Coronavirus und Medienfreiheit

C

Wie weit dürfen die verfassungsmässigen Rechte der Medienschaffenden in Notlagen eingeschränkt werden?

Prof. em. Dr. Peter Hänni, Universität Freiburg

Résumé: Le coronavirus monopolise l’attention. La critique passe au second plan. Les autorités peuvent à juste titre faire remarquer qu’il s’agit désormais d’agir de manière concrète, et non pas de tenir la comptabilité des plus petits défauts. Le travail des journalistes est toutefois de plus en plus entravé et la tentation d’instrumentaliser les médias devient manifeste. Cet article présente les pouvoirs et les limites d’action des autorités, d’un point de vue juridique, dans des situations d’urgence. Il se demande donc dans quelles conditions les droits constitutionnels des journalistes, tel que celui d’accéder à des manifestations publiques dans des situations d’urgence, peuvent être restreints.

Zusammenfassung: Derzeit beherrscht das Coronavirus die Schlagzeilen. Weniger gefragt ist Kritik. Mit einigem Recht können die Behörden darauf hinweisen, dass jetzt konkretes Tun gefragt ist und nicht kleinliche Mängelbuchhaltung. Die Grenze zur Behinderung der Arbeit von Medienschaffenden ist allerdings nahe und die Versuchung der Instrumentalisierung der Medien nicht zu übersehen. Nachstehend sollen die Befugnisse und die Grenzen der Behörden in Notlagen aus rechtlicher Sicht dargestellt werden, was gleichbedeutend mit der Frage ist, wie weit die verfassungsmässigen Rechte der Medienschaffenden wie z.B. das Recht auf Zutritt zu öffentlichen Verhandlungen in Notlagen eingeschränkt werden dürfen.

INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung

II. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen
1. Die individualrechtlichen Garantien
2. Die Medienfreiheit im Besonderen
3. Einschränkungen der Medienfreiheit
a) Ausgangspunkt: Art. 36 BV
b) Die Voraussetzungen im Einzelnen
c) Art. 36 BV und seine Anwendung auf die Medienfreiheit
4. Zwischenergebnis

III. Das Notverordnungsrecht des Bundesrates
1. Die Ausserordentliche Lage gemäss Art 7 des Epidemiengesetzes
2. Das Notverordnungsrecht des Bundesrates gemäss der Bundesverfassung

IV. Bedeutung der Notverordnungen des Bundesrates für die Medienfreiheit
1. Auswirkungen im Allgemeinen
2. Auswirkungen auf die Medienfreiheit
a) Öffentliche Verhandlungen
b) Zulässigkeit von Kritik

I. Einleitung

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Das Corona Virus beherrscht in diesen Tagen und Wochen die Schlagzeilen in sämtlichen Medien. Die virengetriebene Berichterstattung dominiert dabei nicht etwa nur die Themenbereiche Gesundheit, Politik und Wirtschaft, sondern sie erfasst ebenso den Kultur- und Sportbereich, die Ausland- wie die Inlandberichterstattung und arbeitet sich bis in die kleinsten Ritzen des Alltagslebens hinein. Hintergrundbeiträge beleuchten schwierige ethisch-moralische Aspekte, wie z.B. die Frage, wie zu entscheiden sei, wenn die verfügbaren materiellen oder personellen Ressourcen nicht mehr ausreichen, um allen Patientinnen und Patienten die erforderliche Intensivpflege angedeihen zu lassen. Oder sie setzen sich mit dem Problem auseinander, wie adäquate Bildung hier und heute auszusehen hat, welches die Folgen für die psychische Gesundheit der Menschen sind, wenn sie länger andauernden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ausgesetzt werden – der Themenvielfalt sind ebenso wenig Grenzen gesetzt wie dem Virus selber.

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Wenn berichtet, analysiert, bewertet, nachgefragt und kritisiert wird, geht es meist um das Verhalten der Behörden in Bund, Kantonen und Gemeinden, weil diesen das Recht und die Pflicht zukommt, durch geeignete Massnahmen die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen sowie für eine allen zustehende medizinische Grundversorgung zu sorgen.[1] Sie stehen derzeit im Mittelpunkt des medialen Interesses: Dürfen sie ein Ausgehverbot verordnen oder hätten sie es nicht schon längst tun müssen? Haben die Gesundheitsbehörden alles unternommen, um im Falle einer Pandemie gegen die damit verbundenen Gefahren gewappnet zu sein, haben sie Vorräte an Schutzmasken, Schutzkleidern und Beatmungsgeräten angelegt? Verfügen die Spitäler über genügend Intensivpflegebetten, über genügend ausgebildetes Personal? Und wenn die Pandemie einmal ausgebrochen ist, stellen sich in anderen Bereichen neue Fragen: Wie und in welchem Umfang soll die Wirtschaft unterstützt werden? Nach welchen Kriterien soll entschieden werden? Dürfen oder sollen Gerichte und Verwaltungsbehörden laufende Fristen aussetzen, Gerichtsverhandlungen verschieben, Betreibungsverfahren sistieren? Wer ist für welche Massnahmen zuständig, wer stellt die Koordination sicher?

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Es liegt in der Natur der Sache, dass die Medienschaffenden solche Fragen stellen, während umgekehrt die Behörden in Zeiten von Epidemien oder anderen ähnlichen Ereignissen wie etwa Naturkatastrophen in erster Linie kommunizieren möchten, was sie unternommen haben, um die Menschen zu schützen und ihnen zu helfen. Weniger gefragt ist deshalb Kritik, mit einigem Recht können die Behörden darauf hinweisen, dass im Sinne des Verhältnismässigkeitsprinzips jetzt konkretes Tun gefragt ist und nicht kleinliche Mängelbuchhaltung. Die Grenze zur Behinderung der Arbeit von Medienschaffenden ist allerdings nahe und die Versuchung der Instrumentalisierung der Medien nicht zu übersehen. Nachstehend sollen die Befugnisse und die Grenzen der Behörden in Notlagen aus rechtlicher Sicht dargestellt werden, was gleichbedeutend mit der Frage ist, wie weit die verfassungsmässigen Rechte der Medienschaffenden in Notlagen eingeschränkt werden dürfen.

II. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen

1. Die individualrechtlichen Garantien

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In der Bundesverfassung (BV) sind die verfassungsmässigen Rechte der Menschen in unserem Lande verankert. Sie bezwecken in erster Linie den Schutz vor ungerechtfertigten Einschränkungen durch den Staat, umfassen jedoch auch Schutzpflichten des Staates sowie gegebenenfalls auch den Schutz vor Eingriffen, die von Privaten ausgehen (sog. Drittwirkung). Sie sind namentlich in den Artikeln 7-41 BV unter dem Titel «Grundrechte, Bürgerrechte und Sozialziele» aufgelistet.

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Ein wesentlicher Teil der Grundrechte umfasst die sogenannten Kommunikationsgrundrechte, ein Bündel von Individualrechten, die den Erwerb, den Empfang und die Verbreitung von Meinungen umfassen und deren Rolle in einer freiheitlich demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung zu Recht als von existenzieller Bedeutung qualifiziert wird. Den Kern dieser Kommunikationsgrundrechte bilden die Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV), die Medienfreiheit (Art. 17 BV), die Sprachenfreiheit (Art. 18 BV), die Wissenschaftsfreiheit (Art. 20 BV), die Kunstfreiheit (Art. 21 BV), die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV), die Vereinigungsfreiheit (Art. 23 BV) sowie die politischen Rechte (Art. 34 BV).[2]

2. Die Medienfreiheit im Besonderen

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Wie erwähnt, gehört die Medienfreiheit zum Kern der Kommunikationsgrundrechte. Gemäss Art. 17 BV ist «die Freiheit von Presse, Radio und Fernsehen sowie anderer Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen (…) gewährleistet» (Abs. 1), «Zensur ist verboten» (Abs. 2) und «das Redaktionsgeheimnis ist gewährleistet» (Abs. 3).

7

Es ist hier nicht der Ort, um auf alle Verästelungen und Einzelheiten der Rechte von Medienschaffenden und Medienunternehmen einzugehen. Immerhin sei angemerkt, dass das Zensurverbot zum absolut geschützten Kerngehalt der Medienfreiheit gehört. Sodann liegt ein bestimmendes Merkmal der Medienfreiheit im Umstand, dass sich die Medien an die Öffentlichkeit wenden, wobei einzuräumen ist, dass sich die Grenzen zur rein privaten Kommunikation vor dem Hintergrund von Social-Media-Plattformen zunehmend verwischen. Eine weitere Abgrenzung ergibt sich aus dem Inhalt der publizierten Meinungen, können doch nur ideelle Äusserungen den Schutz der Medienfreiheit beanspruchen, während sich rein kommerzielle Publikationen mit dem Schutz durch die Wirtschaftsfreiheit begnügen müssen. Neben den journalistisch-redaktionellen Tätigkeiten schützt die Medienfreiheit auch die mit der Publikation eines Medieninhalts untrennbar verknüpften organisatorischen Rahmenbedingungen. Grundrechtlich sind daher auch etwa die Herstellung des Medienprodukts und dessen Verbreitung in der Öffentlichkeit oder die journalistische Recherche als Vorbereitungsschritt im Prozess der Publikation geschützt.[3]

3. Einschränkungen der Medienfreiheit

a) Ausgangspunkt: Art. 36 BV

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Wie alle übrigen Grundrechte kann auch die Medienfreiheit unter den Voraussetzungen von Art. 36 BV eingeschränkt werden. Dabei gilt es bei der Auslegung von Normen, die im Ergebnis zu einer Verminderung des Schutzes der Medienfreiheit führen könnten, die besonderen Funktionen (Wächterfunktion, Vermittlungsfunktion, Forumsfunktion) der Medien in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat im Auge zu behalten.

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Gemäss Art. 36 BV sind Einschränkungen von Grundrechten dann zulässig, wenn

  • dafür eine gesetzliche Grundlage besteht. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr (Abs.1).
  • sie durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt werden können (Abs. 2).
  • sie verhältnismässig sind (Abs. 3).
  • der Kerngehalt der Grundrechte nicht angetastet wird (Abs. 4).
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Art. 36 BV erweist sich damit als Konkretisierung der in Art. 5 Abs. 1 und 2 BV formulierten Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns.

b) Die Voraussetzungen im Einzelnen

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Was zunächst die gesetzliche Grundlage betrifft, ist darunter im Sinne einer Minimalanforderung eine generell-abstrakte Regelung zu verstehen (Vorbehalt des Rechtssatzes als Gegensatz zu individuellen Einschränkungen), d.h. sie ist auf unbestimmt viele Personen und Sachverhalte anwendbar. Vorausgesetzt wird weiter, dass die Regelung von der zuständigen Behörde ausgeht, was bedeutet, dass Kompetenzdelegationen von der Legislative auf die Exekutive möglich und zulässig sind, sofern die Delegation rechtmässig erfolgte und das Erfordernis des Rechtssatzes erfüllt ist. Im Ergebnis heisst dies, dass eine Regierungsverordnung als Grundlage für eine Grundrechtsbeschränkung ausreicht. Schliesslich sollte die Norm genügend bestimmt sein, so dass die Normadressaten ihr Verhalten danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen können. Allerdings ist das Bestimmtheitsgebot selber vage gehalten und bedarf der Auslegung.[4]

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Handelt es sich um schwerwiegende Einschränkungen, ist eine klare und eindeutige Grundlage im Gesetz selbst erforderlich (sog. Gesetz im formellen Sinne). Auf Bundesebene ist damit ein referendumspflichtiger Erlass gemeint, auf kantonaler Ebene wird verlangt, dass ein vom Parlament verabschiedeter Erlass vorliegt (meist untersteht dieser ebenfalls dem Referendum), während auf Gemeindeebene kommunales Recht dann einem Gesetz im formellen Sinne entspricht, wenn es von den Stimmberechtigten oder vom gewählten Gemeindeparlament beschlossen wurde.

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Diese zweistufige Regelung, die an die Schwere des Grundrechtseingriffs anknüpft, ist dann nicht zweckmässig, wenn «Fälle von ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr» vorliegen. Diese sog. Polizeiliche Generalklausel ermächtigt die zuständige Behörde, auch ohne gesetzliche Grundlage i.S. von Abs1, Satz 1 und 2, zu handeln und dabei die Grundrechte zu beschränken. Selbst schwerwiegende Eingriffe lassen sich auf die polizeiliche Generalklausel stützen. Dabei wird das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage nicht ausser Kraft gesetzt, sondern den zuständigen Behörden steht der Rückgriff auf eine für besondere Fälle vorgesehene verfassungsrechtliche Grundlage – Art. 36 Abs. 1 Satz 3 – offen.[5]

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Grundrechtseingriffe lassen sich sodann gemäss Art. 36 Abs. 2 nur rechtfertigen, wenn an ihnen ein öffentliches Interesse besteht oder sie den Schutz von Grundrechten Dritter bezwecken. Der Begriff des öffentlichen Interesses wird in einer direkt-demokratischen Demokratie schweizerischen Zuschnitts im Wesentlichen vom Gesetzgeber konkretisiert, dem dabei erhebliche Bewertungs- und Beurteilungsspielräume offenstehen, in die das BGer deshalb nur dann eingreift, wenn das geltend gemachte öffentliche Interesse völlig unverständlich erscheint. Weitgehend anerkannt als öffentliche Interessen sind die sogenannten Polizeigüter. Dazu zählen die öffentliche Sicherheit, Leib und Leben, Gesundheit, Sittlichkeit, Ruhe und Ordnung sowie Treu und Glauben im Geschäftsverkehr. Je nach Grundrecht kommen auch soziale, kulturelle, raumplanerische, ökologische oder wissenschaftliche Interessen als rechtfertigende öffentliche Interessen in Frage.

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Neben öffentlichen Interessen können Einschränkungen von Grundrechten auch dadurch gerechtfertigt werden, dass mit dem Eingriff die Grundrechte Dritter geschützt werden. Auch hier erfolgt die Grenzziehung zwischen gleichen oder entgegengesetzten grundrechtlichen Ansprüchen verschiedener Personen im Wesentlichen durch den Gesetzgeber. Als Beispiel für derartige Grundrechtskonflikte seien hier etwa Disziplinarmassnahmen zur Aufrechterhaltung eines geordneten Schulbetriebes, oder auch die schwere Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit Dritter genannt.

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Sollen Einschränkungen von Grundrechten den Voraussetzungen von Art. 36 BV genügen, ist weiter nach Abs. 3 dieser Bestimmung erforderlich, dass sich die Massnahme als verhältnismässig erweist. Das Gebot der Verhältnismässigkeit verlangt, «…dass eine behördliche Massnahme für das Erreichen des im öffentlichen (oder privaten) Interesse liegenden Zieles geeignet und erforderlich ist und sich für die Betroffenen in Anbetracht der Schwere der Grundrechtseinschränkung zumutbar und verhältnismässig erweist. Erforderlich ist eine vernünftige Zweck-Mittel-Relation. Eine Massnahme ist unverhältnismässig, wenn das Ziel mit einem weniger schweren Grundrechtseingriff erreicht werden kann».[6] Aus der Rechtsprechung ergibt sich im Sinne weiterer Präzisierungen, dass die Geeignetheit von Massnahmen häufig nur bedeutet, dass sie nicht ungeeignet sein dürfen, was eine Abschwächung des Kriteriums mit sich bringt. Sodann wird beim Kriterium der Erforderlichkeit geprüft, ob der Eingriff in sachlicher, räumlicher, zeitlicher und personeller Hinsicht nicht einschneidender ist als notwendig. Was schliesslich die Verhältnismässigkeit im engeren Sinn (Zumutbarkeit) betrifft, sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die berührten Interessen gegeneinander abzuwägen.[7]

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Als vierte und letzte Voraussetzung für verfassungskonforme Einschränkungen von Grundrechten bestimmt Art. 36 Abs. 4 BV, dass der Kerngehalt der Grundrechte unantastbar ist. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handle sich um eine Art Firewall gegen die schlimmsten möglichen Einschränkungen von Grundrechten bis hin zu ihrer vollständigen Bedeutungslosigkeit. Nach dem Wortlaut trifft dies zu, doch scheitern in der Praxis derartige Eingriffe schon an den ersten drei oben diskutierten Voraussetzungen, namentlich an der fehlenden Verhältnismässigkeit. Interessant ist an dieser Stelle noch der Hinweis, dass abweichend vom Normalfall, in dem der Schutzbereich eines Grundrechts naturgemäss weitergeht als der Kerngehalt, es Grundrechte gibt, bei denen Schutzbereich und Kernbereich zusammenfallen, so z.B. beim Verbot der Todesstrafe oder beim Folterverbot (ein klein wenig töten oder foltern geht nicht).

c) Art. 36 BV und seine Anwendung auf die Medienfreiheit

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Die oben skizzierten Eingriffsvoraussetzungen bei Einschränkungen von Grundrechten gelten selbstverständlich auch für Eingriffe in die Medienfreiheit. Bei offenen Normen und unbestimmten Rechtsbegriffen, bei Abwägungen entgegenstehender Interessen ist allerdings zu prüfen, ob dabei der besonderen Bedeutung der Medienfreiheit Rechnung getragen werden kann.

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Ohne an dieser Stelle auf Einzelheiten einzugehen, lässt sich feststellen, dass die Eingriffsvoraussetzungen gemäss Art. 36 BV bei der Beschränkung der Medienfreiheit von den schweizerischen Behörden in der Regel respektiert werden und kein Anlass zur Behauptung besteht, die Medienfreiheit werde in der Schweiz nur unzureichend geschützt. Auseinandersetzungen zwischen Medienschaffenden bzw. Medienunternehmen und den staatlichen Behörden drehen sich in ihrer grossen Mehrheit um Auslegungs- und Abgrenzungsfragen: Dazu gehört etwa die verfassungskonforme Auslegung strafrechtlicher Normen, insbesondere des Straftatbestandes der Amtsgeheimnisverletzung, das Spannungsfeld zwischen Medienfreiheit und unlauterem Wettbewerb oder auch die Einschüchterungswirkung (chilling effect), die von an sich zulässigen Einzelmassnahmen ausgehen kann.

4. Zwischenergebnis

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Als Zwischenergebnis lässt sich zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen Folgendes festhalten: In der schweizerischen Bundesverfassung sind die Grundrechte der Menschen (gegebenenfalls nur der Schweizerinnen und Schweizer) verfassungsrechtlich verankert. Wegen ihres hohen Abstraktionsgrades werden die Grundrechte durch die Gesetzgebung, aber auch durch die Rechtsprechung weiter konkretisiert und ausdifferenziert. Zu den fundamentalen Freiheitsrechten zählen namentlich die Kommunikationsgrundrechte (und damit auch die Medienfreiheit), die ein Bündel verschiedener Grundrechte umfassen und dabei spezifische Aspekte der Wahrnehmung von Kommunikation absichern. Die Medienfreiheit ist einer der Eckpfeiler für das Funktionieren einer freiheitlich-(direkt)demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung und deshalb von essenzieller Bedeutung.

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Wie alle Grundrechte – abgesehen vom Verbot der Todesstrafe und dem Folterverbot – kann auch die Medienfreiheit eingeschränkt werden, sofern die Voraussetzungen von Art. 36 BV respektiert werden. Nach dieser Bestimmung wird vorausgesetzt, dass Einschränkungen von Grundrechten sich auf eine gesetzliche Grundlage (gegebenenfalls auf ein Gesetz im formellen Sinne) stützten, dass die Einschränkungen im öffentlichen Interesse liegen, verhältnismässig sind und der Kerngehalt des Grundrechts unangetastet bleibt.

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Zum Kerngehalt gehört unbestrittenermassen das Zensurverbot, sei es in der Form der Vor- oder der Nachzensur, wobei beide Begriffe auslegungsbedürftig sind. Andere Beschränkungen können in ihrer Gesamtheit im Ergebnis ebenfalls eine Verletzung des Zensurverbotes darstellen; abgesehen von der Vor- oder Nachzensur gilt, dass Eingriffe (vor allem in ihrem Zusammenwirken) in einer Verletzung des Kerngehaltes resultieren können. Allerdings dürften solche Massnahmen regelmässig schon den Verhältnismässigkeitstest nicht bestehen.

III. Das Notverordnungsrecht des Bundesrates

1. Die Ausserordentliche Lage gemäss Art 7 des Epidemiengesetzes

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Wenn es eine ausserordentliche Lage erfordert, kann der Bundesrat gemäss Art. 7 des Epidemiengesetzes (EpG) «für das ganze Land oder für einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen». Es handelt sich dabei um eine Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen vom Gesetzgeber an die Exekutive, die sich als spezialgesetzlich geregelte Form der polizeilichen Generalklausel qualifizieren lässt. Gäbe es diese Grundlage nicht, könnte sich der Bundesrat auf Art. 36 Abs. 1 Satz 3 BV bzw. auf Art. 184 Abs. 3 und 185 Abs. 3 BV stützen.[8]

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Art. 7 EpG enthält keine weiteren Präzisierungen zu den dem Bundesrat übertragenen Kompetenzen. Dies bedeutet indessen nicht, dass der Bundesrat beim Erlass von Notverordnungen oder anderen Massnahmen völlig frei ist. Im EpG finden sich keinerlei Hinweise darauf, dass die bestehenden verfassungsrechtlichen Regeln nicht gelten sollten (was im Übrigen selbst bei einer expliziten Grundlage im EpG höchst fragwürdig wäre).

2. Das Notverordnungsrecht des Bundesrates gemäss der Bundesverfassung

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Anwendbar bleiben deshalb die für das Notverordnungsrecht des Bundesrates in der BV vorgesehenen Bestimmungen von Art. 185 Abs. 3 BV (bzw. 184 Abs. 3 BV). Art. 185 Abs. 3 BV bildet die Grundlage für verfassungsunmittelbare Verordnungen und Verfügungen des Bundesrates im Bereich der äusseren (Abs. 1) und der inneren Sicherheit (Abs. 2). Solche Massnahmen sind jedoch an gewisse Voraussetzungen und Schranken gebunden. Ausdrücklich von der Verfassung gefordert wird:

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– sachliche Dringlichkeit (schwere Störung der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit). Bei leichteren Störungen, darf der Bundesrat nicht auf das Notverordnungsrecht zurückgreifen.

27

– zeitliche Dringlichkeit (eingetretene oder unmittelbar drohende Störung). Dies bedeutet, dass ein Rückgriff auf das Notverordnungsrecht nur zulässig ist, wenn der ordentliche Weg der Rechtsetzung durch das Parlament und – im Rahmen der direktdemokratischen Rechte des Volkes, d.h. des Referendumsrechts – das Volk nicht innert nützlicher Frist zu den erforderlichen gesetzlichen Regelungen führen würde.

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– Befristung der Geltungsdauer von Verordnungen. Gemäss Art. 7d RVOG treten solche Verordnungen sechs Monate nach ihrem Inkrafttreten ausser Kraft, wenn der Bundesrat bis dahin der Bundesversammlung keinen Entwurf einer gesetzlichen Grundlage (eventuell einer Verordnung der Bundesversammlung) für den Inhalt der Verordnung unterbreitet.

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Implizit mitumfasst ist die Voraussetzung, dass das geltende Recht keine geeigneten Möglichkeiten bereitstellt, um der eingetretenen oder drohenden schweren Störung Herr zu werden. Im Interesse der Klarheit sei auch darauf hingewiesen, dass die Massnahmen des Bundesrates dem Prinzip der Verhältnismässigkeit genügen müssen, was sich zwanglos auch aus Art. 185 Abs. 3 BV ableiten lässt. Darüber hinaus gelten Verfassung und Gesetz weiterhin. Alle Regelungen, die durch die bundesrätlichen Notverordnungen nicht ausser Kraft gesetzt worden sind, behalten ihre Gültigkeit. Im vorliegenden Zusammenhang dürften die Öffentlichkeitsgesetze von Bund und Kantonen von Interesse sein: Diese bleiben weiterhin anwendbar und den Behörden ist es verwehrt, unter Hinweis auf das Notverordnungsrecht die Herausgabe von Akten zu verweigern.

IV. Bedeutung der Notverordnungen des Bundesrates für die Medienfreiheit

1. Auswirkungen im Allgemeinen

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Der Bundesrat hat einige Notverordnungen gestützt auf Art. 7 EpG (i.V.m. Art 185 Abs. 3 BV) erlassen. Im Mittelpunkt steht dabei vor allem die «Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Conoravirus (COVID-19)[9]. Diese enthält einschneidende und schwere Eingriffe in verfassungsmässige Grundrechte, so z.B. in die Bewegungsfreiheit, in die Versammlungsfreiheit oder in die Wirtschaftsfreiheit, sie beeinträchtigt die politischen Rechte, indem sie die demokratische Auseinandersetzung ganz oder teilweise verunmöglicht. Sie berührt aber auch in grundsätzlicher Weise Positionen im Rechtstaatsgefüge. So setzt sie die horizontale die Gewaltenteilung teilweise ausser Kraft und beschneidet die Autonomie der Kantone (und der Gemeinden), d.h. sie tangiert auch zentrale Bereich des schweizerischen Föderalismus.

2. Auswirkungen auf die Medienfreiheit

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Was ihre Auswirkungen auf die Medienfreiheit im Besonderen betrifft, lässt sich feststellen, dass die COVID-19-Verordnung keine spezifischen Einschränkungen für Medienschaffende und Medienunternehmen enthält, die über das hinausgingen, was soeben erläutert wurde. Der Umstand, dass Medienschaffende vorwiegend im Home-office-Modus arbeiten, geht nicht weiter als das, was der Bevölkerung im Allgemeinen zugemutet wird.

a) Öffentliche Verhandlungen

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Wird bei den mittlerweile seltenen stattfindenden Verhandlungen in Parlamenten oder vor Gerichten die Öffentlichkeit ausgeschlossen, lässt sich das ohne weiteres mit gesundheitspolizeilichen Gründen rechtfertigen. Selbst der teilweise oder sogar der vollständige Ausschluss von Medienschaffenden sind aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Es wäre in der Tat paradox, wenn mit dem (ebenfalls) verfassungsrechtlich abgesicherten Prinzip der Öffentlichkeit, z.B. für die Sitzungen der eidgenössischen Räte (Art. 158 BV) oder für Gerichtsverhandlungen (Art. 30 Abs. 3 BV), die in der Notverordnung enthaltenen Beschränkungen als nichtig erklärt würden, und damit das Risiko erhöht würde, dass sich weitere Personen mit dem Corona-Virus anstecken. Hier treffen zwei gleichrangige Verfassungsnormen aufeinander, doch die Interessenabwägung müsste zu einem Vorrang des Gesundheitsschutzes führen.

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Eine andere Frage ist, ob sich aufgrund des Verhältnismässigkeitsprinzips nicht auch mildere Massnahmen zur Erreichung des angestrebten Ziels der Vermeidung von Ansteckungen genügen würden. Zu denken wäre etwa bei Gerichtsverhandlungen deren Verschiebung auf ein späteres Datum, jedenfalls dann, wenn dadurch nicht eine Verjährung in Kauf genommen werden müsste. Selbst in diesen Fällen müsste geprüft werden, ob nicht eine Übertragung der Gerichtsverhandlung in einen abgetrennten Raum, in dem die Abstandsvorschriften eingehalten werden könnten, möglich wäre. Bei den Beratungen der eidgenössischen Räte anlässlich der geplanten Sondersession im kommenden Mai ist anzunehmen, dass die Debatten direkt von Radio und Fernsehen übertragen und auch im Livestream an den elektronischen Geräten, die über einen Bildschirm verfügen, mitverfolgt werden können. Das Verhältnismässigkeitsprinzip ist vor allem unter dem Aspekt der Erforderlichkeit (in sachlicher, zeitlicher, räumlicher und persönlicher Hinsicht) von Bedeutung, wenn es darum geht, die Tätigkeit von Medienschaffenden zu schützen, wenn diese aus Bequemlichkeit oder mit pauschalen Verweisen auf den angestrebten Gesundheitsschutz von den Behörden behindert werden.

b) Zulässigkeit von Kritik

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Auf einer anderen Ebene zu situieren ist schliesslich die Problematik, ob es Medienschaffenden weiterhin erlaubt ist, staatliche Massnahmen, namentlich solche des Bundesrates, grundsätzlich zu kritisieren, solange dabei die (auch sonst) geltenden gesetzlichen Einschränken, die sich ihrerseits mit den Voraussetzungen von Art. 36 BV vereinbaren lassen, eingehalten werden. Das ist vorbehaltlos zu bejahen. Die Medienschaffenden mutieren wegen der COVID-19-Verordnung 2 nicht zu Vollzugsgehilfen von Bund und Kantonen. Sie können deshalb bei ihren Recherchen das gesamte Spektrum ihrer Möglichkeiten ausschöpfen und auch unbequeme Wahrheiten veröffentlichen. Sie kommen damit nur ihrer eigentlichen Funktion im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nach.


Fussnoten:

  1. Das müssen sie ja auch in normalen Zeiten tun, doch merkt man davon im Alltag kaum etwas, weil alles seinen gewohnten Lauf nimmt, höchstens die ständig steigenden Gesundheitskosten geben Anlass zu politischen Auseinandersetzungen über die Frage, wie sich diese Kosten eindämmen liessen.

  2. In einem weiteren Sinne zählen dazu auch der Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV), die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) sowie die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV). Eingebettet sind diese Individualrechte in das sog. Rechtsstaatsprinzip nach Art. 5 BV Abs. 1 und 2 BV). Danach ist Grundlage und Schranke staatlichen Handelns das Recht, wobei dieses Handeln im öffentlichen Interesse erfolgen muss und ausserdem verhältnismässig zu sein hat.

  3. Vgl. zum Ganzen Franz Zeller/Regina Kiener, in: Basler Kommentar Bundesverfassung, Art. 17, N 9 ff.

  4. Vgl. Giovanni Biaggini, Kommentar zur Bundesverfassung, Art. 36 N 10 f.

  5. Vgl. zum Ganzen Biaggini (Fn. 3), Art. 36 N 16 f.

  6. BGE 132 I 49, 62.

  7. Vgl. dazu statt vieler BGE 132 I 49, 63 ff.

  8. Anfänglich (in seiner Verordnung vom 13. März 2020) stützte sich der Bundesrat beim Erlass der COVID-19-Verordnung 2 noch auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 der Bundesverfassung und auf die Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe b, 41 Absatz 1 und 77 Absatz 3 des Epidemiengesetzes.

  9. Nachstehend COVID-19-Verordnung 2.

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