles Thema aus medizinischer Sicht behandelt wurde (b. 924).

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Eine Mitteilung von SRF-News auf ihrem Instagram-Kanal, dass die Social-Media-Redaktionen zukünftig statt des Gendersternchens den Doppelpunkt benützen würden, führte zur Gutheissung einer dagegen erhobenen Beschwerde. Moniert wurde, dass in der Mitteilung auf die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) verwiesen wurde, die diesen pragmatischen Einsatz der Kurzform anerkennen würde. Die UBI fand, dass diese Gesellschaft zwar die Bemühungen um eine geschlechtergerechte Sprache unterstütze, aber der Doppelpunkt ausdrücklich nicht empfehle, da dieser grammatikalische Probleme verursache. Da es sich bei dieser falschen Bezugnahme im Rahmen eines verhältnismässig kurzen Beitrags in eigener Sache zu einem kontroversen Thema um keinen Nebenpunkt handelte, hiess die UBI die Beschwerde mit sieben zu zwei Stimmen gut. (b. 898).

IX. Krawalle und Schusswaffen

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Beanstandet wurde ein Beitrag über die stark gestiegene Nachfrage nach Schusswaffen in der Tagesschau vom 21. April 2022, in dem unter anderem ein Experte der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften zu Wort kam. Gerügt wurde, es sei der falsche Eindruck erweckt worden, dass die Ursache für die Zunahme der Gesuche für einen Waffenschein nicht in einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis infolge des Krieges in der Ukraine, sondern in einer höheren Gewaltbereitschaft bei bestimmten Personengruppen wie militanten Verschwörungstheoretikern und martialischen jungen Männern liege. Dafür gebe es keine Grundlagen, Daten oder Statistiken. Die UBI meinte dazu im Entscheid b. 928, dass es nicht ihre Aufgabe sei zu bewerten, ob die Auffassung des Experten oder diejenige des Beschwerdeführers zutreffe bzw. wahrscheinlicher sei und ob die im Beitrag geäusserte Meinung des Experten sich auch in seinen Studien widerspiegle. Entscheidend sei im Lichte des Sachgerechtigkeitsgebotes, dass es sich bei den umstrittenen Aussagen in für das Publikum erkennbarer Weise um keine Tatsache, sondern die Auffassung des Experten gehandelt habe, was auch anhand der Wortwahl des Experten für das Publikum erkennbar gewesen sei (b. 928). Als irreführend bezeichnete die UBI dagegen den Satz in der Anmoderation, dass Experten die Zunahme der Gesuche nicht als grösseres Sicherheitsbedürfnis, sondern als höhere Gewaltbereitschaft interpretierten. Im Filmbericht selbst aber war lediglich ein Experte dieser Meinung. In diesem Sinne sei die Anmoderation zu wenig differenziert gewesen. Diese zugespitzte Darstellung in der Anmoderation alleine bedeutete für die UBI noch keine Verletzung des Sachgerechtigkeitsgebots (b.928).

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Mit angeblich verschwiegenen respektive bewusst unterschlagenen wesentlichen Informationen zu den Krawallen in mehreren schwedischen Städten am Osterwochenende 2022 befasste sich die UBI im Entscheid b. 923 vom 3. November 2022. Konkret wurde ein Online-Artikel von srf.ch gerügt. Die gewalttätigen Aktionen seien nicht durch rechtsextreme Personen begangen worden, wie der Bericht suggeriere, sondern von muslimischen Männern, die sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt gefühlt hätten. Die UBI analysierte den Text detailliert und kam zum Schluss, dass sich eine Zuweisung der Verantwortlichkeit weder aus dem Titel noch aus der hervorgehobenen Zusammenfassung oder dem übrigen Text ableiten lasse. Der Artikel hatte sich auf Meldungen von Nachrichtenagenturen gestützt, und die Inhalte stimmten weitgehend mit den entsprechenden Quellen überein, welche bezüglich der Urheberschaft die Aussagen des Polizeichefs an einer Pressekonferenz beinhalteten. Im Zeitpunkt der Veröffentlichung gab keine gesicherten Belege dafür, dass muslimische Migranten für die Krawalle verantwortlich gewesen seien. Der beanstandete Text habe somit auf anerkannten Agenturen und seriösen Quellen basiert (vgl. dazu auch b. 800).

X. Zugang zu Musikprogramm und satirische Begriffe

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Mit einer Zugangsbeschwerde beschäftigte sich die UBI in der Entscheidung b.930 vom 15. Dezember 2022. Der Beschwerdeführer forderte, dass seine Werke – oder zumindest einige – auf dem Radiokanal „Option Musique“, dem vierten Radiokanal der RTS, der sich in erster Linie auf das Repertoire des französischsprachigen Chansons konzentriert, auszustrahlen seien. Bei der Prüfung der Frage, ob ein Veranstalter Zugang zum Programm gewähren muss, ist zu klären, ob eine unzulässige Diskriminierung vorliegt, wenn dies nicht geschieht. Auch muss die Autonomie der Sender berücksichtigt werden, die sie bei der Auswahl ihrer Themen frei lässt. Die Kompositionen des Beschwerdeführers sind dem in den 1970er-Jahren angesagten Stil des französischen Chansons mit einem Hauch von Varieté zuzuordnen. Der Radiosender „Option Musique“ hatte sich jedoch seit 2016 von diesem Kurs weg in Richtung aktueller und moderner Klänge bewegt. Deshalb sei, so die Stellungnahme der SRG, anhand von Kriterien wie Textqualität, Engagement, Instrumentierung, Melodie und Interpretation dem Künstler eine Absage erteilt worden, seine Lieder auszustrahlen.

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Die UBI war der Meinung, dass es keinen Hinweis für einen systematischen Boykott der Lieder des Beschwerdeführers aus ideologischen oder politischen Gründen gebe. Eines seiner Lieder habe ein anderer Sender (La Première) am 27. Mai 2022 ausgestrahlt. Dass seine Lieder nicht regelmässig auf den Radiokanälen von RTS gespielt würden, reiche für sich allein nicht aus, um eine diskriminierende Zugangsverweigerung zu begründen. Eine Verpflichtung zur Ausstrahlung eines bestimmten Themas oder gar bestimmter Lieder bestehe laut Bundesgericht in der Praxis nur in Ausnahmefällen (Urteil 2C_589/2018 vom 5. April 2019). Am Ende wies die UBI noch darauf hin, dass der Beschwerdeführer über die von der SRG betriebene Musikplattform www.mx3.ch seit 14 Jahren seine Lieder verbreitete (b.930).

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Die Facebook-Seite von SRF Comedy ist nicht ein digitales Archiv, sondern bildet einen Teil des übrigen publizistischen Angebots (üpA) der SRG im Sinne von Art. 25 Abs. 3 Bst. b RTVG. Dies hält die UBI im Entscheid b. 927 vom 3. November 2022 fest. Massgebend sei somit nicht der Zeitpunkt der Erstausstrahlung im linearen Fernsehen, sondern die Publikation im üpA. Ein redaktionell unveränderter Ausschnitt einer früheren Sendung wurde am 13. Mai 2022 auf der genannten Facebook-Seite veröffentlicht. Der Beanstander rügte, dass das im Beitrag verwendete Wort «Shipi» eine beleidigende und diskriminierende Bezeichnung für Menschen albanischer Herkunft, die ihren Ursprung in der serbokroatischen Sprache habe, sei. Im knapp viereinhalb Minuten dauernden Beitrag besucht Müslüm den Walter Zoo in Gossau und thematisiert vor allem die ausländische Herkunft der Tiere und vergleicht ihre Integration mit denjenigen von Menschen. In einer Sequenz ruft ein Pfleger einen Schimpansen, der „Tzipi“ heisst. Müslüm versteht «Shipi» und sagt: «Ah! Jetzt komme ich draus; die Kinder auf der Strasse sagen immer ‘Hey Shipi!’.», und verwendet diesen Namen später noch einmal, indem er den Schimpansen entsprechend benennt.

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Für die UBI war der satirische bzw. humoristische Charakter klar erkennbar. Zum verwendeten Ausdruck meinte sie: „Ob der Ausdruck für Menschen albanischer Herkunft tatsächlich im Sinne des Diskriminierungsverbots pauschal abwertend bzw. ausgrenzend ist oder eben nicht, lässt sich trotz der an sich nachvollziehbaren Ausführungen beider Parteien mangels hinreichender Belege in eine Richtung nicht mit Bestimmtheit sagen. Für die vorzunehmende programmrechtliche Beurteilung des Clips respektive der beanstandeten Sequenzen im Sinne von Art. 4 Abs. 1 RTVG spielt dies jedoch ohnehin keine entscheidende Rolle und kann deshalb offengelassen werden. Ob ein satirischer bzw. humoristischer Beitrag diskriminierend ist, hängt primär von der damit vermittelten Botschaft ab (…). Im Zusammenhang mit der Verwendung einer umstrittenen Bezeichnung gilt es, den Kontext zu berücksichtigen“ (b. 927, Ziff. 5.2). Im Beitrag wurde auf das Phänomen von adaptierter Sprache und den speziellen jugendkulturellen Hintergrund Bezug genommen, ohne eine Bewertung abzugeben. Eine diskriminierende Botschaft in den betreffenden Sequenzen durch den Gebrauch der strittigen Bezeichnung „Shipi“ konnte die UBI nicht feststellen und wies die Beschwerde einstimmig ab (b. 927).

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