Gerichtsberichterstattung: Bundesgericht zurück auf dem richtigen Weg

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Das Bundesgericht korrigiert in BGer 7B_61/2022 einen Ausrutscher in BGE 147 IV 145

Christoph Born, Dr. iur., Rechtsanwalt, Zumikon

Résumé: Dans un arrêt du 6 janvier 2021 (ATF 147 IV 145), le Tribunal fédéral a établi que les décisions d’interdire aux journalistes de relater certains faits d’une audience de tribunal doivent être considérées comme des «décisions et ordonnances simples d’instruction» au sens de l’art. 80 al. 3 CPP. Dès lors, elles «ne doivent pas nécessairement être rédigées séparément ni être motivées et sont consignées au procès-verbal et notifiées aux parties de manière appropriée.» Par ailleurs, dans un autre arrêt, (TF 7B_61/2022 du 25 juin 2024), la Haute cour revient sur sa pratique antérieure selon laquelle une décision de huis clos pour les journalistes accrédités clôt la procédure et doit donc être considérée comme une décision finale sujette à recours.

Zusammenfassung: In BGE 147 IV 145 vom 6. Januar 2021 hat das Bundesgericht eine Verfügung, in der Medienschaffenden verboten wurde, über gewisse Sachverhalte einer Gerichtsverhandlung zu berichten, als verfahrensleitende Verfügung im Sinne von Art. 80 Abs. 3 StPO qualifiziert, die weder gesondert ausgefertigt noch begründet werden muss, sondern im Protokoll vermerkt und den Parteien auch mündlich eröffnet werden kann. In BGer 7B_61/2022 vom 25. Juni 2024 kommt das Bundesgericht auf seine anders lautende frühere Praxis zurück, gemäss welcher eine Verfügung über den Ausschluss der Öffentlichkeit von einer Gerichtsverhandlung und der Urteilseröffnung für akkreditierte Gerichtsberichterstatter/innen das Verfahren abschliesst und deshalb als anfechtbarer Endentscheid anzusehen ist.

BGer 7B_61_2022 25.06.2024

 

Inhalt des Urteils 7B_61/2022 in Kürze:

Sachverhalt

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Das Bezirksgericht Kreuzlingen hatte einen Angeklagten wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern und weiterer Delikte zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten sowie zu einer unbedingten Geldstrafe verurteilt. Die Opfer gehörten dem familiären Umfeld des Verurteilten an. Dieser erhob Berufung an das Obergericht des Kantons Thurgau. Die Berufungsverhandlung war auf den 24. Februar 2022 angesetzt. Auf Antrag der Privatkläger verfügte die Präsidentin zehn Tage vorher den vollständigen Ausschluss der Öffentlichkeit (inkl. Gerichtsberichterstatter/innen). Gegen diese Verfügung erhob ein akkreditierter Gerichtsberichterstatter mit Eingabe vom 2. März 2022 Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragte deren Aufhebung, soweit sie den Ausschluss der akkreditierten Medienschaffenden betreffe.

Erwägungen

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Das Bundesgericht liess sich über zwei Jahre Zeit, bis es am 25. Juni 2024 die Beschwerde guthiess und die Verfügung der Obergerichtspräsidentin insoweit aufhob, als die akkreditierten Gerichtsberichterstatter/innen von der Berufungsverhandlung und von der mündlichen Urteilsverkündung ausgeschlossen worden waren. Es stellte fest, dass durch deren Ausschluss der Grundsatz der Justizöffentlichkeit und die Medien- und Informationsfreiheit verletzt worden waren.

3

Da die Berufungsverhandlung am 24. Februar 2022 bereits stattgefunden hatte, hatte der Beschwerdeführer kein aktuelles praktisches Interesse mehr an der Behandlung seiner Beschwerde. Gemäss ständiger Praxis sieht das Bundesgericht aber von diesem Erfordernis ab, «wenn sich die mit der Beschwerde aufgeworfene Frage jederzeit und unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen könnte, an ihrer Beantwortung wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht und eine rechtzeitige verfassungsrechtliche Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre» (E. 1.2). Diese Voraussetzungen erachtete das Bundesgericht als erfüllt und trat auf die Beschwerde ein (E. 1.2).

4

Eine wichtige Feststellung trifft das Bundesgericht gleich zu Beginn der Erwägungen: «Der Beschwerdeführer ist ein akkreditierter Gerichtsberichterstatter und nicht Partei des Strafverfahrens. Für ihn schliesst die vorinstanzliche Verfügung über den Ausschluss der Öffentlichkeit von der Berufungsverhandlung und Urteilseröffnung das Verfahren ab. Diese ist deshalb als anfechtbarer Endentscheid gemäss Art. 90 BGG anzusehen (…)» (E. 1.1).

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In E. 2.1 erläutert das Bundesgericht in kompakter und übersichtlicher Form die Bedeutung und den Zweck des Grundsatzes der Justizöffentlichkeit sowie die Funktion der Gerichtsberichterstattung durch die Medien.

6

In E. 2.2 betont es mit Blick auf Art. 70 StPO, welcher die Einschränkungen und den Ausschluss der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen regelt, dass «Publikums- und Medienöffentlichkeit die verfassungsrechtliche Regel, der Ausschluss der Öffentlichkeit die legitimationsbedürftige Ausnahme ist. Es sind die Interessen, zu deren Schutz der Ausschluss erfolgen soll, und die Interessen der Öffentlichkeit sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Der Ausschluss der Öffentlichkeit und der Gerichtsberichterstatterinnen und -erstatter muss verhältnismässig, d.h. geeignet und erforderlich sein (…).«

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In E. 2.3 zeigt das Bundesgericht beispielhaft auf, wann eine Zugangsverweigerung für Medienschaffende angezeigt erscheint. Es bekräftigt: «Letztlich ist in jedem konkreten Einzelfall anhand einer umfassenden Abwägung der Interessen der Opfer, von Jugendlichen, der Beschuldigten, des Publikums und der Medien zu beurteilen, ob ein Ausschluss der Öffentlichkeit in Frage kommt. Dabei gebietet der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, dass eine Einschränkung des Justizöffentlichkeitsgebots auf Verfahrensabschnitte beschränkt bleibt, welche den Kern des Privatlebens und intime Lebenssachverhalte berühren, die in der Öffentlichkeit auszubreiten den betroffenen Personen nicht zugemutet werden kann (…)».

8

In Anwendung dieser Grundsätze kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass sich der vollständige Ausschluss der akkreditierten Gerichtsberichterstatter/innen von der Berufungsverhandlung durch die Obergerichtspräsidentin als unverhältnismässig erweist und gegen das Justizöffentlichkeitsgebot sowie die Medien- und Informationsfreiheit verstösst (E. 3). Dabei berücksichtigt es u.a., dass der Fall den Medien bereits aufgrund der Medienmitteilung des erstinstanzlichen Gerichts bekannt war, dass die Opfer von der Teilnahme an der Berufungsverhandlung dispensiert waren und dass bereits das erstinstanzliche Verfahren unter Ausschluss des Publikums und der Öffentlichkeit stattgefunden hatte (E. 3.3).

 

Anmerkungen:

9

Auf den ersten Blick scheint das hier besprochene Urteil 7B_61/2022 vom 25. Juni 2024 kaum Neues zu enthalten, sondern auf der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung – insbesondere auf BGE 143 I 194 – zu basieren. Gleichzeitig stellt es aber auch eine Korrektur von BGE 147 IV 145 vom 6. Januar 2021 dar, den Thomas Hasler zu Recht und wohlbegründet als «rechtsstaatlich fragwürdigen Entscheid» bezeichnet hat (vgl. Thomas Hasler, Das Bundesgericht auf Abwegen, medialex 10/23, 11. Dezember 2023).

10

In BGE 147 IV 145 hatte das Bundesgericht einen Fall zu beurteilen, in dem ein Kriminalgericht des Kantons Neuenburg während der Hauptverhandlung den Medienvertretern unter Strafandrohung im Sinne von Art. 292 StGB u.a. untersagte, darüber zu berichten, was die Kinder des Angeklagten im Zusammenhang mit dessen Tötungsdelikt gesehen hatten. Ein Journalist, der sich nicht an dieses Verbot hielt, wurde in der Folge zu einer Busse von CHF 2’500 verurteilt. Dagegen erhob er Beschwerde.

11

Das Bundesgericht qualifizierte das vom Kriminalgericht erlassene Verbot in BGE 147 IV 145 wie folgt: «Der Vorentscheid, welcher den Medienvertretern, die zu Verhandlungen unter teilweisem Ausschluss der Öffentlichkeit zugelassen sind, die Berichterstattung über bestimmte Informationen untersagt, ist ein verfahrensleitender Beschluss (Art. 80 Abs. 3 StPO), der weder gesondert ausgefertigt noch begründet werden muss, sondern im Protokoll vermerkt und den Parteien in geeigneter Weise, insbesondere auch mündlich, eröffnet werden kann» (Regeste a, Abs. 2). Demzufolge könne das Verbot nicht mit sofortiger Beschwerde, sondern erst zusammen mit dem Endentscheid angefochten werden (E. 1.4.2).

12

Dieser Qualifikation hält Hasler zu Recht entgegen, dass es den Medienvertretern nicht zumutbar und in der Praxis auch nicht ohne Weiteres möglich sei, einen Fall bis zum Endentscheid weiter zu verfolgen, zumal sie keine Verfahrensparteien seien, die über den Fortgang des Verfahrens informiert werden (a.a.O., Ziff. 15).

13

Im hier besprochenen BGer 7B_61/2022 kommt das Bundesgericht nun aber auf seine frühere Praxis (vgl. die nicht veröffentlichten Erwägungen von BGE 143 I 194 in BGer 1B_349/2016, 1B_350/2016, E.2) zurück und hält ohne Wenn und Aber fest, dass eine Verfügung über den Ausschluss der Öffentlichkeit von einer Gerichtsverhandlung und einer Urteilseröffnung für Gerichtsberichterstatter/innen das Verfahren abschliesst und deshalb als anfechtbarer Endentscheid gemäss Art. 90 BGG anzusehen ist (E. 1.1). Dass das Bundesgericht auf Art.90 BGG und nicht auf die StPO verweist, rührt daher, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit von einer letzten kantonalen Instanz verfügt wurde. An der Qualifikation als Endentscheid ändert sich deswegen aber nichts.

14

Offenbar hat das Bundesgericht im hier besprochenen BGer 7B_61/2022 erkannt, dass ihm in BGE 147 IV 145 ein Fehler unterlaufen ist, der einer Behebung bedurfte. Ein Indiz dafür ist, dass es wiederholt auf BGE 143 I 194 verweist, BGE 147 IV 145 aber mit keinem Wort erwähnt.

15

Im hier besprochenen BGer 7B_61/2022 korrigiert das Bundesgericht im Ergebnis auch seine Erwägungen in BGE 147 IV 145 zum rechtlichen Gehör. Das Kriminalgericht hatte dem anwesenden Journalisten keine Gelegenheit gegeben, sich vorgängig zum Verbot und zur Strafandrohung im Sinne von Art. 292 StGB zu äussern. Das Bundesgericht sah darin keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör: Der Beschwerdeführer habe sich zu diesem Zeitpunkt im Saal befunden und hätte reagieren können, wenn er die Entscheidung für ungerechtfertigt gehalten hätte. Er hätte sofort den Anwalt des Unternehmens, bei dem er angestellt war, kontaktieren und um Rat bitten sollen, bevor er sich entschied, das Verbot zu ignorieren. Hingegen habe er an der Verhandlung teilgenommen, ohne vor dem Strafgericht eine Frage zu diesem Punkt zu stellen, obwohl er die Wiedererwägung hätte verlangen oder sogar eine Beschwerde gegen das Verbot hätte einlegen und die aufschiebende Wirkung hätte beantragen können (E. 1.2; vgl. dazu die Kritik von Hasler, a.a.O., Ziff. 18 ff.). Im hier besprochenen BGer 7B_61/2022 hat das Bundesgericht den Ausschluss von Medienschaffenden (wieder) als Endentscheid qualifiziert. Vor einem solchen sind die betroffenen Journalistinnen und Journalisten zwingend anzuhören – ansonsten ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wird.

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1 Kommentar

13 + twenty =

  • Es wäre nett gewesen, hätte das BGer auch diesen Entscheid, wie den unsäglichen BGE 147 IV 145, in die Amtliche Sammlung aufgenommen und dabei auf den 147er in ablehnender Weise Bezug genommen.

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