Übersicht zur Praxis des Schweizer Presserats des Jahres 2023
Michael Schweizer, Dr. iur., Rechtsanwalt, Bern[1]
I. Einleitung
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Nach den Corona-Rekordjahren 2020 und 2021 sank die Zahl der Beschwerden im 2022 von 159 auf 85 und damit in etwa auf den langjährigen Durchschnitt vor den Pandemiejahren.[2] Im 2023 überschritt die Anzahl der eingegangenen Beschwerden wieder die 100er-Marke. 74 hängige Beschwerdeverfahren hat der Presserat im 2023 erledigt. 23 Beschwerden hiess er ganz oder teilweise gut, 25 wies er ab. Auf 26 Beschwerden trat der Presserat nicht ein.[3]
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Das hohe Interesse an einer medienethischen Beurteilung bestätigt die Bedeutung des Presserats[4]; es finanziert ihn nicht. Tatsächlich korrelieren Faktoren wie Output, Qualität oder Schlagkraft einer Institution mit ihren effektiven Ressourcen. Die knappen Finanzen und die drohende Überlastung hängen denn auch seit Jahren wie eine dunkle Wolke über dem Presserat. Der Bund hatte die Situation erkannt: Das Massnahmenpaket zu Gunsten der Medien sah unter anderem die Grundlage für eine Unterstützung des Presserats aus Mitteln der Abgabe für Radio und Fernsehen vor; das Paket scheiterte im 2022 an der Urne. Der Presserat schien in seiner Existenz bedroht und die Bemühungen zur Sicherung der finanziellen Basis führten im 2022 zu einem finanziellen Rettungsring der Trägerorganisationen und zur Unterstützung durch eine Stiftung. Diese Entwicklungen nehmen im Jahrheft 2023 des Presserats eine zentrale Rolle ein. Die Präsidentin des Stiftungsrats «Schweizer Presserat» spricht von einem Schrecken mit glücklichem Ende.[5] 2023 wurde zudem als Mittel zur Finanzierung durch die Zivilgesellschaft ein Gönnerverein gegründet.
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Der Begriff Rettungsring deutet es an: Es handelt sich um Massnahmen mit zeitlich begrenzter Wirkung. Eine Unterstützung durch öffentliche Gelder ist nicht gänzlich vom Tisch. Ausgehend von einer parlamentarischen Initiative beraten die zuständigen Kommissionen aktuell Fördermassnahmen zugunsten der elektronischen Medien. Der Initiativtext umfasst auch die Möglichkeit der Unterstützung des Presserats. Offen ist, zu welchem Ergebnis die Beratungen führen.
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Es bleibt zu wünschen, dass der Presserat die nötigen finanziellen Ressourcen nachhaltig sichern kann. Die Arbeit des Presserats beinhaltet nicht nur die Bearbeitung der zahlreichen Beschwerden. Das Jahr 2023 zeigt exemplarisch: Der Presserat muss mit Blick auf journalistische, technische und gesellschaftliche Entwicklungen seine langjährige Praxis strukturiert weiterentwickeln, den Berufskodex auf seine Aktualität prüfen, Richtlinien bei Bedarf revidieren[6], Leitgedanken verfassen und Öffentlichkeitsarbeit leisten. Hinkt der Presserat diesen Entwicklungen hinterher, bringt er sich nicht frühzeitig und fundiert in den öffentlichen Diskurs ein, kratzt dies rasch an der Glaubwürdigkeit – und damit an der Rolle des Presserats als medienethischer Leuchtturm, der zur Reflexion über grundsätzliche medienethische Probleme anregen und beitragen will.
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In diesem Sinne beschäftigte sich der Schweizer Presserat im 2023 mit der Frage, wie KI-Werkzeuge den Journalismus beeinflussen und welche Konsequenzen dies für die Praxis des Presserats und den Berufskodex hat. In das Berichtsjahr fällt zudem eine Praxisänderung zur Publikation von Umfrageergebnissen, namentlich mit Blick auf deren Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen. In das Berichtsjahr fällt schliesslich die Revision einer zentralen Bestimmung der Richtlinie: Die Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen.
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Medienberichterstattung bildet die gesellschaftliche Vielfalt ab. Der Berufskodex wiederum bezieht sich mit seinen Bestimmungen auf das ganze Spektrum der journalistischen Arbeit. Entsprechend vielfältig sind die Beschwerden, sei es in Bezug auf das Thema des Medienbeitrags oder in Bezug auf die medienethischen Fragestellungen. Die nachfolgende Übersicht erhebt denn auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie will die besagte Vielfalt vielmehr greifbar machen. Hierzu gruppiert die Übersicht eine Auswahl von Stellungnahmen unter ausgesuchte Sachthemen (II., Rn. 7 ff.) und berufsethische Rechte und Pflichten (III., Rn 33 ff.). Dabei wird regelmässig auf einzelne berufsethische Aspekte einer Stellungnahme fokussiert.
II. Ausgesuchte Sachthemen
1. Künstliche Intelligenz: Bewährte Regeln für neue Herausforderungen?
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2023 beschäftigte sich der Presserat ausgiebig mit den Anforderungen, die sich aus dem Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) ergeben. Den Aufhänger bildeten insbesondere Entwicklungen im Ausland: etwa die Bestrebungen auf EU-Ebene für ein Gesetz über die Regulierung von KI, welches mittlerweile vom Europaparlament verabschiedet wurde,[7] oder KI-unterstützte Medienangebote im umliegenden Ausland wie zum Beispiel ein KI-generiertes Radioprogramm oder die Ausgabe eines Kochmagazins, deren Inhalt umfassend von KI erstellt wurde. Schweizer Medienunternehmen beschäftigten sich im 2023 ihrerseits mit unternehmensinternen Grundsätzen zum Einsatz von KI.[8]
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Konkret wollte der Presserat klären, ob und allenfalls wie der Berufskodex anzupassen ist. «Um die Kernprobleme präziser zu umfassen», arbeitete der Presserat auch an einem KI-Leitfaden. Wohl um den Berufskodex nicht als altbacken erscheinen zu lassen, betonte der Presserat während seiner Prüfung mehrfach, dass der Kodex schon heute die «entscheidenden Leitplanken» für den Einsatz von KI umfasse und für viele Fragen klare Regeln enthalte.[9]
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Den Leitfaden hat der Presserat im März 2024 publiziert. Dieser will insbesondere auf generative KI-Programme fokussieren, da sie Inhalte in Text, Bild, und Ton mit starkem Realitätseffekt erzeugen. Zur Wahrung der Glaubwürdigkeit des Journalismus sei hier besondere Sorgfalt und Zurückhaltung angebracht. Die wesentlichen Grundsätze[10]:
- Mit KI-Programmen erzeugte Texte oder Textbausteine dürfen nur zurückhaltend, im Bewusstsein ihrer Problematik verwendet werden. Sie sind vor ihrer Veröffentlichung streng nach journalistischen Kriterien zu prüfen (Wahrhaftigkeit, Genauigkeit, Zuverlässigkeit).
- Auch beim Einsatz von KI-Programmen gilt: Die journalistische Arbeitsweise bleibt dieselbe. Sie orientiert sich an der Wahrheitssuche und verlangt einen korrekten Umgang mit Quellen.
- Inhalte, die mithilfe eines KI-Programms erstellt wurden, sind als solche zu kennzeichnen. Der Presserat empfiehlt diesbezüglich grösstmögliche Transparenz. Redaktionen sollten explizit angeben, wo und wie sie KI-Instrumente einsetzen.
- Quellen, auf denen künstlich erzeugte Inhalte beruhen, müssen im gleichen Masse bekannt sein, bewertet und genannt werden wie bei einem «traditionellen» journalistischen Beitrag.
- Künstlich generierte Bilder, Töne oder Videos dürfen aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit nie irreführend sein oder Verwirrung stiften.
- Es dürfen keine vertraulichen, persönlichen oder sonst wie sensiblen Daten in KI-Programme eingegeben werden, ohne dass die Kontrolle über die weitere Verwendung der Daten gewährleistet ist. Es muss umgekehrt auch überprüft werden, ob die Verwendung von personenbezogenen Daten, die von KI-Programmen bereitgestellt werden, zulässig ist.
- Die Urheberrechte müssen respektiert werden. Inhalte wie Texte, Bilder, Audios, Videos, die ein KI-Programm aus bestehenden Quellen übernimmt, müssen bei der Veröffentlichung nach den üblichen Kriterien zitiert werden.
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Vorerst verzichtet der Presserat auf den Erlass neuer Bestimmungen in den Richtlinien: Alle Grundsätze im KI-Leitfaden stützen sich auf bestehende Regeln im Berufskodex. Der Verzicht muss kein Manko sein; er bestätigt vielmehr den Grundsatzcharakter der medienethischen Regeln, die idealerweise unabhängig von konkreten Entwicklungen gelten. So basiert etwa auch der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz im Wesentlichen auf einer über 100-jährigen Generalklausel. Diese sollte gewährleisten, dass der Rechtsschutz die menschliche Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit umfasst und offen bleibt für gesellschaftliche Entwicklungen. Das Ergebnis der Rechtsanwendung mag nicht so voraussehbar sein wie bei einer Gebührenverordnung. Die Regel lässt dafür Raum, um im Einzelfall die konkreten Umstände gebührend zu berücksichtigen.
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Es wird also spannend sein, zu sehen, wie der Presserat die Grundsätze im Einzelfall konkretisiert. Das gilt namentlich für die im Konjunktiv formulierte Vorgabe zur Transparenz über den konkreten Einsatz von KI; der Konjunktiv dient bekanntlich dem Ausdruck von Ratschlägen und Wünschen. Die Gründe für diese Zurückhaltung des Presserats bleiben im Unklaren. Sie wären für das bessere Verständnis hilfreich gewesen, zumal dem Presserat die Transparenz ein wichtiges Anliegen zu sein scheint. Schliesslich stellt sich die Frage, wie rasch der KI-Leitfaden überhaupt zur Anwendung gelangt. Der Presserat hatte auf Basis des Berufskodex schon vorher die Grundlage, um KI-abgestützte Medienerzeugnisse zu beurteilen. Soweit ersichtlich gab es bis jetzt keine Beschwerde im Zusammenhang mit dem Einsatz von KI.
2. Von Klima-Klebern und AKW-Freundinnen
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Themen wie Klima und Strom sind in der öffentlichen Diskussion dauerhaft präsent. Wenig überraschend also, dass entsprechende Medienberichte vermehrt zum Gegenstand von Verfahren werden. So rügte etwa die Beschwerde 28/2023 eine Verletzung der Wahrheitspflicht in einem Zeitungskommentar (Erklärung Ziff. 1).[11] Der Kommentar qualifizierte Klimaaktivistinnen und -aktivisten, die sich auf Strassen festkleben, als lebensgefährdend. Er verwies auf den Tod einer Velofahrerin, die in Deutschland mit einem Betonmischer kollidiert war. Die Rettungskräfte seien verspätet am Unfallort eingetroffen, weil sie in einem durch Klimakleber verursachten Stau feststeckten.
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Die Beschwerde verwies auf frühere Medienberichte zum Vorfall. Demnach sei eine Notärztin am Unfallort zugegen gewesen. Diese habe auf ein Anheben des Unfallfahrzeugs mittels des noch im Stau stehenden «Rüstwagens» der Feuerwehr verzichtet. Auch bei der sofortigen Verfügbarkeit technischer Möglichkeiten wäre dem Opfer nicht mehr zu helfen gewesen. Das für den Kommentar verantwortliche Medium zitierte andere Medienberichte, nach denen der «Rüstwagen» mit acht Minuten Verspätung am Unfallort eingetroffen sei; ohne Stau wäre er eine Minute nach der Notärztin vor Ort gewesen. Das von der Notärztin gewählte Verfahren entspreche denn auch nicht der empfohlenen Rettungstaktik.
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Für den Presserat erweckt der Kommentar fraglos den Eindruck, die Blockade sei ursächlich dafür, dass das Leben der Velofahrerin nicht mehr habe gerettet werden können. Der Sachverhalt sei indes nicht genügend geklärt; ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht insgesamt nicht belegt.
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In jedem Fall ungenau sei jedoch die Verwendung des Begriffs «Einsatzkräfte», die verspätet am Unfallort eingetroffen seien. Eine Notärztin war anwesend und nur ein einziger Rettungswagen wurde einige Minuten aufgehalten. Dies bewertete der Presserat als journalistische Ungenauigkeit, und damit nicht als Verstoss gegen den Berufskodex.
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In Stellungnahme 45/2023 hielt der Presserat fest: Gemäss Richtlinie[12] 7.2 ist die identifizierende Berichterstattung über Klimaaktivistinnen und -aktivisten unter anderem dann zulässig, wenn die betroffenen Personen im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Medienberichts öffentlich auftreten oder auf andere Weise in die Veröffentlichung eingewilligt haben. Nicht zu beanstanden war deshalb ein Zeitungsartikel mit dem Titel «Das sind die Klima-Kleber vom Gotthard». Der Beitrag identifizierte sieben Klimaaktivistinnen und -aktivisten mit Namen, Alter, Beruf und Bild. Die Personen hätten von sich aus Öffentlichkeit gesucht, indem sie sich in einer Medienmitteilung mit Namen und weiteren Details zu erkennen gaben. Zudem habe die Organisation «Renovate Switzerland», der die Personen angehören, in Zusammenhang mit der Blockade am Gotthard dem Medium die Bilder der Aktivistinnen und Aktivisten zugestellt.
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Als Verstoss gegen die Wahrheitspflicht beurteilte der Presserat in Stellungnahme 24/2023 den Satz: «Am Samstag hat Japan der Opfer der Reaktorkatastrophe von Fukushima gedacht. Zwölf Jahre ist es seit dem Atom-GAU her, der 20’000 Menschen das Leben gekostet hat.» Aus Sicht des Presserats waren es nachweislich die Flutwellen (Tsunami) des Erdbebens vom 11. März 2011, die Tausenden Japanerinnen und Japanern das Leben kosteten. Es sei nicht davon auszugehen, dass die durchschnittliche Leserschaft den Satz aufgrund ihres eigenen Vorwissens korrekt verstehe. Es gebe Personen, die den Vorfall nicht oder nicht im Detail mitverfolgt haben oder die sich nicht mehr genau daran erinnern. Es wäre bedenklich, würden diese Personen von einer falschen Information zu Opferzahlen ausgehen, die auf den Reaktorvorfall zurückzuführen sind.
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Ein Artikel über AKW-Unterstützende bildete Ausgangspunkt von Stellungnahme 44/2023. Unter dem Titel «Der grosse Unterschriftenkauf» thematisierte der Beitrag eine E-Mail-Panne, durch welche eine Rechnung der Firma Incop, Marktführerin im professionellen Sammeln von Unterschriften, an die «Stiftung für sichere Stromversorgung» (SSS) öffentlich wurde. Die Stiftung sammle Unterschriften für die Initiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)», welche die Stromversorgung über neue Atomkraftwerke sichern wolle.
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Das Initiativkomitee reichte Beschwerde ein. Der Vorwurf, das Komitee habe Unterschriften gekauft, entspreche nicht der Wahrheit. Das professionelle Sammeln von Unterschriften sei rechtlich unproblematisch. Der Beitrag lasse hingegen den Eindruck entstehen, es handle sich um ein rechtswidriges, antidemokratisches Verhalten.
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Der Presserat sah es anders: Die Aussage zum Unterschriftenkauf sei nicht mit einem Vorwurf der Bestechung der Stimmbevölkerung gleichzusetzen. In den Artikeln würde weder explizit noch implizit behauptet, das Vorgehen sei illegal. Zwar handle es sich genau besehen nicht um einen Kauf, sondern um ein Bezahlen der Sammlerinnen und Sammler der Unterschriften. Im übertragenen Sinn könne das Wort «kaufen» jedoch durchaus verwendet werden und sei deshalb nicht zu beanstanden.
3. Kriege: Das Ringen um die Wahrheit
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Primär in Zusammenhang mit der Wahrheitsplicht bildeten kriegerische Auseinandersetzungen im 2023 Gegenstand von Stellungnahmen des Presserats.
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Die Beschwerde 18/2023 kritisierte einen kurzen TV-Beitrag über die Befreiung der Stadt Cherson durch die ukrainische Armee. Unter dem Titel «Kherson, le prix de la libération» beinhaltete der Beitrag verschiedene Berichte von Zeuginnen und Zeugen. Hauptargument der Beschwerde: Der Beitrag unterscheide nicht zwischen Journalismus und Kriegspropaganda. Ein Zeuge gehöre der Gruppe «KRBK-Team Kiev» an. Der Beitrag zeige das Zeichen auf der Brust während mehreren Sekunden. Dem Publikum werde dazu aber nichts erklärt. Eine einfache Recherche ergebe, dass zwei der Zeugen einer rechtsextremen Organisation angehören. Der Beitrag verletze deshalb die Pflicht zur Wahrheit (Erklärung Ziff. 1) bzw. zur Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1) und unterschlage wichtige Elemente von Informationen (Erklärung Ziff. 3).
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Nach Auffassung des Presserats müssen Medienschaffende insbesondere im Kontext der Kriegsberichterstattung möglichst viel über die Identität, die Rolle und die Motivation von interviewten Personen in Erfahrung bringen und dem Publikum mitteilen. Das gelte im Ukrainekrieg erst recht. Westlichen Ländern werde regelmässig vorgeworfen, sie würden die Bedeutung rechtsextremer Bewegungen in der Ukraine relativieren, um nicht der russischen Kriegspropaganda in die Hände zu spielen.
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Der Presserat bedauerte zwar den Umgang mit dem besagten Zeichen. Offensichtlich taxiere der Beitrag das Zeichen als wichtiges Informationselement, wenn er das Publikum mit Zoom darauf aufmerksam mache. Das Publikum erfahre jedoch nichts über dessen Bedeutung. Der Presserat sah darin eine fehlende Präzisierung, aber keine Verletzung der Wahrheitspflicht. Der Beitrag verfolge nicht das Ziel, das Vorhandensein von rechtsextremen Kreisen in der ukrainischen Armee zu thematisieren. Vielmehr erzähle er in vier Minuten, wie Zivil- und Militärpersonen die Befreiung von Cherson erlebt haben. Nicht überprüfen könne der Presserat, wieviel Hintergrund zu den Protagonistinnen und Protagonisten die Medienschaffenden tatsächlich erfahren haben.
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In Stellungnahme 3/2023 mahnte der Presserat: Selbst wenn Strafverfolgungsbehörden wie die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft Namen zur Publikation freigeben, entbinde dies Medienschaffende nicht von ihren Pflichten. Sie müssen nach berufsethischen Kriterien eigenständig prüfen, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist. Das Prinzip gelte umso mehr, wenn es sich um eine Kriegspartei handle.
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Ein Instagram-Reel zum ersten Jahrestag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine war Gegenstand der Stellungnahme 47/2023. Der erste Satz des Videos lautete: «Seit einem Jahr sterben in der Ukraine täglich Menschen». Nach Auffassung des Beschwerdeführers impliziere die Behauptung, dass davor keine täglichen Todesfälle im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine stattgefunden hätten. Das verletze die Wahrheitspflicht. Tatsächlich seien laut Uno-Angaben zwischen 2014 und 2022 über 14’000 Menschen im Zusammenhang mit diesem Konflikt gestorben.
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Der Presserat verwies auf den Kontext. Für sich genommen möge der kritisierte Satz ungenau sein. Menschen würden tatsächlich schon länger als ein Jahr getötet. Das Video beschreibe aber die seit jeher belasteten ukrainisch-russischen Beziehungen seit der Herrschaft der Kosaken und der Zaren. Im Zusammenhang mit der Besetzung der Krim im 2014 bemerke die Korrespondentin ausdrücklich, dass der heutige Krieg im Grunde schon damals begonnen habe. Später spreche sie vom «zweiten Überfall» auf die Ukraine. Es werde somit nirgends unterschlagen, dass Russland seit neun Jahren mit Gewalt gegen die Ukraine und ihre Bevölkerung vorgehe.
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Kriege sind bekanntlich auch Ausgangspunkt von Geschehnissen in der Schweiz. Im Kontext des Ukraine-Konflikts bildete etwa die Situation der ukrainischen Flüchtlinge und ihrer Schweizer Gastfamilien Gegenstand von Berichterstattung (siehe dazu unten, III. Ziff. 5, Rn. 61 ff.).
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Der Beitrag über eine bewilligte palästinensische Kundgebung in Bern bildete Gegenstand der Stellungnahme 6/2023. Darin werden Aussagen eines Mitglieds des «Israel Forum Bern» zitiert. Das Mitglied berichtete von einem «grölenden Mob mit Fahnen und antisemitischen Hassparolen gegen Israel», der den Stand des Forums belagert und Hitlergrüsse gezeigt habe. «Um die Gemüter zu beruhigen» hätten Mitglieder den Demonstrierenden eine Bibel auf Arabisch übergeben, worauf diese begonnen hätten, die Schrift zu verbrennen. Der Artikel schloss mit der Bemerkung: das Medium hätte gerne auch den Standpunkt der Palästina-Anhängerinnen und Anhängern erfahren. Die auf dem Flugblatt zeichnende Organisation sei jedoch weder online präsent noch pro-palästinensischen Vereinen bekannt.
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Ein Beschwerdeführer kritisierte, der Bericht habe wichtige Elemente zum Standpunkt der Demonstrierenden unterschlagen. Auf deren Flugblatt sei dem Rechtsstaat Israel ohne Belege die Ermordung einer palästinensischen Journalistin unterstellt worden.
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Dieser Argumentation folgte der Presserat nicht. Der Hinweis, das Medium hätte gerne auch den Standpunkt der Demonstrierenden erfahren, betraf die Haltung der Demonstrierenden zum Vorwurf der Bibelverbrennung und zu weiteren Auseinandersetzungen – zusätzlich zu den Standpunkten des «Israel Forum Bern» und der Polizei. Soweit die Haltung der Demonstrierenden gegenüber Israel betreffend, sei diese durch die Schilderungen des Zeugen «in aller Schärfe» zum Ausdruck gekommen.
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Die Stellungnahme ist ein Vorgeschmack auf die Arbeit des Presserats im laufenden Jahr. Weit stärker als der Ukraine-Krieg bewegt der Krieg in Israel und Gaza die Gemüter. Beschwerden gegen Berichte über den bewaffneten Konflikt im Nahen Osten bildeten denn auch das thematische Gros der im 2023 eingegangenen Beschwerden. Da diese Beschwerden primär ab Herbst 2023 eingingen, wird der Presserat sie erst im 2024 behandeln können.
III. Ausgesuchte berufsethische Rechte und Pflichten
1. Berichtigungspflicht: Kein Selbstzweck
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Wichtige Auswirkung der Wahrheitspflicht ist die Pflicht von Medienschaffenden, falsche Meldungen von sich aus und unverzüglich zu berichtigen (Erklärung Ziff. 5, Richtlinie 1.1, 5.1). Ausgangspunkt bildet die Frage, ob eine publizierte Information berichtigungspflichtig ist. Der Presserat verneinte dies in der Stellungnahme 41/2023. Die Beschwerde stammte von einem russischen Milliardär, der wegen seiner Nähe zur russischen Regierung auf der Sanktionsliste des Staatssekretariats für Wirtschaft stand. Er wehrte sich gegen die Bezeichnung «Putin-Vertrauter»; er kenne den russischen Präsidenten nicht persönlich. Der Presserat qualifizierte es als ungenau, wenn Präsident Putin und die Regierung aufgrund des autoritären Charakters der Regierung als synonym verwendet werden. Die Bezeichnung des Milliardärs als «Putin-Vertrauter» sei aber noch hinnehmbar. Eine Hintertür liess der Presserat offen: Der Entscheid könnte anders ausfallen, liesse sich unabhängig erstellen, dass der Milliardär nie Kontakt mit Präsident Putin gehabt habe.
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Neben der erwähnten Ausgangsfrage bilden die Modalitäten der Berichtigung regelmässig Gegenstand von Beschwerden.[13] Dazu gehört die Frage, wo die Berichtigung vorzunehmen ist, wenn die zu berichtigende Information sowohl in der Printausgabe als auch Online publiziert wurde. Die Antwort: Die Berichtigung ist kein Selbstzweck; sie dient der effektiven Information des Publikums. Die Online-Berichtigung ist regelmässig geboten, da der Beitrag abrufbar bleibt. Im Print kann dagegen der Zeitablauf unter Umständen ein Faktor sein, der die Berichtigung verzichtbar macht.
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Für den Presserat ist es unzureichend, wenn die Redaktion wenige Stunden nach der Publikation eine falsche Formulierung bemerkt und umgehend online korrigiert, jedoch auf ein Korrigendum in einer der nächsten Print-Ausgaben verzichtet (Stellungnahme 24/2023, siehe dazu oben, Rn. 17). Umgekehrt beurteilte der Presserat in der Stellungnahme 39/2023 ein zusätzliches Korrigendum in der Print-Ausgabe als wenig sinnvoll, da es drei Monate nach der Publikation kaum für mehr Klarheit gesorgt hätte.
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Selbstverständlich ist die Bedeutung des Zeitablaufs im Lichte der Anforderungen an eine korrekte Information der Leserschaft zu beurteilen. Beschlägt die zu berichtigende Information ein Thema, das seit deren Publikation öffentlich weiter diskutiert wird? Dies kann für eine Berichtigung (auch) in der Printausgabe sprechen, selbst wenn der Fehler erst Wochen nach der Publikation entdeckt wird.
2. Anhörungspflicht: Schwelle für Anhörung gesenkt
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Journalistinnen und Journalisten haben die Pflicht, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören (Richtlinie 3.8). Die Anhörung ist mit Blick auf das Fairnessprinzip zentral. Wann liegt ein schwerer Vorwurf vor? Der Presserat muss sich regelmässig zur Frage äussern. Die Antwort darauf liegt nicht immer auf der Hand.[14] Das hat nicht zuletzt mit der einschränkenden Definition des schweren Vorwurfs gemäss bisheriger Praxis des Presserats zu tun. Als schwerer Vorwurf galt ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten. So beurteilte der Presserat den Vorwurf der Schlagseite, der Verletzung publizistischer Leitlinien und medienethischer Pflichten an die Adresse einer Medienschaffenden als «fraglos gravierend»; trotzdem war keine Anhörung notwendig, weil es eben kein illegales oder damit vergleichbares Verhalten betraf. [15] Im Lichte der journalistischen Fairness liest sich diese Feststellung widersprüchlich – einmal abgesehen davon, dass die Verletzung medienethischer Pflichten rechtlich relevant sein kann, etwa wenn Gerichte bei der Anwendung der strafrechtlichen Ehrverletzungstatbestände die Sorgfalt von Medienschaffenden berücksichtigen.
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Per 1. Mai 2023 hat der Presserat Richtlinie 3.8 revidiert, da die Schwelle für die Anhörungspflicht «sehr hoch» angelegt sei. Diese wolle er nun «leicht senken» und direkt in der Richtlinie definieren.[16] Das Wort «leicht» überrascht. Das illegale Verhalten wurde als Massstab fallengelassen. Neu heisst es: «Vorwürfe gelten als schwer, wenn sie gravierendes Fehlverhalten beschreiben oder sonst wie geeignet sind, jemandes Ruf schwerwiegend zu schädigen». Darin liegt reichlich neuer Spielraum für die Beurteilung im Einzelfall.
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Die Öffnung ist zu begrüssen; sie dürfte kaum auf Widerstand gestossen sein. Betroffene gehen oft davon aus, Medienschaffende würden die Anhörung nur widerwillig durchführen. Tatsächlich sehen Medienschaffende die Anhörung meist als das, was sie ist: ein Institut der Fairness, das zur Stärkung der eigenen Recherche beiträgt. Schon vorher führten Medienschaffende regelmässig Anhörungen durch bei Vorwürfen, die einzig nach der neuen Definition des Presserats als schwer gelten.
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2023 hat der Presserat soweit ersichtlich noch keine Stellungnahme auf Basis der revidierten Richtlinie beurteilt. Die nachfolgenden Beispiele basieren mithin auf der bisherigen Praxis.
a) Schwere Vorwürfe
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- Der Hinweis, eine Privatperson blockiere mittels Einsprache den Neubau eines öffentlich finanzierten Spitals – vorerst über zwei Instanzen erfolglos; der Einsprecher würde sich aber gegen eine Bezahlung von CHF 2 Mio. gütlich einigen (Stellungnahme 30/2023). Das liest sich prima vista nach einem diskutablen Fall. Die Begründung des Presserats ergibt sich in ihrer Gänze erst aus der thematisch zusammenhängenden Stellungnahme 29/2023: Der Presserat sieht im Kontext der potenziell querulatorischen Darstellung des Einsprechers und der Infragestellung der Höhe der Forderung den Vorwurf eines Vorgehens, das an Erpressung grenze.
- Der Vorwurf der Bibelverbrennung oder von Hitlergrüssen an eine Gruppe von Personen, die an einer Kundgebung teilnehmen und Flugblätter verteilen (Anhörung der Organisation, die das Flugblatt zeichnet; siehe Stellungnahme 6/2023 oben, Rn. 29).
- Der Vorwurf, eine Lehrerin haben mittels Nazi-Gesten und -Sprüchen ihre Klasse zum Schweigen bringen wollen (Stellungnahme 26/2023).
- Der Sachverhalt, der Grundlage eines Haftbefehls bildet. Insbesondere gilt der Haftbefehl nicht als öffentlich zugängliche amtliche Quelle, die im Sinne von Richtlinie 3.9 eine Anhörung ausnahmsweise verzichtbar macht (Stellungnahme 27/2023).
b) Keine schweren Vorwürfe
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- Ein Beitrag thematisiert die Debatte um «dissoziative Amnesie» von Gewaltopfern. Für ein Lager sei nach dem Trauma zu suchen, das die Krankheit ausgelöst habe. Das andere Lager sehe die Gefahr, dass diese Suche Erinnerungen an nicht stattgefundene Ereignisse produziere. Der Artikel erwähnt den Fall einer jungen Frau, die sich an satanische Rituale erinnerte, an denen sie zugegen war. Sie erinnerte sich zudem an den Missbrauch durch ihren Vater. Die Mutter der jungen Frau erzählt, dies habe zu einem Strafverfahren gegen den Vater geführt. Es sei wegen fehlenden Beweisen eingestellt worden. Für den Presserat erhebt der Beitrag damit keinen schweren Vorwurf gegenüber der Frau. Vielmehr beschreibe der Artikel an ihrem Beispiel eine sehr komplexe Problematik und ihre gravierenden Auswirkungen auf die Beteiligten (Stellungnahme 13/2023; Medium hat Anhörung trotzdem durchgeführt).
- Die Bemerkung, die vom Kanton finanzierte Betreuungsorganisation lasse ukrainische Flüchtlinge im Stich, weil sie E-Mails unbeantwortet lasse und Fragen nicht beantworte. Der Presserat sah keinen Vorwurf strafbaren oder vergleichbaren Verhaltens. Hätte der Presserat in Anwendung der revidierten Richtlinie anders geurteilt? Da die Organisation vom Kanton finanziert wird, mag der Vorwurf durchaus schwer wiegen. Der Artikel fokussiert zwar nicht auf die Betreuungsorganisation und erhebt auch sonst keine Vorwürfe gegen sie. Journalistisch gesehen wäre die Anhörung der Organisation zumindest ein Mehrwert, wenn schon das kritische Zitat eines Betreuers in den Beitrag aufgenommen wird. Die Stellungnahme des Mediums lässt durchblicken: die Anhörung stand zumindest im Raum oder wurde sogar versucht. Das Medium erwähnte, die Kontaktnahme mit der Betreuungsorganisation über Mail und Telefon sei sehr schwierig (Stellungnahme 7/2023).
c) Modalitäten der Anhörung
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Gemäss Richtlinie 3.8 sind die zur Publikation vorgesehenen Vorwürfe präzis zu benennen. Der Sichtweise der Betroffenen muss im Bericht nicht derselbe Umfang zugestanden werden wie der Kritik. Aber ihre Stellungnahme ist fair wiederzugeben. Wollen Betroffene nicht Stellung beziehen, ist im Text darauf hinzuweisen.
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Die oben erwähnte Revision betrifft auch die Modalitäten der Anhörung. Neu präzisiert die Richtlinie: Den Anzuhörenden ist angemessen Zeit für eine Stellungnahme zu geben. Offen bleibt, was unter einer angemessenen Frist zu verstehen ist. Nach Auffassung des Presserats lasse sich dies nicht generell beantworten, sondern hänge stark von den Rahmenbedingungen ab. Medienschaffende hätten ein gutes Gespür dafür. Deshalb gebe es dazu nur selten Rügen.[17] Es bleibt der Umstand: Wollen sich Betroffene oder (unerfahrene) Medienschaffende ein Bild über die diesbezüglichen ethischen Erwartungen machen, finden sie höchstens Teilaspekte verteilt in Einzelfallbeurteilungen. Ehre gebührt deshalb, wer die strukturierte Annäherung wagt: Siehe die Überlegungen von DOMINIQUE STREBEL, der je nach Umständen (mediengewandte Person, Komplexität des Themas, vorangehende öffentliche Berichterstattung oder Aufwand für befragte Person) eine Anhörungsfrist annimmt im Bereich von «Stunden» (3-6) oder «Tagen» (1-5).[18]
3. Meinungsumfragen: Praxisänderung ohne Neuland
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Richtlinie 3.7 definiert Anforderungen für die Veröffentlichung von Meinungsumfragen. Demnach sollten die Medien dem Publikum immer alle Informationen zugänglich machen, die für das Verständnis der Umfrage nützlich sind: Mindestens die Zahl der befragten Personen, Repräsentativität, mögliche Fehlerquote, Erhebungsgebiet, Zeitraum der Befragung, Auftraggeberin. Aus dem Text sollten auch die konkreten Fragen inhaltlich korrekt hervorgehen. Die Form «sollten» drängt die Frage auf: Ist das optional? Gelegenheit zur Klärung bietet die Stellungnahme 2/2023.
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Mehrere Zeitungen publizierten unter dem Titel «Deutliches Ja zum Steuergesetz» eine Grafik, die das Ergebnis einer Umfrage im Vorfeld einer kantonalen Abstimmung vermittelte. 81 Prozent hätten mit Ja und 19 Prozent mit Nein geantwortet. Es fehlte die Information, wie viele Leserinnen und Leser sich an der Umfrage beteiligt haben, und dass die Befragung nicht repräsentativ sei.
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Eine Beschwerde monierte einen Verstoss gegen Erklärung Ziff. 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) respektive gegen Richtlinie 3.7 (Meinungsumfragen).
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Aus Sicht der Zeitungen war klar, dass nur die Leserschaft der Zeitung an der Umfrage teilnehmen konnte. Bei einer Lokalzeitung sei diese Leserschaft sowohl geografisch als auch von der Anzahl Personen her klar eingegrenzt. Die Redaktion verwies zudem auf die bisherige Praxis des Presserats. Dieser sei in Stellungnahme 9/2005 vom starren Anforderungskatalog der Richtlinie 3.7 abgerückt: Die strikte Einhaltung für jede Meinungsumfrage führe zu weit. Meistens sei für das Publikum von vornherein klar, dass die Ergebnisse statistisch kaum repräsentativ seien.
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Gemäss Presserat hatte sich das Medium korrekt auf eine ältere Praxis abgestützt. Allerdings genüge diese Praxis den heutigen Anforderungen an die Transparenz der Berichterstattung nicht mehr. Der Presserat präzisierte deshalb: Dem Publikum sind alle Informationen zugänglich zu machen, die für das Verständnis notwendig sind. Das gelte besonders bei Umfragen im Vorfeld von politischen Volksabstimmungen.
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Es bleibt also eine Einzelfallbeurteilung. Nach Auffassung des Presserats gelten aber zwei Informationen «in der Regel» als notwendig: die Zahl der befragten Personen und die Informationen zur Repräsentativität der Stichprobe. Wird Anspruch auf Repräsentativität erhoben, ist zudem die Fehlerquote anzugeben.
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Damit betritt der Presserat kein Neuland. Die diesbezügliche Praxis der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) stammt aus den Nullerjahren – im Wesentlichen ausgelöst durch Beschwerden betreffend die Publikation von Umfrageergebnissen in den Programmen der SRG. Die Praxis fusst auf den Anforderungen des Sachgerechtigkeitsgebots. Dieses soll dem Publikum ermöglichen, sich frei eine eigene Meinung über einen Sachverhalt zu bilden. Zudem gelten für Sendungen in Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen rundfunkrechtlich besondere Sorgfaltspflichten, die namentlich die Chancengleichheit von Abstimmungslagern oder Kandidierenden gewährleisten sollen. Die UBI definierte folgende Anforderungen für die Publikation von Meinungsumfragen im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen: Bei substanziellen Beiträgen über Ergebnisse von Meinungsumfragen ist das Publikum über den Auftraggeber, das beauftragte Institut, die Umfragemethode (z.B. Anzahl der Befragten, Fragestellung), den Zeitraum der Befragungen und den Fehlerbereich explizit zu informieren und sind die Umfrageergebnisse korrekt wiederzugeben.[19]
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Nach Auffassung der UBI kann der Begriff Repräsentativität unterschiedlich aufgefasst werden, d.h. bezogen auf die statistisch-wissenschaftliche Auswahl der befragten Personen oder auf das Ergebnis. Idealerweise würde jeder diesbezügliche Interpretationsspielraum von vornherein ausgeräumt. Allerdings verstehe das Durchschnittspublikum unter dem Begriff Repräsentativität primär eine Methode, welche einen insgesamt zutreffenden Trend gewährleiste.
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Nach wie vor in Prüfung ist, ob der Presserat seiner Praxisänderung eine Revision von Richtlinie 3.7 folgen lässt. Dies entscheidet sich vermutlich im Laufe dieses Jahres.
4. Öffentliche Funktionen von Medienschaffenden: Ein Streifzug durch die Praxis
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Gemäss Richtlinie 2.4 ist die Ausübung des Berufs der Journalistin, des Journalisten grundsätzlich nicht mit der Ausübung einer öffentlichen Funktion vereinbar. Wird eine politische Tätigkeit aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise wahrgenommen, ist auf eine strikte Trennung der Funktionen zu achten. Zudem muss die politische Funktion dem Publikum zur Kenntnis gebracht werden.
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Die Formulierung täuscht darüber hinweg, dass sich der Presserat über die Jahre differenziert zur Anwendung dieser «Ideallösung» geäussert hat – namentlich wegen der schweizerischen Realität mit dem ausgeprägten Milizsystem. Stellungnahme 12/2023 bot dem Presserat Anlass für einen Streifzug durch seine bisherige Praxis und für einen intern umstrittenen Entscheid.
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Die Beschwerde kritisierte die Doppelrolle von Roger Köppel als Nationalrat und Chefredaktor. Konkret wurde bemängelt, Roger Köppel erkläre in einem Beitrag, wie er als Nationalrat dem Bundespräsidenten eine Frage habe stellen wollen. Sodann liefere er eine journalistische Einschätzung. Damit vermische Roger Köppel sein Amt als Nationalrat mit seiner Tätigkeit als Journalist, Chefredaktor und Verleger.
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Der Aufhänger von Richtlinie 2.4: Die Unabhängigkeit von Medienschaffenden ist wesentliche Voraussetzung für die Ausübung des Berufes. Als «Handelnder und Beobachter» zu agieren, so der Presserat, berge die Gefahr von Interessenkonflikten und beeinträchtige die Glaubwürdigkeit des Medienschaffenden und der Medien insgesamt.
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Angesichts der oben erwähnten Schweizer Realitäten präzisierte der Presserat die Regel in den 90-er Jahren. Im Falle einer gleichzeitig ausgeübten journalistischen Tätigkeit könne ein Gemeinderat über Debatten im Nationalrat berichten, jedoch nicht über die Aktivitäten des Gemeinderats, der Nationalrat nicht über Aktivitäten des Nationalrats, das Parteimitglied nicht über die Aktivität seiner Partei. Das gelte jedoch nicht für parteigebundene Medien, da dem Publikum klar sei, was es erwarte (Stellungnahme 7/1996). Ähnliches gelte für die bekannte politische Ausrichtung eines Mediums. Das Publikum wisse, welche politische Tendenz es zu erwarten hat. Deshalb verneinte der Presserat in den Nullerjahren die Unvereinbarkeit der Funktionen Nationalrat und Chefredaktor in Zusammenhang mit einer Zeitung, die bekanntermassen einen parteipolitisch und ideologisch geprägten Meinungsjournalismus betreibe. Immerhin habe der Chefredaktor bei grosser Nähe zu einem Thema in den Ausstand zu treten (Stellungnahme 37/2006). Wollen sich Medienschaffende mit Ämtern dennoch äussern, können sie dies unter der Bedingung tun, dass sie gleichzeitig ihr politisches Amt und/oder ihre parteipolitische Zugehörigkeit mitteilen. Als Ideallösung bieten sich dafür klar gekennzeichnete Formen wie Gastartikel oder Kolumnen an, gezeichnet mit Namen und mit Angabe des politischen Amtes bzw. der Parteizugehörigkeit» (Stellungnahme 7/1996).
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Was bedeutet die Praxis für den aktuellen Fall? Einig war sich der Presserat nicht; er entschied mit knapper Mehrheit. Die Leserschaft erkenne nicht nur die beiden «Hüte» von Roger Köppel, sondern auch deren Vermischung im Rahmen des konkreten Beitrags. Er trete im Beitrag transparent als Journalist und Nationalrat auf. Weiter sei der Beitrag als Format mit Meinungsbeiträgen des Chefredaktors erkennbar. Das Dilemma des Presserats lag wohl just in besagter Transparenz. Entsprechend stellte er fest: Roger Köppel vermische seine Funktionen deutlich. Er sei damit journalistisch nicht unabhängig und nicht glaubwürdig. Das schade der Glaubwürdigkeit der Berichterstattung und der Medien. Trotzdem verletze dies Richtlinie 2.4 nicht. Das Medium würde vom Publikum als parteinah wahrgenommen und das Format sei als persönlicher Kommentar erkennbar. Mehr Transparenz durch eine klare Bezeichnung der Funktionen und des Formats wären trotzdem wünschenswert.
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Die Ausgangslage des Verfahrens ist mittlerweile überholt: Roger Köppel erklärte im Berichtsjahr, er kandidiere nicht mehr für den Nationalrat, um sich auf die Weiterentwicklung seines Unternehmens zu konzentrieren.
5. Unlautere Methoden bei der Informationsbeschaffung: Der Journalist als Facebook-Freund
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Gemäss Ziff. 4 der Erklärung bedienen sich Medienschaffende bei der Beschaffung von Informationen keiner unlauteren Methoden. Eine Konkretisierung dieses Prinzips findet sich in Richtlinie 4.1. Demnach handeln Medienschaffende unlauter, wenn sie bei der Beschaffung von Informationen, die zur Publikation vorgesehen sind, den Beruf als Journalistin und Journalist verschleiern.
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Dies beschäftigte den Presserat in seinem allerersten Entscheid des Jahres 2023. Der Medienbeitrag «Grenzen der Solidarität» thematisierte zwischenmenschliche und interkulturelle Probleme zwischen Gastfamilien und ukrainischen Flüchtlingsfamilien. Gastfamilien würden sich deshalb immer häufiger trennen wollen – vor Ablauf der vereinbarten Unterbringungsfrist. Bei der Umplatzierung gebe es Verzögerungen.
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Als Beleg zitierte der Artikel mehrere Posts aus einer Facebook-Selbsthilfegruppe. Sie illustrierten, worüber die Gastfamilien sich in der privaten Gruppe beklagen und worunter sie leiden. Ein Mitglied der Facebook-Gruppe rügte eine Verletzung von Ziff. 4.1. Einer der Autoren des Artikels habe sich «durch Täuschung» Zutritt zur privaten Facebook-Gruppe verschafft.
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Der Presserat liess das Argument der Redaktion nicht gelten, der Zugang zur Gruppe sei mit einem simplen Klick und ohne Angabe von Gründen möglich gewesen. Richtlinie 4.1 gelte off- wie online. Der Presserat verwies auf seine bisherige Praxis zur Pflicht von Medienschaffenden, ihren Beruf bekannt zu geben, wenn sie im Rahmen einer Recherche Informationen oder Meinungen über soziale Netzwerke einholen. Dies hätte etwa bei der Zutrittsanfrage zur privaten Facebook-Gruppe erfolgen können, direkt bei den Administrierenden der Gruppe, oder auch in der Gruppe selbst «zum Beispiel mit einem Beitrag über sich und seine Recherche». Es sei zwingend notwendig, sich bei Recherchen als Journalist zu erkennen zu geben – mit Ausnahme der Konstellation einer verdeckten Recherche. Deren Voraussetzungen sind in Richtlinie 4.2 geregelt; der Presserat wendet sie streng an. Sie haben Ausnahmecharakter[20]. Das Medium hatte denn auch von sich aus nicht geltend gemacht, es liege ein Fall einer verdeckten Recherche vor (Stellungnahme 1/2023).
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Unter dem Titel der lauteren Informationsbeschaffung sieht die Richtlinie auch Vorgaben für Interviews vor. Ein Verstoss gegen Richtlinie Ziff. 4.5 liegt gemäss Stellungnahme 22/2023 vor, wenn eine Medienschaffende mit einem Autor, Regisseur und Schauspieler für ein Film-Fachmagazin ein Interview führt und dieses dann einem Internetportal mit religiöser Ausrichtung anbietet. Da das Interview teils kirchenkritische Äusserungen umfasste, genügte es für den Presserat nicht, gegenüber der Medienstelle eines Festivals generisch die Möglichkeit der Publikation in anderen Medien vorzubehalten. Es überrascht, dass eine professionelle Medienstelle auf diese Bemerkung hin nicht von sich aus reagiert und die Publikation in anderen Medien von der Zustimmung des Interviewten abhängig macht. Der diesbezügliche Sachverhalt war aber weder erstellt noch entscheidend. Zu Beginn des Interviews hatte sich der Schauspieler nach dem Publikationsort erkundigt. Das besagte Internetportal erwähnte die Medienschaffende nicht. Die Information, wo ein Interview erscheint, ist für den Presserat zentral – und im Übrigen auch rechtlich. Es ist die Essenz des sog. Recht am Wort: Die Freiheit einer Person, zu entscheiden, ob sie sich äussert, wem gegenüber und unter welchen Bedingungen[21]. Im Kontext von Interviews setzt diese Freiheit die vorgängige Information voraus, für welches Medium das Interview geführt wird. Das würde im vorliegenden Fall selbst dann gelten, wenn sich der Interviewte nicht kirchenkritisch geäussert hätte. Massgebend ist, dass es sich um unterschiedliche Publikationen handelt. Differenzierter zu beurteilen wäre die Situation, namentlich im News-Bereich, wenn die verantwortliche Redaktion bekanntermassen Beiträge zur Publikation in unterschiedlichen Tageszeitungen oder News-Formaten desselben Unternehmens produziert.
6. Trennung zwischen redaktionellem Teil und Werbung: Neue Kleider, altes Problem
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Beschwerden in Zusammenhang mit Richtlinie 10.1 sind ein Dauerbrenner. Einen der Gründe sieht der Presserat darin, dass «die Medienhäuser bald jede mögliche Variante der Betitelung von bezahlter Werbung ausprobiert haben».[22] Meistens reiche dies nicht aus. Richtlinie 10.1 verlangt, dass bezahlte Werbung deutlich vom redaktionellen Teil getrennt wird. Sofern die Werbung nicht optisch bzw. akustisch eindeutig als solche erkennbar ist, muss sie explizit als Werbung deklariert werden. Mit obiger Bemerkung publizierte der Presserat im Berichtsjahr eine Trias von festgestellten Verletzungen der Richtlinie 10.1.
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In Stellungnahme 9/2023 kritisierte der Presserat die Verwendung der Bezeichnung «Sponsored Content». Nicht nur sei die Bezeichnung klein und kaum wahrnehmbar gewesen. Die durchschnittliche Leserschaft wisse auf Basis dieses englischen Ausdrucks kaum, dass sie bezahlte Werbung vor sich habe. Auch begrifflich sei «Sponsored Content» ungenau. «Sponsoring» stehe regelmässig für Imagewerbung, die auf den gesponserten Inhalt gerade kein Einfluss nehme. Der Presserat verwies auf seine mehrjährige kritische Praxis zu Hinweisen wie «Sponsored Content». Entsprechend sei die Trennung vom redaktionellen Inhalt durch das Layout sicherzustellen (Stellungnahmen 4/2019, 67/2019, 17/2020, 28/2021).
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Auch die Bezeichnung «Verlagsreportage» liess der Presserat im Kontext von Stellungnahme 10/2023 nicht gelten. Begriffe wie «Verlagsreportage» oder «Publireportage» würden in Branchenkreisen zwar verwendet. Das sage jedoch wenig darüber aus, wie die durchschnittliche Leserschaft diese Begriffe versteht. Einerseits sei der Beitrag, die Beschreibung eines Angebots für die Gehörstherapie, keine Reportage im journalistischen Sinn. Anderseits sei der Begriff «Verlag» auch irreführend: In der «Publireportage» überlasse der Verlag die Information ganz dem Werbetreibenden.
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Kurzen Prozess machte der Presserat in Stellungnahme 11/2023. Er lehnte die Begründung des Mediums ab, bei bezahlten Inhalten seien Dachzeilen und Titel anders gestaltet, die Schrift deutlich dünner und ein Kürzel (pr) eingefügt. Für den Presserat nur Nuancen, welche die Anforderung der Richtlinie 10.1 («vom redaktionellen Teil klar abheben») «mit Sicherheit» nicht erfüllen. Das Layout sei insgesamt kaum vom Layout der redaktionellen Berichte zu unterscheiden gewesen.
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Bezeichnenderweise äusserte sich die Präsidentin des Presserats gegen Ende 2023 mit mahnenden Worten zum Einsatz von Native Ads, also zu einer Werbeform, die aufgrund ihrer Gestaltung schwer vom redaktionellen Inhalt zu unterscheiden ist. Solche Werbeformen würden die Glaubwürdigkeit der redaktionellen Arbeit unterlaufen.[23] Sie verwies dabei auf die Praxis der Lauterkeitskommission: Anders als in Richtlinie 10.1 gilt hier die Anforderung der eindeutigen Erkennbarkeit der Werbung kumulativ zur Anforderung der klaren Trennung vom übrigen Inhalt.[24] Tatsächlich spricht der Umstand für sich, dass das Selbstkontrollorgan der Werbebranche die Anforderungen strenger definiert als der Presserat.
Fussnoten:
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Dr. Michael Schweizer, Rechtsanwalt, ist Inhaber der Schweizer recht AG in Bern und spezialisiert in Fragen des Medien- und Kommunikationsrechts. ↑
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Jahrheft des Presserats 2023, S. 8. ↑
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Einschätzung auf Basis vorläufiger Zahlen des Presserats. Die offiziellen Zahlen erscheinen im Jahrheft des Presserats 2024. ↑
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Zum hohen Interesse an einer medienethischen Beurteilung durch den Presserat siehe schon Michael Schweizer, Übersicht zur Praxis des Schweizer Presserats der Jahre 2021 und 2022, medialex 02/23, 12. März 2023. ↑
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Jahrheft Presserat 2023, S. 5-7, auffindbar unter: https://presserat.ch/wp-content/uploads/2023/05/Jahrheft_2023_D.pdf. ↑
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Der Presserat stützt seine Entscheidungen auf den «Journalistenkodex» (nachfolgend: Berufskodex) bestehend aus der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: Erklärung), auf die vom Presserat erlassenen Richtlinien (nachfolgend: Richtlinien) und auf die Praxis des Presserats. ↑
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Siehe die Information des Europäischen Parlaments vom 13. März 2024, abrufbar unter https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20240308IPR19015/gesetz-uber-kunstliche-intelligenz-parlament-verabschiedet-wegweisende-regeln ↑
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So führte zum Beispiel Ringier im Mai 2023 länderübergreifende KI-Richtlinien ein; die NZZ informierte ihre Leserschaft im November 2023 über ihren Umgang mit KI. ↑
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Siehe etwa den Newsletter Presserat vom 11. August 2023. ↑
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Siehe die Grundsätze im Originalwortlaut https://presserat.ch/journalistenkodex/ki_leitfaden/. ↑
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Zum Regelwerk bestehend aus Erklärung und Richtlinie siehe FN 6. ↑
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Zum Regelwerk bestehend aus Erklärung und Richtlinie siehe FN 6. ↑
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Siehe dazu Peter Studer, Martin Künzi, So arbeiten Journalisten fair, Zürich 2017, S. 140 ff. ↑
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Siehe dazu mit Beispielen Michael Schweizer, Übersicht zur Praxis des Schweizer Presserats der Jahre 2021 und 2022, a.a.O., Rz. 36 ff. ↑
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Siehe zum konkreten Fall Michael Schweizer, Übersicht zur Praxis des Schweizer Presserats der Jahre 2021 und 2022, a.a.O., Rz. 38 BP 7. ↑
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Newsletter Presserat vom 4. April 2023. ↑
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Newsletter Presserat vom 4. April 2023. ↑
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DOMINIQUE STREBEL, Skript Medienethik, Juli 2020, Ziff. 7.2.3. ↑
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Siehe etwa den Entscheid der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen b. 584 vom 22. August 2008, Ziff. 4.1 ff, Ziff. 6.; b. 590 et al. vom 17. Juni 2011. ↑
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Siehe dazu schon der Titel der im Jahr 2023 publizierten Dissertation von Jean-Philippe Ceppi zur verdeckten Videorecherche, Glisser sur une glace dangereusement fine, Lausanne 2022. ↑
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Siehe zum Recht am Wort Michael Schweizer, «Das Recht am Wort nach Art. 28 ZGB», medialex 04/2011. ↑
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Newsletter Presserat vom 30. Mai 2023. ↑
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Newsletter Presserat vom 21. Dezember 2023. ↑
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«Kommerzielle Kommunikation, gleichgültig in welcher Form sie erscheint oder welches Medium sie benutzt, ist unlauter, wenn sie nicht als solche eindeutig erkennbar und vom übrigen Inhalt nicht klar getrennt ist», Grundsätze Lauterkeit in der kommerziellen Kommunikation (Stand Juli 2023), Nr. B.15 Abs. 1, abrufbar unter https://www.faire-werbung.ch/wp-content/uploads/2023/06/SLK-Grundsaetze_DE-1.7.2023-2.pdf ↑
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Das hohe Interesse bestätigte die Bedeutung seiner Arbeit, schreibt der Autor zum Presserat. Wirklich? Ist es nicht vielmehr so, dass die zahlreichen Beschwerden vom Bedürfnis der MedienkonsumentInnen zeugen, dass der Presserat die ihrer Ansicht nach fehlbaren Redaktionen rügen sollte? Könnte die Anzahl der Beschwerden also nicht auch ein Indikator für die journalistische Qualität im Land sein?
Und trägt der Presserat – so paradox dies klingen mag – nicht sogar eine Mitverantwortung an der sinkenden Qualität des Journalismus? Der Autor arbeitet in verdankenswerter Weise anhand diverser Stellungnahmen sowie des KI-Leitfadens eine dem Presserat seit Jahren inhärente Problematik heraus: Zuviele Konjunktive in den Richtlinien, zuviele „sollte“- und „In der Regel“-Formulierungen, die dem Presserat einen maximalen Spielraum bei der Beurteilung von Beschwerden lassen. Diese grosszügigen Grauzonen erhöhen die Chance der kritisierten Redaktionen, auch bei Verfehlungen sich doch noch aus der Affäre ziehen zu können (z.B. 16/2020, 73/2020). Über die letzten 11 Jahre hat der Presserat lediglich 7.3% der eingereichten Beschwerden ganz gutgeheissen, das ist das fragwürdige Abbild dieses übergrossen Handlungsspielraums. Doch was darf man anderes erwarten von einer Branchenorganisation, die das Wirken ihrer eigenen Mitglieder sanktionieren sollte?
Es ist höchste Zeit, dass der Presserat anders zusammengesetzt und (wie die UBI) staatlich finanziert, damit handlungsfähiger wird und primär der Zivilgesellschaft und nicht den Medienhäusern verpflichtet ist. Hierzu bräuchte es einen Diskurs, medialex wäre eine hierfür geeignete Publikation.