Akkreditierter Gerichtsberichterstatter erhielt Verwarnung wegen Berichts zur Anklageschrift im Fall Vincenz
Dr. Matthias Schwaibold, Rechtsanwalt, Zürich
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Man kann über die Internet-Plattform «Inside Paradeplatz» denken, was man will – aber etwas muss man ihr lassen: Den «Fall Vincenz», um ihn so zu nennen, hat sie ins Rollen gebracht. Gewiss unter gütiger Mithilfe von Leuten, die unerlaubterweise Unterlagen weiterreichten. Und gewiss hat auch der in der Folge tief gefallene ehemalige Chef der Raiffeisen-Gruppe nicht wenig dazu beigetragen, dass er jetzt nicht nur im Dreck liegt, sondern auch noch mit weiterem beworfen wird. Aber das spielt nur am Rande eine Rolle.
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Vorliegend geht es um einen Entscheid der Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich (nachfolgend «VK»). Sie hatte eine Anzeige des Bezirksgerichts Zürich gegen den spiritus rector von «Inside Paradeplatz» zu beurteilen: Denn Lukas Hässig ist auch akkreditierter Gerichtsberichterstatter. Mithin unterliegt er der Disziplinaraufsicht eben jener VK. Sie ist die zuständige Behörde, die über die Einhaltung der in der AEV («Akteneinsichtsverordnung») geregelten Akkreditierungspflichten wacht. Der vom Bezirksgericht erhobene Vorwurf lautete, dass Lukas Hässig gegen die ihm als Gerichtsberichterstatter obliegenden Pflichten verstossen habe, als der bei zwei Gelegenheiten aus der Anklageschrift gegen Vincenz und Mitbeteiligte ausführlich vortrug.
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Gelegenheit 1 war natürlich Hässigs eigene Plattform: Unmittelbar nachdem die Anklageschrift ans Gericht gereicht worden war, referierte er daraus – und stand damit am Anfang einer weiteren, wenn auch nicht unbedingt gleichartigen Berichterstattung in anderen Medien. Und wenige Tage später trat er in einem Zürcher Lokal-Fernsehsender auf, was ihm Gelegenheit 2 bot, sein Wissen um die Anklagevorwürfe auszubreiten. Dies alles war im November 2020, der vorliegende Entscheid erging im Februar 2021 und damit doch verhältnismässig schnell.
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Zum Zeitpunkt, da die Anklageschrift versandt und anschliessend einige ihrer Inhalte veröffentlicht wurden, galt eine staatsanwaltliche Verfügung: Sie untersagte den Angeklagten, ihren Verteidigern und einem weiteren Kreis von Personen jedwede Veröffentlichung. Vermutlich sah, ohne dass das so ganz klar wird, das Bezirksgericht im Verstoss gegen diese Verfügung eine (erste) Missetat. Diese Verfügung zog die VK bei – und sich elegant aus der Affäre: Eine solche Verfügung ist nämlich nichtig. Es ist, so meine feste und im privaten Kreis wiederholt geäusserte Überzeugung, völlig ausgeschlossen, dass die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten und ihren Verteidigern einen Maulkorb verpasst; ob solches gegenüber anderen Dritten grundsätzlich, beschränkt oder unbeschränkt möglich ist, muss hier nicht erörtert werden. Aber es gibt keine gesetzliche Grundlage – und das braucht es doch im Rechtsstaat –, um einem Angeschuldigten und seinem Verteidiger zu verbieten, über den Gegenstand und/oder den Inhalt der Anklageschrift etc. mit Dritten zu reden oder diese bekannt zu machen. Mir ist zwar schleierhaft, warum sich die Damen und Herren Kollegen in der Verteidigerriege und die zahlreichen Angeklagten diesem Diktat offenbar unterzogen haben – aber als Jurist ist meine Einschätzung glasklar: Diese Verfügung ist nichtig, mit allen Folgen, die das hat.
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Die VK konnte sich einer vorfrageweisen Beurteilung dieser Frage indessen entziehen: Sie referiert nämlich den Kreis der vom Verbot Betroffenen und hält, völlig zutreffend fest, dass die Gerichtsberichterstatter nicht unter den Adressaten figurieren. Womit aus dieser Geheimhaltungsverfügung also nichts gegen den Beanzeigten abzuleiten ist. Alles andere liesse sich auch nicht begründen, solange man noch davon ausgeht, dass ein einzelner Staatsanwalt keine geheimen Allgemeinverfügungen erlassen kann…. Eine Berichterstattung als solche stellt also keine Pflichtverletzung dar.
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Hingegen war damit nicht entschieden, ob der Beanzeigte auch die allgemeinen Verpflichtungen gemäss § 11 Abs. 2 AEV eingehalten hätte. Die lautet: «Die Berichterstattung soll in sachlicher, angemessener Weise erfolgen und auf die schutzwürdigen Interessen der Prozessparteien gebührend Rücksicht nehmen. Insbesondere ist jede Art von Vorverurteilung, unnötiger Blossstellung oder suggestiver Berichterstattung zu vermeiden.» Diesem Prüfungskriterium hielt der fragliche Bericht von «Inside Paradeplatz» nicht stand: Jedes Wort auf die Waage legend, hielt die VK Hässig vor, dass er durch die Ausbreitung von Einzelheiten über die Eskapaden des Angeklagten gegen diese Pflichten verstossen habe. Die Darstellung, welche das Schwergewicht auf die Besuche von Nachtclubs etc. legte, sei auf reine Effekthascherei ausgerichtet gewesen und habe die Sensationsgier des Publikums stillen wollen. Zudem sei zwar die Unschuldsvermutung irgendwie mittendrin erwähnt worden, aber die habe reine Feigenblatt-Funktion gehabt. Die ganze übrige Darstellung habe, überwiegend im Indikativ stehend, dem Leser den Eindruck feststehender Tatsachen vermittelt. Zudem sei die Zusammenstellung der Vorgänge und deren sprachliche Darstellung «äusserst blossstellend, vorverurteilend und suggestiv» gewesen. Eine im Sinne der AEV korrekte Berichterstattung hätte sehr viel deutlicher machen müssen, dass es sich einstweilen um die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft handelt, und sie hätte in Ton und Wortwahl viel sachlicher sein müssen.
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Dem von Hässig vorgebrachten Argument, die Medien seien «Wachhunde der Demokratie», pflichtete die VK grundsätzlich bei. Schon deshalb könne man ihm keinen Vorwurf daraus machen, dass er gegen die Geheimhaltungsverfügung verstossen habe, die Tatsache der Berichterstattung sei als solche gerade kein Pflichtverstoss. Zurecht zieht die VK in Betracht, dass der Angeklagte eine Person des öffentlichen Interesses sei, weshalb die Berichterstattung durch ein legitimes Informationsinteresse der Öffentlichkeit gedeckt sei. Der Schutzanspruch von Vincenz sei, verglichen mit dem Durchschnittszeitgenossen, zwar reduziert; aber Hässig habe mit seinem Beitrag auch diese enger gezogenen Grenzen überschritten. Der Artikel genüge den von § 11 Abs. 2 geforderten Kriterien «in ausgesprägtem Masse nicht». Das sei durch keine legitimen öffentlichen Interessen mehr gedeckt. Die zahlreichen, im Entscheid angeführten Textpassagen stützen dieses Unwerturteil vollkommen.
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Anders sieht es die VK bezüglich des Fernsehauftritts: Hässig habe bei dieser Gelegenheit «in einer angemessenen Art und Weise und ausreichend sachlich» über die Anklageschrift berichtet. Zudem habe er wiederholt betont, dass es sich um die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft handle, ausserdem legte er den Schwerpunkt offenbar auf einen Übernahmesachverhalt und nicht auf die zuvor zahlreich ausgebreiteten Nachtclubbesuche und ähnlich gelagerte Vorfälle. Womit eben in dieser Hinsicht kein Verstoss gegen die angerufene Bestimmung vorlag.
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Dem Beanzeigten kam zugute, dass es die erste Pflichtverletzung in seiner Karriere war. Weshalb die VK auch nur zum Mittel einer Verwarnung griff und Hässig auch nur die Hälfte der auf 1’000 Franken angesetzten Gebühr auferlegte.
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Dagegen kann man eigentlich keine Einwände haben, wenn man davon ausgeht, dass die Medien- und Meinungsfreiheit nicht grenzenlos ist und eine Verordnung der obersten kantonalen Gerichte eine gültige gesetzliche Grundlage für inhaltliche Einschränkungen von Berichten über Strafverfahren. Wer «Inside Paradeplatz» kennt, weiss, dass weder stilistische Eleganz noch intellektuelle Raffinesse besondere Markenzeichen sind. Und dann gilt eben auch hier: «Der Ton macht die Musik.» Dass es nur zu einer Verwarnung durch die VK gekommen ist, dürfte Lukas Hässig vermutlich eher wenig beeindruckten und Pierin Vincenz kaum trösten. Dem Entscheid ist sowohl im Ergebnis wie seiner sorgfältigen Begründung vorbehaltlos zuzustimmen, und das sagt der Verfasser auch als sonst eher unerschütterlicher Vertreter der Sache der Boulevardmedien.
Der hier besprochene Beschluss ist noch nicht rechtskräftig.
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