Der neue Werkschutz für Fotografien ohne individuellen Charakter bietet trotz besserer Rechtssicherheit noch Tücken
Christoph Schütz, Fotograf und Medienwissenschafter, Koordinator der Arbeitsgruppe Lichtbildschutz (www.fotografie-urheberrecht.ch)
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung N 1
2. Weshalb überhaupt eine Gesetzesänderung? N 3
3. Im Zickzack zu Art. 2 Abs. 3bis URG N 9
4. Anwendung von Art. 2 Abs. 3bis URG N 23
A. Werkintegrität N 24
B. Werke zweiter Hand N 28
C. Fotofallen und Überwachungskameras N 30
D. Fotokopien und andere Reproduktionen N 32
E. Schutzdauer N 36
5. Weitere für Fotografie relevante Aspekte des revidierten URG N 38
Art. 22b: Nutzung von verwaisten Werken N 39
Art. 24: Archivierungs- und Sicherungsexemplare N 40
Art. 24d: Verwendung zu wissenschaftlichen Zwecken N 41
Art. 24e: Bestandesverzeichnisse N 42
Art. 80: Übergangsbestimmung N 46
1. Einleitung
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Sieben Jahre lang haben die Fotografen- und Journalistenverbände für die Einführung des Lichtbildschutzes gekämpft. Sie beantragten ein in den verwandten Schutzrechten verankertes Leistungsschutzrecht nach deutschem Vorbild. Erhalten haben sie letztendlich einen Werkschutz in Abs. 3bis von Art. 2 URG, der ihr Anliegen im Wesentlichen auch erfüllt: Die unsägliche Prüfung, ob eine Fotografie sogenannt individuell gestaltet ist oder nicht, entfällt künftig, alle Fotografien sind geschützt. Damit besteht insofern Rechtssicherheit, als grundsätzlich die Fotografinnen und Fotografen, aber auch Herr und Frau Jedermann entscheiden dürfen, wer wozu ihre Bilder nutzt. Dass sich diverse spezialisierte Juristinnen und Juristen sowie Rechtsprofessoren über diese für Fotografien auf Null abgesenkte Schutzschwelle geärgert haben und es wohl noch lange tun werden, ist nachvollziehbar.
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Der vorliegende Beitrag rekapituliert die Einführung des erweiterten Schutzes für Fotografien in der Schweiz und stellt die anderen für den Umgang mit Fotografien relevanten Artikel des neuen Gesetzes kurz vor.
2. Weshalb überhaupt eine Gesetzesänderung?
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Bis etwa Mitte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts arbeiteten die professionellen Fotografinnen und Fotografen vorwiegend mit Negativfilmen und Diapositiven. Diese originären Bildträger lagerten sie in ihrem Archiv, auf Anfrage erstellten und verkauften sie davon sogenannte Papierabzüge. Sie kontrollierten damit den Zugriff auf die von ihnen erstellten Fotografien und es kam relativ selten zu „Bilderklau“. Dann kam nicht nur die Digitalisierung der Fotografie, sondern das Internet etablierte sich auch zunehmend als wichtigster Kommunikationskanal. Wer Bilder zeigen und verkaufen wollte, nutzte das Internet als ideales Schaufenster mit weltweitem Zugang. Und weil dieses Schaufenster sich plötzlich nicht mehr irgendwo in der Stadt oder bei einem Fotografen befand, sondern zu Hause als Bildschirm auf dem eigenen Schreibtisch, und weil man sich alle diese tollen Bilder nicht nur ansehen, sondern diese mit zwei simplen Mausclicks auch gleich auf die eigene Festplatte herunterladen konnte, vergassen oder ignorierten viele von uns, dass ein Schaufenster eben eigentlich ein Schaufenster wäre und nicht ein Selbstbedienungsladen.
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Da jedoch Art. 19 unseres Urheberrechtsgesetzes (URG) den Download von Fotografien, inklusive deren Ausdruck, und jede andere Verwendung gestattet, solange sich diese im privaten Umfeld abspielt, wurde das Bewusstsein für das, was eigentlich nicht mehr gestattet wäre, auch nicht gerade geschärft. Unter dem Strich etablierte sich mit der Zeit und fernab der gesetzlichen Realität bei vielen Internetnutzern ein Verständnis, das in etwas lautete: „Was im Internet angeboten wird, ist Allgemeingut“. Die Piratenpartei, die dieses Anliegen munter auf der politischen Bühne vertrat, bewies damit immerhin, dass ihr Name auch Programm ist.
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Diese Gratis-und-Franko-Mentalität gegenüber im Internet virtuell verfügbaren Leistungen verführte leider zunehmend auch professionelle Bildnutzer dazu, die Abklärung von Bildrechten zu vernachlässigen. Fotografinnen und Fotografen, die daran keine Freude hatten und reklamierten, erhielten in vielen Fällen nachträglich das ihnen zustehende Honorar ausbezahlt, andere wurden mit einem Schreiben eines Anwalts bedient, wonach es sich bei der verwendeten Fotografie gemäss schweizerischem Recht um kein geschütztes Werk handeln würde und die ungefragte Verwendung daher rechtens sei.
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Vier Elemente prägten also die Situation anfangs des 21. Jahrhunderts: Erstens spielte sich aufgrund der Digitalisierung der Bildermarkt im Internet ab; zweitens war das Kopieren und Weiternutzen von Bildern technisch nicht komplizierter als das Öffnen eines Wasserhahns, drittens etablierte sich dank der Schrankenbestimmung von Art. 19 URG ein generell sorgloser Umgang mit Fotografien; und viertens war aufgrund des „Meili“-Urteils[1] die Rechtsunsicherheit und damit das Prozessrisiko in der Schweiz so gross, dass sich die Nutzer kaum vor klagenden Fotografinnen und Fotografen zu fürchten brauchten.
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Konfrontiert mit dieser Realität bestand primär für die professionellen Fotografinnen und Fotografen Handlungsbedarf. Mit Blick auf die umliegenden Staaten, die entweder schon lange ein Leistungsschutzrecht für Fotografien praktizierten oder die EU-Richtlinie 2006/116[2] anwandten, die bereits jede Fotografie als Werk schützt, sobald ein Mensch hierfür einen Bildausschnitt oder den Zeitpunkt der Aufnahme bestimmt hat, forderten sie für die Schweiz ebenfalls die Einführung eines Leistungsschutzrechts für die bisher ungeschützten Fotografien: jene ohne individuelle Gestaltung.
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Zwei der wichtigen Argumente, wieso es auch Fotografien zu schützen galt, aus denen kein „Gestaltungswille“ ablesbar ist, waren folgende: Erstens lässt sich in einer Fotografie die Gestaltung des Sujets oft nicht von der vermeintlichen Gestaltung des Bildes trennen[3], zweitens ist eine „künstlerisch gestaltete“ Fotografie oft gar nicht erwünscht, dies trifft insbesondere auf die Dokumentar- und Sachfotografie sowie teilweise den Fotojournalismus zu. Die in der „Arbeitsgruppe Lichtbildschutz“ zusammengeschlossenen sechs Berufsverbände (die der Autor dieses Artikels geleitet hat) wollten mit einem neuen Leistungsschutzrecht dafür sorgen, dass ihre virtuell verfügbaren und 1:1 verwertbaren Fotografien nicht mehr ohne Rechteclearing genutzt würden.
3. Im Zickzack zu Art. 2 Abs. 3bis URG
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Der oben beschriebenen Problemlage aus Sicht der Marktteilnehmer stand eine ganz andere aus der Perspektive der Urheberrechtsjuristen zugrunde: Wie liess sich das „Sorgenkind Fotografie“ so in die bestehende Logik des Urheberrechts einbinden, dass die oben beschriebenen Probleme behoben und gleichzeitig das Kernprinzip des Urheberrechts – die Erfüllung von Kriterien für die Gewährung des Werkschutzes – nicht über Bord geworfen würden?
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Aufgrund des nun vorliegenden Resultats muss man nüchtern feststellen: Es war offensichtlich nicht möglich – oder nicht gewollt. Der neue Abs. 3bis URG lautet:
Fotografische Wiedergaben und mit einem der Fotografie ähnlichen Verfahren hergestellte Wiedergaben dreidimensionaler Objekte gelten als Werke, auch wenn sie keinen individuellen Charakter haben.
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Neben den über Art. 2 Abs. 2 lit. g URG wie bisher als Werke geschützten, individuell gestalteten Fotografien, erhält neu auch die ganze Restmenge an Fotografien, die die zentrale Anforderung des individuellen Charakters an ein Werk explizit nicht erfüllt, den Werkstatus ebenso. Die Werkdefinition aus Abs. 1 Art 2 URG ist dadurch in ihrem zentralen Kriterium implodiert: Was Fotografien betrifft, können Werke sowohl individuellen als auch nicht individuellen Charakter haben. Und da Fotografien ohne individuellen Charakter gemäss Abs. 3bis als Werke gelten, ist über die Werkdefinition aus Abs. 1 zusätzlich festgelegt, dass es sich bei solchen Fotografien um geistige Schöpfungen der Literatur und Kunst handelt. Daran ändert der neue Abs. 3bis nichts.
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Dagegen mag man noch einwenden, der Schutz der nicht individuell gestalteten Fotografien sei sehr wohl an ein Kriterium gebunden, nämlich die Dreidimensionalität des wiedergegebenen Objekts. Das stimmt theoretisch, doch der praktisch orientierte und zusätzlich mit naturwissenschaftlichem Hintergrund Ausgestattete würde darauf antworten, dass jene Richter, die sich künftig mit dieser Frage werden beschäftigen müssen, wohl lange nach einem real existierenden Objekt mit nur zwei Dimensionen, das sich fotografisch wiedergeben lässt, werden suchen müssen. Der Grund für den Einschub dieses Kriteriums und die sich daraus ergebenden Komplikationen werden unter Kapitel 4 D (N 32) ausführlicher beschrieben.
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Dass der neue Schutz für die bisher ungeschützten Fotografien schlussendlich in Art. 2 URG gelandet ist, hat diverse Gründe. Nachfolgend wird das Hin- und Her zwischen den diversen Varianten nachgezeichnet.
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Im Rahmen der AGUR12 (Arbeitsgruppe Urheberrecht) schlug die Arbeitsgruppe Lichtbildschutz Ende 2014 eine Verankerung in den verwandten Schutzrechten mit folgendem Wortlaut vor:
Art. 34a Schutz von Lichtbildern
Lichtbilder sind Fotografien, sowie ähnlich wie Fotografien hergestellte Erzeugnisse, die in Bezug auf die Gestaltung keinen individuellen Charakter aufweisen und deshalb vom Schutz nach Art. 2 URG ausgeschlossen sind. Für sie gelten die Art. 9-28 URG sinngemäss. Nachahmungen von Lichtbildern sind erlaubt.
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Rund ein Jahr später schickte der Bundesrat einen Entwurf mit folgendem Wortlaut in die Vernehmlassung:
Art. 37a Rechte des Herstellers oder der Herstellerin von Pressefotografien
1 Der Hersteller oder die Herstellerin einer Pressefotografie hat so lange das ausschliessliche Recht, die Pressefotografie zu vervielfältigen, anzubieten, veräussern oder sonst wie zu verbreiten, wie diese für die aktuelle Berichterstattung von Interesse ist.
2 Pressefotografien sind Fotografien, deren Gestaltung keinen individuellen Charakter aufweist und die zur Illustration von journalistischen Beiträgen verwendet werden.
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Die Reaktionen auf diesen Vorschlag und den gesamten Gesetzesentwurf waren vorwiegend negativ, worauf der Bundesrat die AGUR12-Teilnehmenden bat, einen tragfähigen Kompromiss mit selber ausformulierten Artikeln zu präsentieren. Die Arbeitsgruppe Lichtbildschutz brachte im Februar 2017, nachdem das Bundesamt für Justiz Änderungsvorschläge angebracht hatte, folgenden Artikel in die AGUR12-II ein:
Art. 34a Schutz von Fotografien ohne individuellen Charakter
Weisen Fotografien sowie ähnlich hergestellte Erzeugnisse keinen individuellen Charakter auf, so gelten die Artikel 9 - 28 sinngemäss. Nachahmungen solcher Fotografien und Erzeugnisse sind erlaubt.
Art. 39
(...)
1ter Im Fall von Fotografien und ähnlich hergestellten Erzeugnissen ohne individuellen Charakter beginnt der Schutz mit der Veröffentlichung oder mit der Herstellung, wenn keine Veröffentlichung erfolgt, der Schutz der Sendung mit deren Ausstrahlung; er erlischt nach 50 Jahren.
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Dieser Vorschlag fand die Zustimmung der AGUR12-II und war damit in jenem Kompromiss enthalten, über den danach das Parlament hätte befinden müssen.
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Dieser Vorschlag wurde jedoch unter anderem mit der Begründung, dass Fotografien als geistige Schöpfungen in Artikel 2 URG besser aufgehoben seien, als in den verwandten Schutzrechten, vom Institut für Geistiges Eigentum (IGE), das die Vorlage für den Bundesrat ausarbeitete, von den verwandten Schutzrechten in Art. 2 URG umplatziert:
Art. 2 Abs. 3bis
3bis Fotografische Wiedergaben und mit einem der Fotografie ähnlichen Verfahren hergestellte Wiedergaben dreidimensionaler Objekte gelten als Werke, auch wenn sie keinen individuellen Charakter haben.
Art. 29
2 Der Schutz erlischt:
(...)
abis. 50 Jahre nach der Herstellung für fotografische Wiedergaben und mit einem der Fotografie ähnlichen Verfahren hergestellte Wiedergaben dreidimensionaler Objekte, wenn die Wiedergaben keinen individuellen Charakter haben;
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Die Arbeitsgruppe Lichtbildschutz hat den Vorschlag der bundesrätlichen Botschaft in der Folge nicht abgelehnt, jedoch wiederholt auf die Systemwidrigkeit von Abs. 3bis hingewiesen sowie auf diverse materielle Unterschiede aufmerksam gemacht, die bereits in medialex 5/2018[4] thematisiert worden sind.
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In der Folge hat die nationalrätliche Kommission für Rechtsfragen im Herbst 2018 mit 23:0 Stimmen bei einer Enthaltung entschieden, dass nicht der Vorschlag des Bundesrates, sondern der ursprüngliche, im AGUR-Kompromiss enthaltene Vorschlag für ein in den verwandten Schutzrechten verankertes Leistungsschutzrecht berücksichtigt werden sollte. Der Hauptgrund für diesen Entscheid war der rechtsdogmatische Bruch, der mit der Verleihung eines Werkschutzes an einen Gegenstand drohte, der eine zentrale Bedingung für diesen Schutz, den individuellen Charakter, explizit nicht erfüllt.
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Die von der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen erzielte Kehrtwende zugunsten der Verankerung in den verwandten Schutzrechten kritisierte der Urheberrechtler Willi Egloff als „grandiose gesetzgeberische Fehlleistung“; der Lichtbildschutz sei dort ein „grotesker Fremdkörper“. Dadurch würden Radarfallenfotos und Fotokopien geschützt und überhaupt würde gar keine menschliche Tätigkeit mehr vorausgesetzt und man wisse gar nicht, wer der Rechteinhaber wäre. Dies führte dazu, dass viele Nationalrätinnen und Nationalräte der Meinung der Kommission für Rechtsfragen nicht folgten und den Schutz der Fotografien ohne individuellen Charakter schliesslich mit 110 zu 61 Stimmen gemäss dem bundesrätlichen Vorschlag in Art. 2 Abs. 3bis URG verankerten.
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Einen letzten Versuch, diesen Systembruch im Schweizer Urheberrecht doch noch zu verhindern, unternahmen unter der Leitung von Prof. Florent Thouvenin (Universität Zürich) zehn Professoren von Schweizer Hochschulen. Der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) des Ständerates wurde im Frühling 2019 eine gemeinsam in letzter Minute von Willi Egloff und Florent Thouvenin ausgearbeitete Lösung mit einer Regelung in einem neuen Titel des URG vorgeschlagen. Die Kommission lehnte den Vorschlag jedoch ohne nähere Auseinandersetzung ab und besiegelte damit die Diskussion um die Verankerung endgültig. Nach der Differenzbereinigung wurde die URG-Revision am 27. September 2019 von beiden Räten mit grossen Mehrheiten verabschiedet.
4. Anwendung von Art. 2 Abs. 3bis URG
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Nun steht Art. 2 Abs. 3bis URG jedoch im Gesetz und muss angewendet werden. Weil die in Art. 2 Abs. 1 genannte Schutzanforderung des individuellen Charakters für die unter Art. 2 Abs. 3bis geschützten Fotografien explizit nicht gilt, gibt es für Fotografien nun zwei nebeneinander bestehende Werkdefinitionen. Daraus ergeben sich in der Anwendung einige Tücken, auf die in der Folge hingewiesen wird.
A. Werkintegrität
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Rechtsinhaberinnen und –inhaber von Werken erhalten Urheberpersönlichkeitsrechte, also stehen diese uneingeschränkt auch den Herstellerinnen und Herstellern von Fotografien ohne individuellen Charakter zu.
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Unzutreffend ist deshalb die im neuen Kommentar zum Urheberrecht von Willi Egloff vertretene Meinung, auf Fotografien ohne individuellen Charakter könnten „von der Sache her diejenigen Schutzbestimmungen nicht angewendet werden, durch welche Werke in ihrem individuellen Charakter geschützt werden (z.B. Art. 11 Abs 2)“[5]. Orientiert an den bisherigen Bedingungen an ein Werk gemäss Art. 2 Abs. 1 URG trifft diese Aussage zu. Unter der nun gültigen Prämisse, dass eine Fotografie ohne individuellen Charakter auch ein Werk ist, ist es „von der Sache her“ eben auch klar, dass Art. 11 URG und insbesondere dessen Abs. 2 ebenso für Fotografien ohne individuellen Charakter zur Anwendung kommen: Fotografien ohne individuellen Charakter dürfen nicht abgeändert und nur mit Erlaubnis des Rechteinhabers für Werke zweiter Hand genutzt werden. Zudem muss sich dieser gegen persönlichkeitsverletzende Entstellungen wehren können.
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Dass Art. 11 Abs. 2 URG auch für nicht individuell gestaltete Aufnahmen Sinn macht, illustriert folgendes Beispiel aus der Praxis: Auf Anfrage liefert eine Fotografin einer Zeitschrift eine in einem Fotostudio vor weissem Hintergrund erstellte Fotografie einer Bassgeige; ein individueller Charakter der Aufnahme lässt sich nicht feststellen. Die Zeitschrift druckt nun dieses Bild, korrekterweise versehen mit dem Namen der Fotografin, jedoch total unscharf ab. Die Fotografin, auch wenn sie einer möglichen Änderung der Fotografie grundsätzlich zugestimmt haben sollte, kann sich durch die vermeintlich schlechte Darstellung ihrer Fotografie in ihrem beruflichen Ansehen und damit in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt fühlen, es macht Sinn, dass sie sich gegen eine solche Verwendung zur Wehr setzen kann. Die im Kommentar Egloff vertretene Ansicht, wonach die Verletzung der Persönlichkeit durch die Entstellung eines Werks nur möglich sei, wenn das Werk individuellen Charakter habe[6], ist deshalb unzutreffend.
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Wie wichtig übrigens Art. 11 Abs. 1 lit. a URG ist, illustrieren folgende Beispiele: Wären Abänderungen an Dokumentarfotografien (die häufig nicht individuell gestaltet sind) legal, würde damit der Fälschung der visuellen Geschichtsschreibung Tür und Tor geöffnet, und dies alles unter dem Namen der Fotografinnen und Fotografen. Und aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen ist es z.B. bei Personenaufnahmen ebenfalls wichtig, dass diese nicht abgeändert werden dürfen. Eine Abänderung einer Fotografie verändert nicht nur ein Bild, sondern ebenso den Glauben der Betrachter, wie die fotografierte Realität wirklich war. Insbesondere für Fotografien ohne individuellen Charakter ist deren Faktizität ein hohes Gut und die Fotografinnen und Fotografen bürgen mit ihrem Namen für die Authentizität der Aufnahmen.
B. Werke zweiter Hand
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„Ein Werk zweiter Hand setzt voraus, dass die geistige Schöpfung auf einer ihrerseits schutzfähigen Vorlage aufbaut“[7]. Fotografien ohne individuellen Charakter sind dank Art. 2 Abs. 3bis URG solche schutzfähigen Vorlagen, entsprechend sind davon grundsätzlich auch Werke zweiter Hand möglich.
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Und damit von einem Werk zweiter Hand gesprochen werden könne, muss gemäss Egloff „das, was der Vorlage erst die Qualifikation als Werk eingebracht hat, nämlich ihre Individualität, im neuen Werk zutage treten“ (BBl 1989 III, 524):“ Übertragen auf Werke zweiter Hand von Fotografien ohne individuellen Charakter kann das nichts anderes bedeuten, als dass es sich bei dieser Qualifikation eben um die Absenz der Individualität handelt, die im neuen Werk zutage treten muss. Deshalb bestehen die Ansprüche auf Werkintegrität und damit die Entscheidungsbefugnis, ob eine Fotografie für ein Werk zweiter Hand verwendet werden darf, auch für die Urheber von Fotografien ohne individuellen Charakter, gleich wie für jene mit individuellem Charakter gemäss Art. 2 Abs.2 lit. g URG. Oder allgemeiner ausgedrückt: An die Konsequenzen aus diesem neuen Werkbegriff im Schweizer Urheberrecht muss man sich zuerst noch gewöhnen.
C. Fotofallen und Überwachungskameras
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Die Feststellung Egloffs[8], wonach Fotografien, die ohne menschliche geistige Tätigkeit, also zufällig oder von selbst entstehen, per Definition keine Werke sein können, ist zutreffend. Nur: Weder die Bilder von Überwachungskameras noch jene von Tier-Fotofallen oder Satellitenbilder entstehen zufällig und von selber. Es sind Menschen, die entscheiden, welchen Ausschnitt die von ihnen aufgebauten oder ins All geschickten Kameras fotografieren sollen, und es sind auch Menschen, die bestimmen, unter welcher Bedingung eine Aufnahme entstehen soll. Die zwei wichtigsten Parameter solcher Aufnahmen, der Bildausschnitt und der Zeitpunkt der Aufnahme, kommen auch bei diesen Fotografien nur unter Mitwirkung einer geistigen Leistung von Menschen zu Stande. Hinzu kommen die ebenfalls von Menschen vorgenommenen weiteren Einstellungen bezüglich der Schärfe, der Blende, dem Einsatz von Blitzlicht, etc. Damit sind jene z.B. im Entscheid „Marley“ (BGE 130 III 168) genannten Bedingungen an eine geistige Schöpfung problemlos erfüllt. Ist also eine solche halbautomatisiert hergestellte Fotografie individuell gestaltet, wird sie unter Art. 2 Abs. 2 lit. g URG geschützt, ansonsten unter Abs. 3bis. Dass es durchaus Sinn macht, solche oft mit grossem Aufwand erstellte Fotografien als Werke vor unerlaubtem Zugriff zu schützen, mag dieses Beispiel illustrieren:
Foto: Horst Jegen
In Deutschland sind solche halbautomatisiert hergestellten Fotografien von Radarfallen, Webcams und Satelliten allesamt auch geschützt.
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Auch Egloff vertritt den Standpunkt, dass es sich bei Dingen, „welche unter bewusster Verwendung von Zufallsprinzipien entstehen, (…) klarerweise um geistige Schöpfungen“ handle und verweist dabei auf Werke der Künstler Joseph Beuys und John Cage[9]. Doch weshalb soll das Produkt eines Künstlers geschützt sein, der sich (bewusst) des Zufalls bedient, das Produkt eines Fotografen, der genau dasselbe tut, jedoch nicht?
D. Fotokopien und andere Reproduktionen
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Der Schutz von Fotografien ohne individuellen Charakter ist auf Wiedergaben dreidimensionaler Objekte beschränkt. Wie untenstehendes Beispiel zeigt, kann ein Fotokopiergerät aber auch dreidimensionale Objekte wiedergeben und gehört damit zu jenen „der Fotografie ähnlichen Verfahren“, mit denen sich nach Abs. 3bis sehr wohl geschützte Werke herstellen lassen. Fotokopieren ist ein technisches Verfahren und die damit erzeugten Bilder können nicht grundsätzlich vom Schutz ausgenommen werden.
Fotokopie: Ch. Schütz
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Der Gesetzgeber wollte jedoch nicht den Schutz z.B. solcher Aufnahmen verhindern, sondern jenen von 1:1 Kopien von als Bilder vorliegenden Objekten. Bei Fotokopien einer Buchseite macht das Sinn, bei der fotografischen Reproduktion eines Ölgemäldes weniger. Der Schweizer Gesetzgeber hat mit der Einführung dieser Bedingung etwas Neues versucht. Zielführender wäre gewesen, eine etablierte Lösung aus Deutschland zu übernehmen, jene der sogenannten „Urbildtheorie“. Diese besagt, dass die 1:1-Abbildung eines Bildes nicht geschützt sein kann, wenn die Vorlage bereits als Bild existiert hat. Damit wird der Schutz der klassischen Fotokopie ebenso ausgeschlossen wie das 1:1 Abfotografieren einer Fotografie. Leistungsschutzrechtlich über § 72 UrhG geschützt sind in Deutschland jedoch Reproduktionsfotografien von Gemälden. Dies zu Recht, weil eine Reproduktion eines Gemäldes technisch sehr anspruchsvoll und aufwändig sein kann und es nicht nachvollziehbar ist, weshalb die Berufsgruppe der Reproduktionsfotografen vom Schutz ihrer Erzeugnisse ausgeschlossen sein soll.
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Die nun gültige Bedingung, dass in der Schweiz Fotografien ohne individuellen Charakter nur geschützt sind, wenn es Wiedergaben dreidimensionaler Objekte sind, dürfte zu seitenlangen Abhandlungen führen, ob es sich z.B. bei einem Ölgemälde mit einem 2 mm hohen, reliefähnlichen Farbauftrag nun um ein zwei – oder dreidimensionales Objekt handelt oder eben nicht, und ob eine ganz leicht von schräg aufgenommene Reproduktion einer Zeichnung geschützt sein soll, jene exakt von vorne aufgenommene jedoch nicht.
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Nicht geschützt sollen gemäss Kommentar Egloff auch Fotografien sein „wenn das zweidimensionale Werk auf einer dreidimensionalen Unterlage präsentiert wird, sofern nicht die Unterlage selbständiges Objekt der fotografischen Wiedergabe ist“[10]. Das würde bedeuten, dass eine Fotografie einer auf einem Reprografie-Tisch liegenden Künstlerskizze geschützt ist, sofern man auf der Fotografie nicht nur die Künstlerskizze, sondern auch den Reprografie-Tisch noch ein bisschen sieht. Die Empfehlung an alle Fotografinnen und Fotografen, die Reproduktionen von Bildern erstellen, muss also lauten: Immer noch etwas (dreidimensionale) Umgebung mitabbilden, damit die Fotografie geschützt ist; wenn die Fotografie dann nachträglich so beschnitten wird, dass man die Umgebung nicht mehr sieht, dürfte diese Fotografie immer noch geschützt sein. Sicher ist, dass durch die Einführung dieses neuen Kriteriums die soeben gewonnene Rechtssicherheit beim Umgang mit Fotografien gleichzeitig auch einen kleinen Rückschritt erlitten hat.
E. Schutzdauer
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Die in Artikel 29 geregelte Schutzdauer ist mit 50 Jahren ab Herstellung potenzielle 50 Jahre kürzer, als von der Arbeitsgruppe Lichtbildschutz ursprünglich und analog zur Regelung in Deutschland vorgeschlagen. Und sie ist auch wesentlich kürzer als für Computerprogramme, deren Schutz erst 50 Jahre nach dem Tod des Urhebers erlischt.
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In Deutschland beginnt die Schutzdauer mit der ersten Veröffentlichung zu laufen und einzig in jenen Ausnahmefällen, in denen vor einer strittigen Nutzung keine Veröffentlichung erfolgt ist oder deren Publikationsdatum unbekannt ist, bezieht man sich auf das Datum der Herstellung. Damit macht der Schweizer Gesetzgeber den Ausnahmefall aus dem deutschen Gesetz zum Normalfall für die Gesamtheit der Fotografien ohne individuellen Charakter.
5. Weitere für Fotografien relevante Aspekte des revidierten URG
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Neben der Schutzausdehnung auf Fotografien ohne individuellen Charakter, bietet das revidierte URG insbesondere für öffentliche Institutionen zahlreiche neue Bestimmungen, die den Umgang mit Fotografien erleichtern.
Art. 22b: Nutzung von verwaisten Werken
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Fotografien, die sich in Beständen von öffentlichen oder öffentlich zugänglichen Institutionen oder von Sendeunternehmen befinden und deren Rechteinhaber mit verhältnismässigem Aufwand nicht gefunden werden können, dürfen neu genutzt werden. Der Verwertungsgesellschaft Pro Litteris ist hierfür eine Vergütung zu bezahlen, die während zehn Jahren für die eventuell noch auftauchenden Rechteinhaber reserviert bleibt und danach der Sozialvorsorge und der Kulturförderung zugewiesen wird.
Art. 24: Archivierungs- und Sicherungsexemplare
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Öffentliche und öffentlich zugängliche Bibliotheken, Bildungseinrichtungen, Museen und Archive dürfen zur Sicherung und Erhaltung der Bestände unentgeltlich Kopien von Fotografien herstellen, solange damit kein wirtschaftlicher Zweck verbunden ist.
Art. 24d: Verwendung zu wissenschaftlichen Zwecken
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Zum Zweck der wissenschaftlichen Forschung dürfen Kopien von geschützten Fotografien erstellt und gespeichert werden, hierfür ist niemandem eine Vergütung geschuldet.
Art. 24e: Bestandesverzeichnisse
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Öffentliche und öffentlich zugängliche Bibliotheken, Bildungseinrichtungen, Museen, Sammlungen und Archive dürfen zur „Erschliessung und Vermittlung ihrer Bestände“ die Gesamtansicht von Fotografien „als kleinformatiges Bild mit geringer Auflösung“ wiedergeben, „sofern dadurch die normale Verwertung der Werke nicht beeinträchtigt wird“.
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Diese Formulierungen lassen beträchtlichen Interpretationsspielraum zu. Von Interesse bezüglich Fotografie ist insbesondere die Frage, bis zu welcher Auflösung die Bilder solcher Bestandesverzeichnisse z.B. im Internet oder Ausstellungskatalogen gezeigt werden dürfen. Dabei ist „kleinformatig“ ein wenig hilfreicher Begriff, entscheidend ist die Bildauflösung, die in der Regel in Pixel/inch oder linearen Pixeln der längeren Bildseite angegeben wird, denn nur sie entscheidet über den Detailreichtum einer Fotografie.
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Mit Blick auf die bereits im Internet verfügbaren Bestandesverzeichnisse (z.B. Google Bildersuche, New York Public Library, Keystone, e-pic der ETH Zürich) tendiert der Autor dieses Beitrags dazu, die Auflösung von Fotografien in Bestandesverzeichnissen so zu wählen, dass man sich eine Fotografie auch vernünftig ansehen und also auch Details erkennen kann. Denn das Recht, die Fotografien in solchen Katalogen sichtbar zu machen, erteilt noch niemandem eine Nutzungslizenz an diesen Bildern. Zudem könnte es auch im Interesse von Fotografinnen und Fotografen liegen, dass ihre Bilder, die sich bereits in Sammlungen befinden, gut aufgelöst präsentiert werden, weil das auch eine spätere Nutzung und damit die Chance auf eine kommerzielle Verwertung erhöhen kann.
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Man wird diesbezüglich auf den Standpunkt von Pro Litteris und/oder einen Gerichtsentscheid warten müssen, damit geklärt wird, wie viele Pixel die längere Seite einer Fotografie zählen darf, damit durch eine Wiedergabe in einem Bestandesverzeichnis ihre „normale Verwertung“ nicht beeinträchtigt wird. Diesbezüglich unbefriedigend ist, dass mit Art. 26 ein ähnlicher Artikel existiert, der öffentlich zugänglichen Sammlungen die Publikation von „Katalogen“ erlaubt, ohne sich dazu zu äussern, welche Bildqualität (also Auflösung in Pixeln/inch) diese Bilder haben dürfen, um noch von dieser Schranke zu profitieren. Gestützt auf Art. 26 könnte eine öffentlich zugängliche Sammlung also durchaus auch eine Bilderdatenbank, die einem „Katalog“ gleichkommt, mit hochaufgelösten Bildern im Internet zugänglich machen.
Art. 80: Übergangsbestimmung
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Seit dem 1. April 2020 sind nicht nur alle ab diesem Zeitpunkt hergestellten Fotografien ohne individuellen Charakter geschützt, sondern auch alle vorher aufgenommenen, deren Herstellung zu einem fraglichen Zeitpunkt nicht mehr als 50 Jahre zurückliegt. Dank der Übergangsregelung von Artikel 80 kann jedoch niemand rückwirkend für eine legal gewesene Nutzung belangt werden, im Gegenteil: Für Nutzungen von Fotografien ohne individuellen Charakter, die vor dem 1. April 2020 begonnen worden sind und auf unbestimmte Zeit weiterlaufen, muss trotz der neuen Rechtslage kein Rechteclearing durchgeführt werden. Dies bedeutet zum Beispiel, dass für vor dem 1. April 2020 legal in einem Buch abgedruckte Fotografien ohne individuellen Charakter nun keine Erlaubnis eingeholt werden muss, auch wenn diese Bücher erst in 20 Jahren verkauft werden. Abgeklärt müssen die Nutzungsrechte jedoch, wenn von diesem Buch mit denselben Bildern unter dem neuen Recht eine zweite Auflage produziert werden soll.
Fussnoten:
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BGE 130 III 714 „Meili“ ↑
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https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2006:372:0012:0018:DE:PDF ↑
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Barrelet/Egloff, Das neue Urheberrecht, 4. Aufl. 2020, S. 26, N38 ↑
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Barrelet/Egloff, Das neue Urheberrecht, 4. Aufl. 2020, S. 90, N 20 ↑
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Barrelet/Egloff, Das neue Urheberrecht, 4. Aufl. 2020, S. 29, N 5 ↑
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Barrelet/Egloff, Das neue Urheberrecht, 4. Aufl. 2020, S. 13, N 8 ↑
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Barrelet/Egloff, Das neue Urheberrecht, 4. Aufl. 2020, S. 13, N 8 ↑
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Barrelet/Egloff, Das neue Urheberrecht, 4. Aufl. 2020, S. 26 N 36 ↑