Tatumfeld und Hintergründe sind für die Gerichtsberichterstattung essentiell

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Das Züricher Obergericht hob gegen Medienschaffende nach Art. 70 Abs. 3 StPO verfügte Auflagen auf

Simon Canonica, Rechtsanwalt, Redaktor «medialex», Stadel b. Niederglatt

Résumé: Saisi d’un recours de la NZZ, la Cour cantonale zurichoise a donné raison au journal et décidé qu’il ne fallait pas interdire aux chroniqueuses et chroniqueurs  judiciaires de mentionner l’appartenance de l’accusé à la communauté juive (ultra-) orthodoxe de Zurich dans une affaire pénale impliquant des actes sexuels avec des enfants. Cette mention n’est pas nécessaire pour empêcher l’identification des personnes impliquées dans la procédure. Ce verdict zurichois doit être salué. Les médias doivent pouvoir mettre en lumière le contexte et d’autres éléments de fond d’un acte lorsqu’ils sont d’une importance décisive.

Zusammenfassung: Das Obergericht des Kt. Zürich hat auf Beschwerde der NZZ gegen Auflagen bei der Gerichtsberichterstattung entschieden, dass Medien in einem Strafprozess, wo es um den Vorwurf sexueller Handlungen mit Kindern ging, nicht verboten werden durfte, die Zugehörigkeit des Beschuldigten zur (ultra-)orthodoxen jüdischen Gemeinde Zürichs zu nennen. Diese Auflage sei nicht erforderlich gewesen, um die Identifizierung der Verfahrensbeteiligten zu verhindern. Der Entscheid ist zu begrüssen. Soweit Umfeld und Hintergründe eines Tatvorwurfs von mitentscheidender Bedeutung sind, müssen sie in der Gerichtsberichterstattung beleuchtet werden können.

Anmerkungen

a) Prozessgeschichte

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Am 31. August 2023 fand vor dem Bezirksgericht Zürich die Hauptverhandlung gegen einen Mann statt, welcher u.a. wegen sexueller Handlungen mit Kindern angeklagt war. Im Vorfeld der Verhandlung stellte dieser den Antrag um Ausschluss der Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung, eventualiter um Ausschluss der Publikumsöffentlichkeit unter Auferlegung von Weisungen an allfällige Gerichtsberichterstatter. Das Gesuch enthielt den Hinweis, dass es im Einverständnis mit dem Privatkläger erfolgt sei.

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Mit Beschluss vom 23. August 2023 schloss das Bezirksgericht die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung aus und liess die akkreditierten Gerichtsberichterstatter unter Auflagen zu. Es machte die Medienvertreter auf ihre Pflichten gemäss § 37 Abs. 1 der Informations- und Akteneinsichtsverordnung der obersten kantonalen Gerichte (IAV) aufmerksam und verpflichtete sie, die Anonymität der Parteien zu wahren. Insbesondere sollten «keine Vornamen und Namen, Kürzel, die auf ihre Namen schliessen lassen, oder andere individualisierende Umstände, wie religiöse Gesinnung, eingeklagte Tatbegehung am Sabbat oder Angehörigkeit der (ultra)orthodoxen jüdischen Gemeinde, die Rückschlüsse auf die Identität der Parteien ermöglichen, genannt werden.»

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Dagegen wehrte sich die NZZ und verlangte, die den Gerichtsberichterstattenden auferlegten Einschränkungen aufzuheben; eventualiter sei ihnen zumindest zu gestatten, die religiöse Gesinnung, die Tatbegehung am Sabbat und die Zugehörigkeit der Verfahrensbeteiligten zur (ultra-)orthodoxen jüdischen Gemeinde zu nennen.

b) Erwägungen des Obergerichts

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Erwägung I des Beschlusses drehte sich um Eintretensfragen, die zu keinen besonderen Bemerkungen Anlass geben, vielleicht mit Ausnahme der Frage des Rechtsschutzinteresses. Dieses bejahte das Obergericht, obwohl die Hauptverhandlung im Zeitpunkt der Beurteilung der Beschwerde schon fast ein halbes Jahr zurücklag. Unter Berufung auf BGE 127 I 164 hielt es fest, dass sich die von der NZZ aufgeworfene Frage jederzeit und unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen könnte, an ihrer Beantwortung ein hinreichendes öffentliches Interesse bestehe und eine rechtzeitige verfassungsgerichtliche Überprüfung im Einzelfall sonst kaum je möglich wäre. Dem Eintreten stand auch nicht entgegen, dass nicht ein am Prozess anwesender Gerichtberichterstatter Beschwerde führte, sondern die NZZ AG. Damit ist nun obergerichtlich festgehalten, dass in Fällen wie dem vorliegenden auch Medienhäuser aktivlegitimiert sind.

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In Erwägung II beschäftigte sich das Obergericht mit dem Grundsatz der Justizöffentlichkeit und seinen möglichen Einschränkungen. Zum Einwand der NZZ, § 37 IAV genüge als Rechtsgrundlage für Einschränkungen verfassungsmässiger Recht nach Art. 36 BV nicht, wird im Beschluss ausgeführt, dass jedenfalls Art. 70 Abs. 3 StPO die erforderliche Rechtsgrundlage für Auflagen an Medienschaffende bilde (Erw. III/3). Gemäss dieser Bestimmung kann das Gericht «Gerichtsberichterstatterinnen und Gerichtsberichterstattern und weiteren Personen, die ein berechtigtes Interesse haben, unter bestimmten Auflagen den Zutritt zu Verhandlungen gestatten, die nach Absatz 1 nicht öffentlich sind.»

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Das Herzstück der Beschwerde war die Frage, ob die durch die Vorinstanz verfügten Auflagen rechtens, insbesondere verhältnismässig waren. Eine Auflage, so der Beschluss, dürfe nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Zweckes unerlässlich sei, und der Zweck habe darin bestanden, die Identifizierung der Parteien zu verhindern. Da eine solche eine Persönlichkeitsverletzung darstellen könnte, griff das Obergericht auf die Lehre und Praxis zu Art. 28 ZGB zurück. Gefordert sei grundsätzlich, dass sich der Betroffene nicht nur selber erkenne (subjektive Erkennbarkeit), sondern auch andere Personen erkennen könnten, um wen es sich bei der Berichterstattung handle (objektive Erkennbarkeit).

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Das Gericht führte aus, dass noch nicht entschieden sei, ob Erkennbarkeit innerhalb eines mehr oder weniger grossen Bekanntenkreises genüge oder gefordert sei, dass der Durchschnittsleser bzw. Durchschnittsbetrachterin den Zusammenhang zwischen beanstandeter Darstellung und dem Betroffenen eindeutig feststellen könne. Klar sei aber, dass der Begriff «Durchschnittlesers» nicht heisse, dass auf die Leserschaft im ganzen Verbreitungsgebiet eines Mediums abzustellen sei. Es genüge, wenn der Betroffene «bei den Lesern aus dem weiteren sozialen Umfeld des Klägers bei objektiver Betrachtung» erkennbar sei. Das Gericht prüfte also, ob die Betroffenen ohne Auflagen bei den Personen aus ihrem weiteren Umfeld bei objektiver Betrachtung erkennbar sind.

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Anders als für die Vorinstanz war es für das Obergericht nicht ersichtlich, inwiefern die religiöse Gesinnung, die eingeklagte Tatbegehung am Sabbat oder die Zugehörigkeit zur (ultra-)orthodoxen jüdischen Gemeinde den Beschuldigten oder den Privatkläger hätte identifizierbar machen sollen. Der Beschuldigte hatte eingewendet, die jüdische Gemeinschaft, der er und der Privatkläger angehöre, weise lediglich wenige hundert Familien auf. Gemäss den Recherchen des Obergerichts umfasst die gesamte (ultra-)orthodoxe jüdischen Gemeinde in Zürich insgesamt rund 2000 – 2500 Mitglieder. Bei Verzicht auf die Nennung von Namen und Kürzeln und weiterer Merkmale blieben die Beschwerdegegner nicht identifizierbar, woran auch der Umstand nichts ändere, dass das Alter des Beschuldigten und des Privatklägers genannt worden sei. Natürlich könnten aufgrund der Angabe der religiösen Zugehörigkeit Gerüchte entstehen, doch dies sei im vorliegenden Zusammenhang nicht ausschlaggebend; es gehe alleine darum, ob Auflagen erforderlich seien, um die Identifizierung der Verfahrensbeteiligten zu verhindern (Erw. III/4).

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Kurz kommt das Obergericht noch auf die Zumutbarkeit der Auflage zu sprechen. Diese umschreibe die Verhältnismässigkeit von Eingriffszweck und Eingriffswirkung und erfordere eine Abwägung zwischen den Interessen der Verfahrensbeteiligten und der Justizöffentlichkeit. Diese Frage liess das Gericht aber offen. Da die den Beschwerdegegenstand bildenden Auflagen nicht erforderlich seien, brauche deren Zumutbarkeit nicht untersucht zu werden (Erw. III/5).

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Festgehalten hatte das Obergericht am Schluss, dass die Zugehörigkeit zur (ultra-)orthodoxen Gemeinde genannt werden dürfe, jedoch nicht die aus offenbar wenigen hundert Familien bestehende Gemeinschaft, welcher der Beschuldigte und der Privatkläger angehören. Die Nennung dieser Gemeinschaft hatte die NZZ allerdings gar nie beabsichtigt.

c) Kommentar

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Die Vorinstanz hatte den Medienschaffenden die Einordnung des Falles in das Milieu, in dem er sich gemäss Anklage abgespielt hatte, verunmöglicht. Die Bedeutung dieses Aspekts hatte die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung betont und festgehalten, dass es sich um einen Fall der Instrumentalisierung von struktureller Gewalt gehandelt habe. Das Umfeld sei mitentscheidend gewesen. Das Tatumfeld und die Hintergründe sind von eminentem öffentlichem Interesse und müssen im Zuge einer Gerichtsberichterstattung beleuchtet werden können, ansonsten Gerichtsberichte zu lapidaren Vollzugsmeldungen verkommen. Es ist daher zu begrüssen, dass das Obergericht die Beschwerde der NZZ gegen die Auflagen gutgeheissen hat und die Öffentlichkeit über substanzielle Inhalte und Hintergründe eines Prozesses informiert werden kann.

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Die NZZ hatte in der Berichterstattung nach der Hauptverhandlung, um den Auflagen zu entsprechen und gleichzeitig doch noch auf die Besonderheit des Falles hinweisen zu können, von einem «sehr speziellen Milieu» geschrieben. Es liegt auf der Hand, und dies wurde von der beschwerdeführenden NZZ auch eingeräumt, dass mit solchen Formulierungen Gerüchte und Spekulationen angeheizt werden können. Dies unterstreicht, dass die Beschreibung des mitentscheidenden Tatumfeldes in einer gehaltvollen Gerichtsberichterstattung möglich sein muss.

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Eine kleine Spitze gegen die Vorinstanz könnten die letztlich unterbliebenen Ausführungen zur Zumutbarkeit der Auflagen sein (Erw. III/5). Der Hinweis zeigt immerhin, dass das Bezirksgericht, nachdem es das Verbot der Nennung der religiösen Zugehörigkeit als erforderliche Auflage eingestuft hatte, auch die Zumutbarkeit der Auflage hätte prüfen sollen. Im angefochtenen Beschluss fänden sich zwar Ausführungen zu den Interessen insbesondere des Beschuldigten am Ausschluss der Publikumsöffentlichkeit, Ausführungen zu den Interessen der Medien und der Publikumsöffentlichkeit an einer ungehinderten Gerichtsberichterstattung und eine entsprechende Interessenabwägung würden aber fehlen. Vielleicht wäre die Vorinstanz dann im Zuge der dafür nötigen Abwägung zwischen den Interessen der Verfahrensbeteiligten und der Justizöffentlichkeit zu einem anderen Ergebnis gekommen.

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Der die Justizöffentlichkeit einschränkende Entscheid des Bezirksgerichts störte vorliegend doppelt, weil der Ausschluss der Öffentlichkeit bzw. die Forderung von Auflagen an die Medienschaffenden nicht etwa vom Opfer eingebracht worden ist, sondern vom Beschuldigten. Nach Art. 70 Abs. 1 lit. a StPO soll die verfassungsmässig garantierte Justizöffentlichkeit eingeschränkt werden können, sofern «die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder schutzwürdige Interessen einer beteiligten Person, insbesondere des Opfers, dies erfordern». Im Fokus stehen also der Opfer- und nicht der Beschuldigtenschutz. Die Frage, ob und wie weit Beschuldigte überhaupt legitimiert sind, den Ausschluss der Öffentlichkeit oder Auflagen an die Medienvertreter zu verlangen, hat das Obergericht nicht erörtert. Der Thematik der Stellung von Beschuldigten rund um mögliche Einschränkungen der Justizöffentlichkeit wird sich Medialex in einem im Mai erscheinenden Beitrag annehmen.

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