Pragmatischer Vorschlag zur dereinstigen Anpassung von Art. 93 BV
Philip Kübler, Dr. iur., Rechtsanwalt, Direktor ProLitteris (Schweizerische Urheberrechtsgesellschaft für Literatur und bildende Kunst, Genossenschaft)
I. Ausgangslage
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Die Medienpolitik der letzten Jahre hatte immer wieder Art. 93 BV zum Gegenstand[1]. Zwei ähnlich gelagerte parlamentarische Initiativen peilten eine Revision des Verfassungstextes an. Zum einen der gleichlautenden Vorstoss von Matthias Aebischer (NR-SP, BE), Olivier Feller (NR-FDP, VD), Bernard Guhl (NR-BDP, AG) und Filippo Lombardi (SR-CVP, TI)[2], zum anderen der Vorstoss von Jürg Grossen (NR-GLP, BE)[3].
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Mit dem Beschluss des Parlamentes, auf eine Revision von Art. 93 BV zu verzichten, sind diese Initiativen vom Tisch. Doch die Frage, wie eine Kompetenzbestimmung formuliert werden sollte, wird sich früher oder später wieder stellen. Auch dann, wenn eine Verfassungsänderung als nicht notwendig oder als politisch schwer durchführbar beurteilt wird.
II. Beurteilung der Initiative „Art. 93 Medien“
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Zweck dieses Vorstosses war die Erweiterung der Bundeskompetenz, um Fördermassnahmen zu ermöglichen, die nicht auf Radio- und TV-Programme oder anderweitig technisch definierte Mediengattungen beschränkt sind.
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Der Änderungsvorschlag ersetzte den Begriff „Radio und Fernsehen“ durch „Medien“ und strich mit dieser Erweiterung den fünften Absatz von Art. 93, die Rücksichtnahme auf die Presse.
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Die Neuformulierung schaffte die folgenden Probleme:
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- Unpassende Ausdehnung der Regulierung auf alle Medien. Das betrifft namentlich gedruckte Zeitungen und Zeitschriften sowie Onlinemagazine, aber auch Blogs mit journalistischem Auftritt oder Anspruch. Die Mindestanforderungen würden für alle Medien gelten, und alle würden der Zuständigkeit der UBI unterliegen. Damit würde in die Freiheit jener Medien eingegriffen, die heute nicht der Radio- und TV-Regulierung unterliegen.
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- Eindruck einer exklusiven Regulierungskompetenz des Bundes. Die Revisionsvorschläge beabsichtigten nicht, die Kantone und ihre rechtlichen und tatsächlichen Bemühungen zur Förderung von Medienangeboten zu beschränken. Diese Gefahr entsteht aber durch die Formulierung „ist Sache des Bundes“. Die Medienregulierung könnte als umfassende und exklusive Bundeskompetenz ausgelegt werden. Dies würde auch für die Förderung gelten. Eine exklusive Bundeskompetenz passt für die Regulierung und Aufsicht, nicht aber für die Medienförderung.
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- Fehlende Medienordnung mit Zielen und Typisierung (reguliert/unreguliert, gefördert/nicht-gefördert). Auf die bisherige Grundlage des Radio- und TV-Rechts kann nicht verzichtet werden, weil die Verbreitung und technische Besonderheiten damit verbunden sind. Mit dem Programmbegriff (lineare Dienste) besteht eine taugliche Abgrenzung, die nicht verlassen werden sollte. Das war auch nicht die Absicht der vorliegenden Vorstösse.
III. Beurteilung der Initiative „Art. 93 Mediale Grundversorgung“
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Der zweite Änderungsvorschlag verzichtete ebenfalls auf „Radio und Fernsehen“, führt dann aber den Begriff „Grundversorgung“ ein. Dieser aus dem Fernmeldewesen bekannte Begriff wirft allerdings neue Abgrenzungsfragen auf. So wird „Universal Service“ im internationalen Telekomgeschäft als infrastrukturelles Basisangebot für alle verstanden. Im Zusammenspiel der Absätze 1 und 2 könnte das Verständnis entstehen, dass nur Informationsleistungen mit öffentlichen Geldern gefördert werden sollen, nicht aber Medienangebote oder unterhaltende Inhalte ausserhalb der „Grundversorgung“. Der Beitrag zur „Information, Bildung und kulturellen Entfaltung sowie zur freien Meinungsbildung“ würde begrenzt durch eine noch zu definierende Einschränkung, dass das Mass der „Grundversorgung“ nicht überschritten werden darf.
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Positiv ist der Fokus auf Medieninhalte, d.h. publizistischen Leistungen, anstelle bestimmter Gattungen oder bestimmter Darbietungs- und Verbreitungsformen.
IV. Formulierungsvorschlag für einen neuen Artikel 93 BV
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Eine neue Verfassungsbestimmung sollte den Kerngedanken der diskutierten Vorstösse aufnehmen, nämlich die Ausdehnung der Mediengattungen über Radio und Fernsehen hinaus. Auf diese Weise können audiovisuelle Medienleistungen generell erfasst werden, oder spezifisch Print und Online. Damit wird eine auf publizistische Leistungen gerichtete Medienförderung ermöglicht, wie sie mittlerweile fast allen Beteiligten vorschwebt.
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Der entscheidende Satz könnte lauten:
«Bund und Kantone können publizistische Medien fördern.»
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Diese Bestimmung wäre als neuer Artikel 93a einzufügen. Es würde es erlauben, den Artikel 93 bestehen zu lassen – falsch ist er ja nicht, nur ungenügend.
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Alternativ wäre eine Neufassung von Art. 93 denkbar wie folgt:
Art. 93 Medien (ersetzt den bisherigen Art. 93)
1 Der Bund erlässt Vorschriften über audiovisuelle Medien
und Audio-Medien.
2 Bund und Kantone können publizistische Medien fördern.
3 Bund und Kantone halten sich an den Grundsatz der
Unabhängigkeit der Medien.
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Auch diese Formulierungen beschränken den Verfassungstext auf den Regulierungsgegenstand und die Förderkompetenz. Die bisherige Ordnung wird nicht abgeschafft, sondern erweitert. Nähere Ausführungen und Abgrenzungen würden den Gesetzen überlassen.
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Als Überschrift wäre der Begriff „Medien“ der beste Weg. Damit sind nicht die Akteure gemeint, sondern eine qualifizierte Form der öffentlichen Kommunikation als Regelungsgegenstand. Der Rundfunk („Radio und Fernsehen“) ist im Begriff „Medien“ enthalten.
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Zu den Medien gehört insbesondere, aber nicht nur, der Journalismus. Der Begriff ist auch offen für Leistungen, die zu den Medieninhalten benachbart oder ihnen nachgelagert sind, z.B. die Tätigkeit von Plattformen, die Kommunikationsinhalte ohne journalistische Prägung aggregieren oder zugänglich machen. Ebenso gehören zu den „Medien“ unterstützende Leistungen im Bereich der Bildung, Selbstregulierung, der Infrastruktur und des Rohmaterials. Erfasst ist auch eine vom traditionellen Journalismus abweichende Form oder Produktionsweise, sofern solchen Leistungen eine ähnliche Bedeutung für die öffentliche Kommunikation und die demokratischen Prozesse zukommt. Beispiele sind Medienangebote, die zur Unterhaltung bestimmt sind, oder solche, die primär mit elektronischer Datenbearbeitung, mit Algorithmen oder möglicherweise mithilfe künstlicher Intelligenz gestaltet werden.
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Die vorgeschlagene Neufassung hätte den Vorteil:
- dass die international verankerte Radio- und TV-Regulierung als Ordnung für die audiovisuellen und Audio-Medien auf Verfassungsstufe erwähnt bleibt;
- dass die Kompetenz zur Regulierung von Radio und Fernsehen (lineares Senden) auf nicht-lineare Audio- und Video-Angebote erweitert wird;
- dass sich die Möglichkeit der Förderung auf andere als AV-Medien erstreckt, also namentlich auf Print und Online;
- dass die bereits in Art. 17 BV enthaltene Unabhängigkeit und Staatsferne angesichts der erweiterten Kompetenz und Förderung betont wird;
- dass sich die Förderung funktional auf „publizistische Medien“ richtet: öffentliche Kommunikationsangebote von einem Verantwortungsträger, dessen dauerhafte Produktion und/oder Selektion (auch) öffentlichen Interessen dient und organisatorischen sowie beruflichen Standards folgt;
- dass Anforderungen an geförderte publizistische Medien und eine Beschwerdemöglichkeit (bisher Absätze 2 und 5 von Art. 93 BV) auf Gesetzesstufe zu regeln sind.
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Die beschriebenen Nachteile der im Parlament 2019 diskutieren Vorstösse werden vermieden, indem nur die Förderungskompetenz, aber nicht die allgemeine Regulierungskompetenz des Bundes auf Print und Online ausgedehnt wird, indem den Kantonen die parallele Förderungskompetenz belassen wird, und indem mit «publizistischen Medien» ein weichenstellender Begriff der Medienförderung eingeführt wird.
Fussnoten:
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Der aktuelle Verfassungstext lautet wie folgt:
Art. 93 Radio und Fernsehen
1 Die Gesetzgebung über Radio und Fernsehen sowie über andere Formen
der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen
und Informationen ist Sache des Bundes.
2 Radio und Fernsehen tragen zur Bildung und kulturellen Entfaltung,
zur freien Meinungsbildung und zur Unterhaltung bei. Sie berücksichtigen
die Besonderheiten des Landes und die Bedürfnisse der Kantone. Sie stellen
die Ereignisse sachgerecht dar und bringen die Vielfalt der Ansichten
angemessen zum Ausdruck.
3 Die Unabhängigkeit von Radio und Fernsehen sowie die Autonomie in
der Programmgestaltung sind gewährleistet.
4 Auf die Stellung und die Aufgabe anderer Medien, vor allem der Presse,
ist Rücksicht zu nehmen.
5 Programmbeschwerden können einer unabhängigen Beschwerdeinstanz
vorgelegt werden. ↑ -
18.470 u.a., Medien in die Bundesverfassung, eingereicht am 12.12.2018, mit folgendem Formulierungsvorschlag für Art. 93 BV:
Art. 93 Medien
1 Die Gesetzgebung über die Medien ist Sache des Bundes.
2 Die Medien tragen zur Bildung und kulturellen Entfaltung, zur freien
Meinungsbildung und zur Unterhaltung bei. Sie berücksichtigen die
Besonderheiten des Landes und die Bedürfnisse der Kantone. Sie stellen
die Ereignisse sachgerecht dar und bringen die Vielfalt der Ansichten
angemessen zum Ausdruck.
3 Die Unabhängigkeit der Medien sowie die Autonomie in der
Programmgestaltung sind gewährleistet.
4 Programmbeschwerden können einer unabhängigen Beschwerdeinstanz
vorgelegt werden. ↑ -
18.474, Mediale Grundversorgung in die Bundesverfassung, eingereicht am 12.12.2018, mit folgendem Formulierungsvorschlag für Art. 93 BV:
Art. 93 Mediale Grundversorgung
1 Die Gesetzgebung über die mediale Grundversorgung ist Sache des
Bundes.
2 Die mit öffentlichen Geldern erstellten und verbreiteten medialen
Inhalte tragen zur Information, Bildung und kulturellen Entfaltung
sowie zur freien Meinungsbildung bei. Sie berücksichtigen die
Besonderheiten des Landes und die Bedürfnisse der Kantone. Sie stellen
die Ereignisse sachgerecht dar und bringen die Vielfalt der Ansichten
angemessen zum Ausdruck.
3 Die Unabhängigkeit der Anbieter medialer Inhalte sowie die Autonomie
in der Programmgestaltung sind gewährleistet.
4 Auf die Stellung und die Aufgabe privater Medienanbieter ist Rücksicht
zu nehmen. Die Anbieter medialer Inhalte, die mit öffentlichen Geldern
produziert werden, beachten den Grundsatz der Subsidiarität.
5 Beschwerden können einer unabhängigen Beschwerdeinstanz vorgelegt werden. ↑