Die Rechtskommission des Ständerates plant eine brisante Änderung der ZPO
Matthias Schwaibold, Dr. iur., Rechtsanwalt, Zürich
«… drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.»
Julius von Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin, 1848, S. 23
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Jetzt geht es sogar nur um ein einziges, kleines Wort, nämlich das Adjektiv «besonders». Es soll nach dem Wunsch der Rechtskommission des Ständerats gestrichen werden. Wer hinter der Streichung steckt, weiss ich nicht. Aber dass es ein Anschlag auf die Medien ist, steht fest.
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Um das zu erklären, muss ich kurz ausholen: Art. 266 der Zivilprozessordnung regelt gemäss Randtitel die «Massnahmen gegen Medien». Der Gesetzestext schränkt dann auf die «periodischen Medien» ein. Weil eine solche richterliche Massnahme gegenüber einem periodischen Medium letztlich ein Akt der Zensur ist, hat der Gesetzgeber dafür besondere Bedingungen aufgestellt. Die Hürden sind in Art. 266 ZPO gegenüber den in Art. 261 ZPO geregelten sonstigen richterlichen Massnahmen höher. Uns interessiert im Augenblick nur die Bestimmung von Art. 266 Buchstabe a. ZPO, die zum 1. Januar 2011 in Kraft trat. Sie lautet derzeit:
Art. 266 Massnahmen gegen Medien
Gegen periodisch erscheinende Medien darf das Gericht eine vorsorgliche Massnahme nur anordnen, wenn:
a. die drohende Rechtsverletzung der gesuchstellenden Partei einen besonders schweren Nachteil verursachen kann;
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Von seinem reinen Wortlaut her gesehen findet diese Bestimmung also nur Anwendung, wenn es um «drohende», also zukünftige, noch nicht erfolgte Rechtsverletzungen geht, denn «drohend» ist für einen Juristen immer etwas, das noch ansteht, aber noch nicht eingetreten ist.
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Der Bundesrat schlägt im Rahmen der anstehenden ZPO-Reform eine erste Änderung vor:
«a. die bestehende oder drohende Rechtsverletzung der gesuchstellenden Partei einen besonders schweren Nachteil verursacht oder verursachen kann;»
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Damit wird es also zulässig sein, auch gegen schon eingetretene («bestehende») Verletzungen eine Massnahme zu erlassen. Der besonders schwere Nachteil könnte nicht bloss in der Zukunft eintreten, sondern schon verursacht worden sein. Der neue Wortlaut gemäss dem bundesrätlichen Vorschlag erweitert also die richterliche Zensurkompetenz. Das ist zu bedauern, aber aus einem einfachen Grunde nicht tragisch: Die Gerichte haben sich nämlich schon immer so verhalten, als ob das «bestehend» resp. «verursacht» im Gesetz wäre; sie beriefen sich auf die Rechtslage vor 2011, denn da stand es im damals anwendbaren Zivilgesetzbuch nämlich seit 1985 so drin. Man hat – das war die allgemeine Auffassung – mit der ZPO aus Versehen eine Änderung gegenüber dem ZGB beschlossen, die niemand so gewollt hätte. In der Rechtswissenschaft und Praxis blieb die, offenbar von mir als einzigem vertretene, gegenteilige Meinung völlig ungehört: Sie wurde überwiegend schlicht ignoriert und in seltenen Fällen mit wenig überzeugenden Argumenten (namentlich der Behauptung eines gesetzgeberischen Versehens) zurückgewiesen. Wenn man so will, passt also der Bundesrat mit seinem Vorschlag 10 Jahre später das Gesetz der unveränderten Praxis an – fragwürdig, aber irgendwo verständlich.
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Viel schwererwiegend ist aber die Idee, welche der Rechtskommission des Ständerats bei der Beratung der laufenden Revision kam: Sie will das Wörtchen «besonders» streichen. Es soll also jetzt schon ein «schwerer» Nachteil genügen und nicht erst ein «besonders schwerer», um eine Massnahme zu erlassen. Das ist eine klare Verschlechterung des Zustandes gegenüber dem geltenden Recht und gegenüber der Rechtslage seit 1985: Der «besonders schwere Nachteil» stand mit der Reform des Persönlichkeitsschutzes 25 Jahre in Art. 28 c Abs. 3 ZGB. Der qualifizierte Nachteil (eben der «besonders schwere») ist mehr als der «schwere» Nachteil und natürlich erst recht viel mehr als der «Nachteil» überhaupt. Wenn man jetzt die Anforderungen an den Nachteil herabsetzt, bevorzugt man damit einen Kläger. Denn bisher musste der nur glaubhaft machen, dass der von ihm befürchtete Nachteil besonders gross sei. Wer aber schon einen «schweren» Nachteil genügen lässt, muss nur noch den «gewöhnlichen» Nachteil verneinen, und alles, was nicht mehr «gewöhnlich», «unvermeidlich» oder «naturgegeben» ist, ist dann logischerweise schon ein «schwerer» Nachteil. Hingegen war es bisher durchaus nicht einfach, den «besonders» schweren Nachteil dem Gericht klarzumachen.
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Nun liegt das Problem nicht allein darin, dass ein geringerer Nachteil gegenüber früher ausreichen soll: Denn gemäss Art. 265 Abs. 1 ZPO kann ja eine Massnahme (unbestritten auch eine solche nach Art. 266 ZPO) ohne Anhörung erlassen werden. Also werden mit Art. 266 ZPO auch die Voraussetzungen für das sogenannte «Superprovisorium» herabgesetzt. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass definitionsgemäss das beklagte Medienunternehmen gar nicht angehört wird, also auf einseitiges Vorbringen entschieden wird, und zudem kein Rechtsmittel gegeben ist, also das Superprovisorium auch sofort vollstreckbar ist. Weil aber die zugunsten der Medien in Art. 266 ZPO enthaltenen Hürden zu überwinden waren, gab es auch nicht jeden Tag ein Superprovisorium gegen Medien, sondern vielleicht nur eines im Monat – in der gesamten Schweiz.
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Wer also am Nachteil des Art. 266 lit. a. ZPO herumschraubt, erleichtert zugleich superprovisorische Massnahmen. Er schadet damit klarerweise den Medien und verringert den seit 1985 bewusst im Gesetz stehenden Schutz; es wird abermals das Geschäft der Kläger geführt und unter Berufung auf den Persönlichkeitsschutz die Meinungsfreiheit abgebaut. Dabei steht doch erst am Ende eines ordentlichen Zivilprozesses und nach Anhörung und Beweisverfahren fest, ob eine Publikation rechtswidrig ist oder nicht. Solange aber auf dem Massnahmeweg etwas verboten bleibt, ist der Fall faktisch zugunsten des Klägers und gegen das Medienunternehmen entschieden; was sonst gilt, wird durch den Massnahmeentscheid umgedreht: Ein Begehren wird gutgeheissen, bevor über seine Rechtmässigkeit entschieden worden ist. Es gibt aber keinen Grund, die Meinungsfreiheit weiter zu schwächen und die Zensurgelüste von Klägern zu stärken.
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Niemand hat in den letzten 36 Jahren, nämlich seit Inkrafttreten von Art. 28 c Abs. 3 ZGB behauptet, (superprovisorische) Massnahmen gegen Medien würden durch die Schrankenbestimmungen de facto verunmöglicht oder seien nur in Extremfällen möglich. Im Gegenteil: Gerichtspraxis und überwiegende Lehre haben die Hürden zwar kontinuierlich gerissen und immer wieder die Eingriffsschwelle ein wenig herabgesetzt. Dennoch erfüllen die gesetzlichen Voraussetzungen noch immer ihren Zweck und haben bis heute verhindert, dass die verfassungsmässig verbotene Zensur im privatrechtlichen Gewande einer zivilprozessualen Massnahme Einzug hält.
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Aber darauf läuft der Vorschlag hinaus. Schon die Streichung eines Wortes kann ein gesetzgeberischer Fehler sein und Bibliotheken zur Bedeutung der Meinungsfreiheit und der Waffengleichheit im Prozess zu Makulatur werden lassen.
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