Kurz vor einem Urnengang gilt ein sehr strenger Massstab

K

Das Bundesgericht benennt die Kriterien zur Umsetzung des Vielfaltsgebots vor Abstimmungen und Wahlen

Oliver Sidler, Dr. iur., Rechtsanwalt, Küssnacht am Rigi

Résumé: Saisi d’une plainte après la diffusion d’un reportage de la RTS sur la loi Covid-19, avant une votation sur ce sujet, le Tribunal fédéral a été amené (arrêt 2C_859/2022) à préciser les critères de mise en œuvre du principe de diversité dans les compte-rendus journalistiques, avant les votations et les élections. Le reportage portait sur le climat tendu ayant prévalu avant la votation de novembre 2021. La Cour conclut que ni la forme de l’émission ni l’appréciation (personnelle) de la chaîne concernant le but de la diffusion n’ont été des éléments déterminants pour l’examen du principe de diversité avant les élections et les votations. L’avocat Oliver Sidler analyse cet arrêt qui fixe des critères stricts pour l’application du devoir de diligence des journalistes dans les comptes-rendus concernant les objets de votation et d’élection.  

Zusammenfassung: Im Entscheid 2C_859/2022 betr. eine vom Fernsehen RTS ausgestrahlte Reportage zum vergifteten Klima im Vorfeld der Abstimmung vom November 2021 zum Covid-19-Gesetz hielt das Bundesgericht fest, dass die Form der Sendung oder die (persönliche) Einschätzung des Senders über den Zweck seiner Ausstrahlung zur Prüfung des Vielfaltsgebot vor Wahlen und Abstimmungen nicht massgebend sei. Rechtsanwalt Oliver Sidler bespricht das Lausanner Urteil, das einen strengen Massstab an die journalistische Sorgfaltspflicht im Vorfeld von Urnengängen anlegt.

Anmerkungen:

1. Sachverhalt und Beschwerdegründe

1

In einer Reportage im Rahmen der Sendung „Mise au Point“ vom 14. November 2021 strahlte Fernsehen RTS eine Reportage über das vergiftete politische Klima in der Schweiz im Vorfeld der Volksabstimmung vom 28. November 2021 über die Änderung des Covid-19-Gesetzes aus. Vor der Unabhängigen Beschwerdeinstanz (UBI) wurde gerügt, dass die Gegner der staatlichen Massnahmen unzureichend zu Wort gekommen seien und auch auf die Gründe für das verschlechterte politische Klima und der Verantwortung der Massnahmen-Befürworter dafür nicht eingegangen worden sei. Mit sechs zu drei Stimmen stützte die UBI im Entscheid b.915 vom 23. Juni 2022 diese Meinung, da mehrheitlich Stimmen zu Wort kamen, welche über Drohungen und Beleidigungen wegen ihrer positiven Haltung zu den staatlichen Covid-Massnahmen erhalten hatten. Personen, welche die Massnahmen ablehnten, kamen nur am Rande in viel kürzeren Sequenzen und sehr allgemein gehalten zur Sprache. Dieses Ungleichgewicht und die dadurch vermittelte Stimmung benachteiligten die Gegnerschaft des Covid-19-Gesetzes und führten zu einer Unausgewogenheit, meinte die UBI. Die aus dem Vielfaltsgebot abgeleiteten besonderen Anforderungen zur Gewährleistung der Chancengleichheit im Hinblick auf bevorstehende Volksabstimmungen habe die Redaktion deshalb nicht erfüllt.

2

Vor Bundesgericht wie schon bei der Vorinstanz war vor allem strittig, ob sich das Thema der Reportage direkt mit der Volksabstimmung vom 28. November 2021 über die Änderung des Covid-19-Gesetzes befasste und somit nahe an einem Abstimmungstermin ausgestrahlt wurde, mit der Folge, dass das Vielfaltsgebot gemäss Art. 4 Abs. 4 RTVG in verschärfter Form gilt. Die Beschwerdeführerin (SRG) macht geltend, dass die Sachverhaltsdarstellung des angefochtenen Entscheids willkürlich sei, soweit sie festhält, dass das Thema der strittigen Reportage, nämlich die Zunahme von Beleidigungen und Drohungen gegen die Protagonisten der Abstimmungskampagne für das Covid-19-Gesetzes, „klar und direkt“ in der Debatte über die bevorstehende Abstimmung über dieses Gesetz verankert war. Die Beschwerdeinstanz habe zu Unrecht festgestellt, dass der Beitrag gegen Art. 4 Abs. 4 RTVG verstosse. Die Beschwerdeführerin machte eine Verletzung von Art. 10 EMR geltend. Sie hätte nur eine Reportage zur aktuellen Tatsache, dass die politische Debatte in der Schweiz erheblich eskaliert war, und nicht über die Abstimmung an sich, ausgestrahlt. Der journalistische Ansatz habe darin bestanden, das Sicherheitsrisiko bestimmter gewählter Volksvertreter sowie die mögliche Gefährdung der demokratischen Debatte im Rahmen einer Volksabstimmung zu hinterfragen.

2. Erwägungen des Bundegerichts

3

Diese Argumentation verwarf das Bundesgericht mit Hinweis auf BGE 134 I 2, wonach bei der Prüfung einer Verletzung des Vielfaltsgebots nicht auf die subjektive Einschätzung des Veranstalters bezüglich der Natur des Sendegefässes oder der Zielsetzung seines Beitrags ankomme, sondern auf dessen objektiv abzuschätzende Wirkung auf das Publikum. „Je später vor dem Urnengang und je intensiver eine Stellungnahme zu einer Wahl oder Abstimmung an Radio und Fernsehen erfolgt, umso strikter soll jede Einseitigkeit und Manipulation ausgeschlossen werden“ (BGE 134 I 2, S. 7).

4

Für die Prüfung der Einhaltung des Vielfaltsgebots sind gemäss Bundesgericht drei rechtliche Kriterien massgebend: Die journalistischen Sorgfaltspflichten gelten in erhöhtem Masse, wenn die Sendung einer sie betreffenden Abstimmung vorangeht. Zweitens müssen die verschiedenen Standpunkte ausgewogen und Minderheitsmeinungen in angemessenen Umfang dargestellt werden. Drittens ist – wie bereits oben erwähnt – weder die Form der Sendung noch die (persönliche) Einschätzung des Senders über den Zweck seiner Ausstrahlung zu berücksichtigen, sondern vielmehr die objektiv abzuschätzende Wirkung auf das Publikum.

5

Zu Recht stellte bereits die UBI die zeitliche Nähe der Reportage zur Abstimmung fest und betonte, dass schon im Titel „La haine avant la votation sur la loi Covid“ die Reportage in den Kontext der Abstimmung gestellt worden sei. Zudem sei in der Sendung mehrfach auf die bevorstehende Volksabstimmung angespielt worden.

6

Zum zweiten Kriterium zur Prüfung des Vielfaltsgebots meint das Bundesgericht, dass im vorliegenden Fall fast ausschliesslich die Angriffe, denen Politiker, die das Covid-19-Gesetz befürworten, ausgesetzt sind, thematisiert worden seien. Die Gegner des Covid-19-Gesetzes seien dagegen kaum zu Wort gekommen. Das Bundesgericht nahm diesbezüglich eine Zeitmessung vor und kam bei den Stellungnahmen der drei als Gegner des Covid-19-Gesetzes vorgestellten Personen auf insgesamt 1 Minute und 12 Sekunden, wobei ihre Interviews geschnitten worden seien, um die im Beitrag vertretene These der Gewalttätigkeit der Gegner des Covid-19-Gesetzes zu bestätigen. Der gesamte Rest der Sendung habe sich auf den Hass der Gegner des Covid-19-Gesetzes konzentriert, wobei zahlreiche Beispiele für die begangenen Aggressionen gezeigt worden seien, die von Beleidigungen, Hassbotschaften und sexistischen Angriffen bis hin zu Morddrohungen reichten. Auch seien lange Interviews mit Politikern ausgestrahlt worden, die sich für die Verabschiedung des Covid-19-Gesetzes einsetzten und über Angriffe berichteten, denen sie in diesem Zusammenhang ausgesetzt waren. Politiker, die das Covid-19-Gesetze ablehnten, seien nicht interviewt worden, und es gebe keinen Hinweis darauf, dass entsprechende Anfragen abgelehnt worden seien.

7

Zum dritten Kriterium geht das Bundesgericht davon aus, dass die Reportage den Eindruck erwecken konnte, dass es in den Reihen der Gegner des Covid-19-Gesetzes keine vernünftigen Menschen gäbe, und nicht ausreichend hervorgehoben werde, dass die Gegner dieses Gesetzes nicht auf Verschwörungstheoretiker und gewalttätige Personen reduziert werden könnten. Die Sendung vermittle ein Bild der beiden Lager, welche das Abstimmungsverhalten beeinflussen könne.

3. Fazit

8

Mit dem vorliegenden Urteil bestätigt das Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung (vgl. BGE 134 I 2) zur Umsetzung des Vielfaltsgebots in Sendungen vor Abstimmungen und Wahlen. Zu Recht betont es die grosse Bedeutung der Programmautonomie, also der Freiheit in der Programmgestaltung der Sender, die an keine Weisungen gebunden sind. Werden aber Grundprinzipien der vielfältigen Darstellung von Meinungen (Art. 93 Abs. 2 BV) in einem Ausmass verletzt, dass eine Verletzung der Sorgfaltspflichten der Programmveranstalter vorliegt, ist ein aufsichtsrechtlich begründeter staatlicher Eingriff gerechtfertigt.

image_print

Kommentar schreiben

ten + 17 =

Über uns

Medialex ist die schweizerische Fachzeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht. Sie erscheint als Newsletter im Monatsrhythmus (10x jährlich), open access, und enthält Untersuchungen und Brennpunkte zu medienrechtlichen Themen, aktuelle Urteile mit Anmerkungen, Hinweise auf neue medien- und kommunikationsrechtliche Urteile, UBI-Entscheide und Presseratsstellungnahmen sowie auf neue wissenschaftliche Publikationen und Entwicklungen in der Rechtsetzung.

Vernetzen