Der neue Art. 2 Abs. 3bis URG zum Schutz nicht-individueller Fotografien

D

Die Bezeichnung der neuen Bestimmung als «Fremdkörper» ist übertrieben

Giulia Walter, MLaw, Zürich [1]*

Résumé: Le nouveau art. 2 al. 3bis LDA, qui ouvre la voie à la protection des photographies non individuelles, a été critiqué presque unanimement par la doctrine. Plusieurs critiques décrivent cette disposition comme une « brèche de style » ou comme « corps étranger » dans la LDA. Cette description est intéressante, parce qu’elle crée une opposition entre la loi préexistante et cette nouvelle protection. Après avoir présenté deux des débats déjà nés au sujet de l’interprétation de la nouvelle disposition, cette description est examinée en lien avec la jurisprudence du TF à propos du caractère individuel de l’art. 2 al. 1 LDA.

Zusammenfassung: Der neue Art. 2 Abs. 3bis URG, welcher den Weg zum Schutz der nicht-individuellen Fotografie öffnet, wurde bisher in der Lehre fast einhellig kritisiert. Viele Kritiker haben die neue Bestimmung als «Systembruch» und als «Fremdkörper» im Urheberrecht beschrieben. Diese Beschreibung ist interessant, weil sie die neue Bestimmung in Opposition zum vorbestehenden URG stellt. Nach der Darstellung zwei schon entstandener Debatten zusammenhängend mit der Auslegung der neuen Bestimmung, wird diese Kritik im Artikel mit der Praxis des Bundesgerichts zum individuellen Charakter des Art. 2 Abs. 1 URG abgewogen.

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung      Rn 1
II. Die Ratio legis     7
III. Was ist wie geschützt?     11 
     1. Urheberpersönlichkeitsrechte    13
     2. Nachahmungsfreiheit – ja oder nein?    17
IV. Das Gegenteil des Urheberrechts?    28
     1. Von der «originalité marquée» zu der «originalité simple»    30
     2. Der individuelle Charakter oder: wie man einen Mythos pflegt    36

Die Erstpublikation dieses Artikels von Giulia Walter erfolgte unter dem Titel "Der neue Art. 2 Abs. 3bis URG – Die Umkehrung des Urheberrechts?" in der Zeitschrift für Immaterialgüter-, Informations- und Wettbewerbsrecht sic! 2021, Ausgabe 7+8, S. 377 ff.  

Einleitung

1

Innerhalb weniger Monate im Jahr 2003 wurde die Erleichterung, die der Entscheid «Marley» (BGE 130 III 168) bei Pressefotografen ausgelöst hatte, durch den «Meili»-Entscheid (BGE 130 III 714) jäh beschnitten.[2] Während «Marley» für Berufsfotografen einen Hoffnungsschimmer darstellte, der sie in der Annahme bestärkte, der bestehende urheberrechtliche Rahmen reiche aus, um ihre Arbeit zu schützen, sorgte «Meili» erneut für Verwirrung in der Frage des Schutzes fotografischer Werke, die «pre Marley» herrschte.[3]

2

2012, neun Jahre nach «Meili» und «Marley», bestätigte das «Hayek»-Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, indem es die Werkqualität des ersten in Frage stehenden Bildes (welches Nicolas Hayek zeigt, wie er aus seinem Hotelzimmer in New York lehnend das Victory-Zeichen macht) bejaht, sie aber gleichzeitig dem zweiten Bild (das Hayek mit seiner Tochter und Ehefrau vor einem luxuriösen Schwimmbad sitzend zeigt) absprach.[4] Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass das Gericht – nachdem es den individuellen Charakter der zweiten Photographie verneinte – ausführte: «Würde diesem Bild Werkcharakter zugestanden, müsste jedes gelungene Familienfoto unter den Werkbegriff fallen».[5]

3

Das Aargauer Gericht wusste damals noch nicht, dass die Urheberrechtsrevision 2018/2019 einen noch grosszügigeren Urheberrechtsschutz eingeführen würde. Einer, der gemäss dem neuen Art. 2 Abs. 3bis URG fotografische Wiedergaben und mit einem der Fotografie ähnlichen Verfahren hergestellte Wiedergaben dreidimensionaler Objekte, auch wenn sie keinen individuellen Charakter haben, als Werke betrachtet, und selbst dann, wenn sie objektiv misslungen sind.[6]

4

Diese neue Bestimmung wurde von ExpertInnen fast einhellig und mannigfaltig kritisiert,[7] zum Beispiel wegen ihrer Verfassungswidrigkeit (angesichts der Rechtsungleichheit gegenüber ausübenden KünstlerInnen), wegen der Erschwerung der Kommunikation über Kunst,[8] wegen fehlender eindeutiger gesetzgeberischer Ratio[9] und weil sie zu zusätzlicher (Rechts)unsicherheit in der Abgrenzung zwischen zwei- und dreidimensionalen Objekten führt.[10] Von anderer Seite wurde sie mit dem Kommentar «logisch unmachbar» zurückgewiesen.[11]

5

Eine weitere Meinung, welcher ich am Ende dieses Artikels besondere Aufmerksamkeit schenken werde, kritisiert die neue Bestimmung als einen Fremdkörper im Gefüge des Urheberrechtsgesetzes.[12] Ähnlich beschreiben andere die Bestimmung als «Systembruch»[13] oder als «Stilbruch»[14] und als «systemfremd».[15] Sogar Schütz, ein Berufsfotograf und Medienwissenschaftler, der jahrelang für einen rechtlichen Schutz für alle Fotografien plädiert hat, bezeichnete die Einführung eines Werksschutzes für nicht-individuelle Fotografien als «widersinnig», indem er ausführte, dass man einen solchen Urheberrechtsschutz nicht in ein Gesetz wie das bestehende aufnehmen kann, welches Individualität für alle anderen Werkkategorien voraussetzt.[16]

6

Dieser Artikel beschäftigt sich, erstens, mit der Entstehung der neuen Gesetzesbestimmung (II.). Im III. Teil werden zwei bereits entstandene Debatten zur Frage dessen Schutzumfanges dargestellt; in Teil IV. die bereits erwähnten Kritiken über den angeblichen «Bruch» im Urheberrecht näher behandelt. Diese Punkte sind insbesondere deshalb interessant, weil sie die neue Gesetzesbestimmung so darstellen, als sei sie die «Negativseite» des bestehenden Urheberrechts. Diese Aussagen werden sodann mit der Praxis des Bundesgerichts zu Art. 2 Abs. 1 URG (die «Positivseite») abgewogen. Es wird überprüft, ob der Schutz für nicht-individuelle Fotografien tatsächlich das Gegenteil des Urheberrechts ist.

II. Die Ratio legis

7

Zunächst ein kurzer Blick auf den telos des neuen Urheberrechtsschutzes: Der neue Absatz wurde von professionellen FotografInnen (darunter auch PressefotografInnen) gewünscht. Wie bereits ausgeführt, hatte «Marley» die Tür zum Schutz des Schnappschusses geöffnet;[17] dieser potenzielle Schutz wurde aber nach der Veröffentlichung von «Meili» und der Bestätigung der darin etablierten Kriterien in «Hayek» als zu eng empfunden.[18] Das Problem lag im Erfordernis des individuellen Charakters von Art. 2 Abs. 1 URG und seiner Anwendung, welche keine Vorhersage über die Schutzfähigkeit einer Fotografie erlaubte und dadurch Rechtsunsicherheit schuf.

8

Die Alternative dazu, nämlich die Arbeit von Berufsfotografen nach dem UWG zu schützen,[19] schien aufgrund einer unglücklichen Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts zu dessen Art. 5 Bst. c nicht praktikabel.[20] Diese Rechtsprechung schränkte den Begriff der unlauteren Übernahme auf Verwendungen marktreifer Arbeitsergebnisse ein, dessen Produktionsaufwand noch nicht amortisiert wurde. Entscheidend für die Berechnung sei zudem allein der für die erstmalige Herstellung objektiv erforderliche Aufwand, welcher beim Fotografieren nicht sehr hoch ist.[21]

9

Aus Furcht vor Rechtsunsicherheit und fehlendem Schutz für ihre Arbeit nahmen die Interessengruppen das Urheberrechtsgesetz ns Visier und setzten sich für die Einführung eines neuen Schutzes ein, der explizit nicht auf den – sonst unabdingbaren – individuellen Charakter abstellt.[22]

10

Dass die Situation auf dem Markt für Bilder und die Verneinung der Werkqualität von Meilis Portrait und Hayeks Familienfoto als gar nicht so schlimm beurteilt wird,[23] könnte von Verfahrensfehlern  verursacht worden sein.[24] Die Meinung, nach welcher BerufsfotografInnen einen ad hoc Schutz bräuchten, setzte sich letztlich in den gesetzgeberischen Verhandlungen durch.[25]

III. Was ist wie geschützt?

11

Seit dem 1. April 2020 gilt jede fotografische Wiedergabe und mit einem der Fotografie ähnlichen Verfahren hergestellte Wiedergabe dreidimensionaler Objekte als Werk, auch wenn sie keinen individuellen Charakter aufweist. Die Voraussetzungen der geistigen Schöpfung und der Zugehörigkeit zu den Gattungen der Literatur und der Kunst bleiben auch auf die neue Werkkategorie anwendbar,[26] da Abs. 3bis nur explizit das Erfordernis des individuellen Charakters streicht.

12

Unzweideutig ist, dass der Urheberrechtsschutz mit dieser neuen Bestimmung erheblich erweitert wurde.[27] Dass die neue Bestimmung Rechtssicherheit geschaffen hat,[28] ist aber eher ein Trugschluss. Fotografische Wiedergaben sind jetzt nicht ganz automatisch geschützt. Vielmehr scheint sich in der Diskussion darüber, was individuell ist und was nicht, eine neue Schicht der Unsicherheit – nämlich hinsichtlich des Unterschieds zwischen zweidimensionalen und dreidimensionalen Objekten – manifestiert zu haben.[29] Darüber hinaus könnte der Unterschied zwischen einer individuellen Fotografie nach Art. 2 Abs. 2 lit. g URG (d.h. genauer gesagt, ein fotografisches Werk) und einer nicht-individuellen Fotografie nach dem neuen Art. 2 Abs. 3bis URG noch mehr an Bedeutung gewonnen haben, und zwar nicht nur aus Gründen des praktischen bzw. des ökonomischen Kalküls. Der Urheberrechtsschutz der nicht-individuellen Fotografie läuft bereits 50 Jahre nach dessen Realisierung ab (Art. 29 Abs. 2 lit. abis URG) und dessen Schutzumfang ist wahrscheinlich enger (siehe unten im Detail), auch weil die Verneinung des individuellen Charakters als ästhetisches Urteil rezipiert werden könnte. Letzten Endes wurde die nicht-individuelle Fotografie bisher als banales Knipsbild dargestellt, das jedermann mit einer automatischen Kamera aufnehmen könnte.[30]

1. Urheberpersönlichkeitsrechte

13

Eine erste Debatte betrifft den Umfang der Anwendbarkeit der Urheberpersönlichkeitsrechte (insb. das Recht auf Werkintegrität) auf die neue Urheberrechtsbestimmung.

14

Gemäss einer Lehrmeinung seien solche URG-Bestimmungen, welche vom individuellen Charakter sprechen (d.h. Art. 3 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 lit. b URG) wegen dem Verweis «natürlich» nicht anwendbar auf nicht-individuelle Werke.[31] Die Bearbeitung dieser fotografischen «Quasi-Werke» stelle kein Werk zweiter Hand nach Art. 3 URG dar, da es keinen individuellen Charakter der benutzten Fotografie gäbe, der im neuen, darauf abgestützten Werk noch «erkennbar bleiben» könne.[32] Daraus folgt, dass jene, die UrheberInnen im Sinne von Art. 2 Abs. 3bis URG werden, nicht berechtigt sind zu bestimmen, ob und wann ihre Werke für die Schaffung eines Werks zweiter Hand benutzt werden können.[33] Dass eine unterschiedliche Behandlung für das Recht auf Werkintegrität gerechtfertigt sei, wird auch damit begründet, dass die fehlende Individualität fotografischer Werke nach Art. 2 Abs. 3bis URG auf die fehlende Verbindung mit der Persönlichkeit des Urhebers und deswegen auf herabgesetzte Urheberpersönlichkeitsrechte hinweise.[34] Als Beispiel wird Art. 11 Abs. 2 URG herangezogen, welcher zwar nicht von individuellem Charakter spricht, trotzdem aber den unveräusserlichen «harten Kern» der Urheberpersönlichkeitsrechte adressiert.[35]

15

Auf diese letzte Folgerung – dass der individuelle Charakter mit der Urheberpersönlichkeit verbunden ist und deswegen einen erhöhten Schutz erfordert – kann man jedoch erwidern, dass die Urheberrechtsrevision von 1992 sich von der Gleichung «Individualität gleich Stempel der Persönlichkeit[36] des Autors» verabschiedet hat. Spätesten seit 2003 (mit «Marley») ist klar geworden, dass das, was ein Werk ausmacht, nicht in angeblichem Zusammenhang mit der Persönlichkeit des Autors steht, sondern vielmehr in Eigenschaften, die dem Werk inhärent sind, besteht.[37]

16

Die Botschaft zur Revision des Urheberrechtsgesetzes führt hingegen aus, dass FotografInnen nicht-individueller Fotografien dieselben Vermögens- und Urheberpersönlichkeitsrechte übriger UrheberInnen haben und erwähnt keine einzige Ausnahme.[38] Diese Auffassung wird auch in der Lehre einzeln vertreten. Gemäss dieser Meinung kann sich die Fotografin einer nicht-individuellen Fotografie auf die exklusiven Rechte nach Art. 10 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 URG berufen, um sich einer ungewünschten Nutzung ihres Werkes zu widersetzen. Es wird argumentiert, dass ein Werk zweiter Hand nach Art. 3 Abs. 1 URG, welches auf der Grundlage eines nicht-individuellen Werkes geschafft wird, auf jeden Fall den individuellen Charakter des Originalwerkes «verblassen» lässt, da das benutzte Werk gar keinen individuellen Charakter hat. Aus dieser zweiten Meinung folgt, dass ein Werk zweiter Hand auch auf der Grundlage einer nicht-individuellen Fotografie möglich ist.[39] Der Autor einer solchen Fotografie kann deshalb diese Nutzung verbieten.[40]

2. Nachahmungsfreiheit – ja oder nein?

17

Eine vielleicht noch brisantere Debatte betrifft die Möglichkeit, Nachahmungen des eigenen Quasi-Werkes entsprechend der neuen Bestimmung, verbieten zu können.

18

Eine Nachahmung liegt vor, wenn ein Erzeugnis nach einer bestimmten Vorlage mehr oder weniger getreu nachgebildet wird, ohne dass diese Vorlage in das Reproduktionsverfahren einbezogen wurde. Die Nachahmung ist von der unmittelbaren Übernahme abzugrenzen, bei welcher das Erzeugnis gegenständlich ins Reproduktionsverfahren einbezogen wurde,[41] wie im copy-paste-Verfahren.

19

Der grösste Unterschied des Urheberrechts zum oben erwähnten Art. 5 lit. c UWG besteht hinsichtlich der Behandlung der Nachahmung. Das UWG verbietet Nachahmungen nicht.[42] Dort herrscht das Prinzip der Nachahmungsfreiheit, welches zum Zwecke eines dynamischen Wirtschaftsprozesses die Kopie als Voraussetzung für die Innovation betrachtet und deshalb zu einer raschen Diffusion immaterieller Güter beiträgt.[43]

20

Dass dies im Bereich des Urheberrechts anders ist,[44] erklärt u.A. ein Entscheid des Obergerichts des Kantons Basel-Stadt. Darin ging es um die Werkqualität einer Panoramafotografie der Stadt, die vom Basler Münster aus aufgenommen worden war. Das Gericht legte fest, dass «der Bereich der klägerischen Fotografie sich nicht monopolisieren lasse; das Motiv werde seit langer Zeit gewählt und dargestellt». Deswegen könne von statistischer Einmaligkeit keine Rede sein. Das Gericht führte dann weiter aus: «Bildausschnitt und Proportionen der klägerischen Fotografie sind nicht originell oder individuell; es handelt sich bei der klägerischen Fotografie um ein Bild, das – vor allem mit den heute vorhandenen technischen Hilfsmitteln – auch andere in gleicher oder zumindest sehr ähnlicher Weise zustande bringen können».[45] Die Tatsache, dass potenziell jedermann die besagte Fotografie gleich oder sehr ähnlich aufnehmen und deshalb nachahmen könnte, ist ein klares Argument dafür, ihr keinen Urheberrechtsschutz zu gewähren. Für den Urheberrechtschutz müsste die Fotografie so einmalig sein, dass eine Nachahmung ausser Frage steht oder aber eine Urheberrechtsverletzung darstellen würde.

21

Im Lichte des Dargelegten gilt es sich zu fragen, ob unter der neuen Bestimmung von Art. 2 Abs. 3bis URG die Nachahmung einer nicht-individuellen Fotografie gestattet oder verboten ist. Zwei mögliche Antworten sind bereits von der Lehre ausformuliert worden:

22

Auf einer Seite stellt Schütz fest, dass der neue Absatz eine neue Werkkategorie einführt, die wie übrige Werke zu schützen sei. Dabei nimmt er Rückgriff auf die klassische Abgrenzung zwischen dem Urheberrecht und den verwandten Schutzrechten (wie u.a. dem Lichtbildschutz): Nur die Gestaltung des neuen Schutzes als verwandtes Schutzrecht hätte es gestattet, nicht-individuelle Fotografien nachzuahmen.[46]

23

Die Gegenposition vertritt Oertli, für den Nachahmungen – «auch wenn Blickwinkel und Einstellungen identisch sind» – sicher und in jedem Fall erlaubt sind. Die Fussnote zu dieser Aussage verweist auf einen ursprünglichen Vorschlag der Arbeitsgruppe zum Urheberrecht AGUR12-II für den Wortlaut der neuen Bestimmung. Im zweiten Satz sah dieser Vorschlag explizit vor: «Nachahmungen solcher Fotografien und Erzeugnisse sind erlaubt». Bei genauer Betrachtung war dieser Wortlaut allerdings für einen neuen Art. 34a URG bestimmt, welcher sich entsprechend der Systematik unter Titel 3 befindet, der den verwandten Schutzrechten gewidmet ist.[47] Dieser Weg führt offensichtlich nicht weiter: Die heutige Gesetzessystematik suggeriert, dass Nachahmungen nicht gestattet sind. Die historische Auslegung spricht hingegen für eine Nachahmungserlaubnis. Da die Systematik des ursprünglichen Vorschlags eine andere gewesen wäre, bekräftigt diese Auslegung aber auch die heutige Annahme, dass Nachahmungen nicht-individueller Fotografien verboten sind.

24

Art. 10 Abs. 1 URG regelt das allgemeine, ausschliessliche Recht des Urhebers zu bestimmen, wann und wie sein Werk verwendet wird.[48] Ob das Werk in unveränderter oder leicht geänderter Form benutzt wird, macht keinen Unterschied. Eine Verwendung liegt bereits vor, wenn die wichtigen, individuellen Züge des Werkes benutzt werden.[49] Art. 10 Abs. 2 URG listet in nicht abschliessender Weise mögliche Werkverwendungen auf. Bst. a legt das ausschliessliche Recht des Autors fest, Werkexemplare herzustellen (Vervielfältigungsrecht).[50] Als Werkexemplare gelten nicht nur solche Werke, die mit der Technik des «copy paste» hergestellt werden, sondern auch Nachahmungen, die ohne direkten Einbezug des Originalwerkes hergestellt werden (z.B. das Abmalen einer Fotografie oder eben die Aufnahme der gleichen Fotografie).[51]

25

Wie bereits oben ausgeführt: Eine Kopie eines Werkes ohne Einbezug dieses Werkes herzustellen lässt sich zwar unter dem Urheberrecht verbieten, allerdings nicht unter Art. 5 lit. c UWG oder Art. 33 ff. URG. Die Aufnahme einer gleichen (oder ähnlichen) Fotografie zu einer individuellen, vorbestehenden Fotografie stellt eine unwahrscheinliche, aber dennoch mögliche Urheberrechtsverletzung dar. Die Frage ist, ob dies auch für nicht-individuellen Fotografien gilt, nun, da sie «als Werke gelten».

26

Angesichts der Menge an Bildern und der umfangreichen Palette an Subjekten, die wir täglich aufnehmen, würde ein ausschliessliches Recht auf nicht-individuelle Fotografien höchstwahrscheinlich sehr rasch eine Monopolisierung von Teilen der Realität verursachen.[52] Denn trotz Gesetzessystematik und -wortlaut müssen Art. 10 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 2 lit. a URG für den Bereich nicht-individueller Fotografien restriktiv ausgelegt werden.

27

Derart ausgelegt ist der neue Absatz materiell dem Lauterkeitsrecht nach UWG und den verwandten Schutzrechten näher als dem Urheberrecht im herkömmlichen Sinne.[53]

IV. Das Gegenteil des Urheberrechts?

28

Wie bereits erwähnt wurde die neue Bestimmung von verschiedenen Kommentatoren als Fremdkörper im Gefüge des Urheberrechts beschrieben. Die Tatsache, dass das URG neu nicht-individuelle Fotografien Werken gleichsetzt, ist als gesetzgeberischer Nonsens rezipiert. Da bisher das schweizerische Urheberrecht einen Urheberrechtsschutz nur individuellen Werken gewährt hatte,[54] wirft ein Urheberrechtsschutz für nicht-individuelle Werke tatsächlich einige Fragen auf.

29

Angesichts der Empörung könnte man die Behauptung aufstellen, dass der individuelle Charakter eine unantastbare Eigenschaft des schweizerischen Urheberrechts darstellt, eine conditio sine qua non, mit welcher das Urheberrecht steht oder fällt. In der Folge setze ich mich mit diesen Kritiken auseinander.

1. Von der «originalité marquée» zu der «originalité simple»

30

Obwohl die Voraussetzung eines bestimmten Grades an Individualität (oder Originalität) ein typisches Merkmal des kontinentaleuropäischen Urheberrechtsschutzes ist,[55] schützen die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen gleichzeitig auch die sog. kleine Münze.[56] Kleine Münzen, so wie es der Name nahelegt, sind Werke, die durch einen geringen Grad an Individualität gekennzeichnet sind.[57]

31

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts enthält viele Beispiele, welche die Herabsetzung der Anforderungen an den individuellen Charakter illustrieren. In BGE 100 II 167 wurde etabliert, dass Architekten kein besonders originelles Werk produzieren müssen, um Urheberrechtsschutz zu erlangen, sondern ein geringer Grad an Individualität bereits reicht. Um diesen Unterschied zu bemerken, kreierten die BundesrichterInnen die Konzepte der «originalité simple» und der «originalité marquée».[58] In BGE 117 II 466 wurde der individuelle Charakter eines Bauwerkes trotz des Bestehens einer «praktisch gleichen Konstruktion» in Solothurn bejaht.[59] In einem anderen Entscheid gewährte das Bundesgericht einem Zeitungsartikel über «Ereignisse, über welche jedermann hätte berichten können», Werkqualität; eine Tatsache, die den Gestaltungsspielraum des Autors eingrenzte.[60]

32

In der Pressefotografie geht es auch darum, Realität abzubilden. Ein Beispiel dafür ist das bereits erwähnte Portrait von Christoph Meili, welches ihn in der brisanten Zeit der Bekanntgabe der geheimen Dokumente portraitiert. Über das Ereignis hätte tatsächlich jedermann Bericht erstatten können. Die Möglichkeit einer Herabsetzung des Individualitätsgrades wurde im Entscheid aber nicht erwähnt. Dass die Fotografin Gisela Blau sogar auf ihrer Leistung beharrte, «zur richtigen Zeit am richtigen Ort» gewesen zu sein und die Wichtigkeit des Meilis für seine Zeit anerkannt zu haben,[61] wurde vom Bundesgericht nicht berücksichtigt. Ganz im Gegenteil: Diese Argumentation wurde später als prozessualer Fehler eingestuft.[62]

33

Die Herabsetzung des Individualitätsgrades in ganz bestimmten Fällen und für bestimmte Werkkategorien wurde sowohl kritisiert[63] als auch gelobt.[64] Zweifellos ist sie eine wichtige Säule der Rechtsprechungspraxis des Bundesgerichts zu Art. 2 Abs. 1 URG geworden.[65]

34

Angesichts dieser etablierten Praxis scheint die Beschreibung der neuen Bestimmung als «Fremdkörper» übertrieben. Der neue Abs. 3bis scheint vielmehr die Fortsetzung eines bereits in Gang gesetzten Trends zu sein, wenn auch «auf der anderen Seite», wo die Voraussetzung des individuellen Charakters explizit weggelassen wurde. Eine präzise Linie zwischen individuell und nicht-individuell zu zeichnen hat sich in der Rechtspraxis als sehr schwierig erwiesen. Dieselbe Linie zwischen der «kleinen Münze» (oder in den Worten des Bundesgerichts, «originalité simple»[66]) und der nicht-individuellen Fotografie zu zeichnen, ist aber praktisch unmöglich.[67]

35

So betrachtet scheint der «Systembruch» vielmehr semantischer (indem der individuelle Charakter einfach vom Wortlaut gestrichen wurde) als materieller (im Sinne eines radikal ausgeweiteten – sogar willkürlichen – Urheberrechtsschutzes) Natur zu sein.

2. Der individuelle Charakter oder wie man einen Mythos pflegt

36

Auf das Inkrafttreten von Art. 2 Abs. 3bis URG wurde im Kreis der Urheberrechtler mit reichlich Irritierung reagiert. Sinngemäss wird damit am individuellen Charakter festgehalten, um darzulegen, dass diese neue Bestimmung eine gefährliche Ausweitung des Urheberrechtsschutzes mit sich bringt. Diese Darstellung des Urheberrechts ist aber bloss diskursiv, da gleichzeitig plädiert wird, dass der Schutz für Fotografien als ein nicht-exklusiver Schutz ausgestaltet werden sollte, sodass auch die nur gering individuelle Fotografie geschützt werden könnte.[68] Damit wird aber der individuelle Charakter faktisch zum leeren Mythos erhoben, welcher bereits bloss durch seine Nennung die Wirkung des Urheberrechtsschutzes entfaltet.

37

Die Absicht, die Arbeit von BerufsfotografInnen schützen zu wollen, ist an sich legitim, insbesondere angesichts des ungenügenden Schutzes gegen den unlauteren Wettbewerb. Sehr Ähnliches wird aber auch mit der Ausweitung des Urheberrechtsschutzes auf alle geistigen Schöpfungen mit einem minimalen Grad an individuellem Charakter verfolgt. Der Unterschied liegt darin, dass im zweiten Fall ein individueller Charakter behauptet wird, obschon das angebliche Werk «von jedermann realisiert werden konnte» und gar nicht einmalig ist. Und im ersten Fall verursacht das Fehlen des individuellen Charakters erhebliche praktische Auslegungsprobleme. Angesichts des Risikos der «Realitätsmonopolisierung» mit einem eventuellen Nachahmungsverbot für nicht-individuelle Fotografien müssen die Rechte, welche das Urheberrechtsmonopol gewährt, angepasst (sprich: in ihrer Zahl oder ihrem Schutzumfang herabgesetzt) werden. Die Einschränkung der Urheberrechte lässt das URG jedoch, um die Praktikabilität des URG beizubehalten, zu einem UWG-ähnlichen Rechtsinstrument werden.

38

Es scheint daher, dass das Urheberrecht mit dem Kriterium des individuellen Charakters steht und fällt, ganz gleich, ob das Kriterium rigoros (und deswegen exklusiv) angewandt wird oder  nur behauptet wird.


Fussnoten:

  1. * MLaw, Doktorandin, Zürich. Die Autorin dankt Valerie-Sophie Bühlmann, BLaw und Dana Mareckova, MLaw für die gründliche Durchsicht der Arbeit.

  2. R. Bähler, Jenseits von Walter Benjamin und Bob Marley, medialex 2012, S. 196; G. Hug, Bob Marley vs Christoph Meili: ein Schnappschuss, sic! 2005, S. 57. In diesem Text, BGE 130 III 168 ff. ist einfach «Marley» genannt und BGE 130 III 714 ff. «Meili».

  3. Die Fotografie wurde in BGE 130 III 168 ff. E. 4.5 als «Sorgenkind» des Urheberrechts bezeichnet.

  4. C. Schütz, «Hayek-Urteil» des Handelsgerichts Aargau vom 29. August 2012, sic! 2013, 329.

  5. «Nicolas Hayek», Handelsgericht Aargau vom 29. August 2012 in sic! 2013, 347.

  6. R. Oertli, Neues Urheberrecht für Fotografien, sic! 2020, 600, spricht über überbelichtete Fotografien, Fotografien von Leuten mit geschnittenen Köpfen oder Füssen, usw.

  7. W. Egloff, Neues im neuen URG, Anwaltsrevue 2020, 275.

  8. Beide Kritiken von F. Schmidt-Gabain, Die Schweiz braucht keinen irrlichternden Lichtbildschutz, NZZ Nr. 26 01.02.2018, 8.

  9. W. Egloff, in: Egloff Willi/Barrelet Denis (Hrsg.), Das neue Urheberrecht. Kommentar zum Bundesgesetz über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte, 4. Aufl., Bern 2020, URG 2 N 2.

  10. Y. Benhamou, in: Mosimann Peter/Renold Marc-André/Raschèr Andrea, Kunst Kultur Recht, 2. Aufl., Basel 2020, § 1 N 175.

  11. C. Schütz, Fotografie und Urheberrecht: Ein Sorgenkind im Wettstreit der Therapeuten, sic! 2006, 372.

  12. P. Mosimann /Y. Hostettler, Zur Revision des Urheberrechtsgesetzes, recht 2018, 129.

  13. P. Mosimann, Die nicht-individuelle Fotografie, in: Mosimann Peter (ed.), Das revidierte Urheberrecht. Die wesentlichen Neuerungen – eine Standortbestimmung, 19, N 39.

  14. Oertli (Fn. 5), 599.

  15. Oertli (Fn. 5), 605.

  16. Schütz (Fn. 10), 372. C. Schütz, Schutz von Fotografien: Die Lex Egloff im Kreuzfeuer der Kritik, sic! 6/2021, 285 f., 292, erklärt, dass ein Lichtbildschutz nach deutschem Vorbild wohl vorzuziehen gewesen wäre.

  17. P. Mosimann /P. Herzog, Zur Fotografie als urheberrechtliches Werk – Bemerkungen zum Bundesgerichtsentscheid vom 5. September 2003, «Bob Marley», 707.

  18. C. Schütz, Der Lichtbildschutz beseitigt die Rechtsunsicherheit im Umgang mit Fotografien, medialex 2018 S. 48 ff., 49

  19. Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 19. Dezember 1986 (SR 241).

  20. Benhamou (Fn. 9), § 1 N 175.

  21. Oertli (Fn. 5), S. 605. Für eine detaillierte und kritische Analyse der Rechtsprechung zu Art. 5 lit. c UWG, siehe F. Thouvenin, Art. 5 lit. C UWG – reloaded, sic! 2018, 595 ff.

  22. Egloff (Fn. 6), 275; im Einzelnen Schütz (Fn. 15), 285 f.

  23. Schütz (Fn. 10), 368 ff., S. 369; Schmidt-Gabain (Fn. 7), 8.

  24. Mosimann /Hostettler (Fn. 11), 126.

  25. AB N 2018, 2188.

  26. Egloff (Fn. 8), URG 2 N 35.

  27. Egloff (Fn. 6), 275.

  28. Schütz (Fn. 17), 48 ff.; und auch BBl 2018, 621.

  29. Zum Beispiel S. Sykora, «Lichtbildschutz reloaded»: Der «Schutz der nicht individuellen Fotografie» im neuen Entwurf für die Modernisierung des Schweizer Urheberrechts, KUR 2/2018, 54 f.; Oertli (Fn. 5), 601.

  30. In BGE 130 III 714 ff.; für eine Kritik der Verwendung von «banal» für die Beschreibung nicht-individueller Fotografien, siehe: Mosimann /Herzog (Fn. 16), 707.

  31. Egloff (Fn. 8), URG 2 N 38.

  32. Egloff (Fn. 8), URG 3 N 6.

  33. D. Barrelet/W. Egloff, in: Egloff Willi/Barrelet Denis (Hrsg.), Das neue Urheberrecht. Kommentar zum Bundesgesetz über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte, 4. Aufl., Bern 2020, URG 11 N 13.

  34. Egloff (Fn. 8), URG 2 N 38, Barrelet/Egloff (Fn. 32), URG 11 N 20; Oertli (Fn. 5), 604.

  35. Oertli (Fn. 5), 603.

  36. Dieser Wortlaut z.B. in BGE 113 II 196 ff. E. I.2.

  37. BGE 130 III 168 ff. E. 4.4.

  38. BBl 2018 591, S. 620.

  39. Die Individualität von Computerprogrammen ist auch eine Art «sui generis» Individualität (vgl. Fn. 51). Trotzdem ist es möglich, eine Bearbeitung davon zu machen. Entscheidend ist die sog. Abstandslehre, mit welcher bestimmt wird, ob das benutzte Programm noch erkennbar oder verblasst ist: R. M. Hilty, Der Schutz von Computerprogrammen — nationale und internationale Normen auf dem Prüfstand des Internets, sic! 1997, 131.

  40. Mosimann (Fn. 12), 15, N 32; Schütz (Fn. 15), 291 f., im Ergebnis mit Mosimann einverstanden, nicht aber mit dessen Argumentation.

  41. Thouvenin (Fn. 20), 596.

  42. E. Pahud, Zur Kritik an der Umwegtheorie, sic! 2004, 806.

  43. R. H. Weber/L. Chrobak, in: Heizmann Reto/Loacker Leander D. (Hrsg.), UWG Kommentar, Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Zürich/St. Gallen 2018, UWG Art. 5 lit. c N 1.

  44. Macciacchini Sandro, Konflikt? Welcher Konflikt?, medialex 2002, 167.

  45. ZK.2015.9 Appellationsgericht Basel-Stadt vom 20. Mai 2016, E. 2.3.

  46. S. Von Gunten, Interview mit Schütz Christoph: «Kein Scherz – Das neue Urheberrecht» <www.vfg.ch/kein-scherz-das-neue-urheberrecht/> (Februar 2021).

  47. Oertli (Fn. 5), 603 dorthin Fn. 33.

  48. M. Rehbinder /A. Viganò, Orell Füssli Kommentar zum Urheberrechtsgesetz, 3. Aufl., Zürich 2008, URG 10 N 1.

  49. Rehbinder/Viganò (Fn. 46), URG 10 N 1; Barrelet/Egloff (Fn. 32), URG 10 N 1.

  50. Rehbinder/Viganò (Fn. 46), URG 10 N 7.

  51. Ein «Schweizer Beispiel» einer Nachahmung im Bereich der Fotografie ist Peter Tillessens «Ofenpass» (2012). Der Fotograf nahm dieselbe Landschaftsfotografie wie die von Andreas Gurskys «Ofenpass» (1994) auf, indem er mit demselben Licht, Distanz und Anordnung arbeitete, siehe: <www.centrephotogeneve.ch/en/expo/peter-tillessen/>. Die Zulässigkeit von Tillessens Fotografie hängt von zwei rechtlichen Überlegungen ab: Erstens, ob Gurskys Fotografie als fotografisches Werk nach Art. 2 Abs. 2 Bst. g URG oder eher als nicht-individuelle Fotografie einzustufen ist. Für den zweiten Fall gilt es sich zweitens zu fragen, ob die Nachahmung einer nicht-individuellen Fotografie gestattet ist oder nicht.

  52. Siehe vorne III.2., Entscheid ZK.2015.9 Appellationsgericht Basel-Stadt vom 20. Mai 2016,

  53. Kritisch Schütz (Fn. 15), 289; S. Beutler/R. M. Stutz, Copyright v. droit d’auteur, recht 1998, 3, beschreiben tatsächlich Common Law Urheberrechtssysteme als einen Ausgleich für das Fehlen eines Wettbewerbsrechtsgesetzes. Gem. I. Cherpillod, in: Müller Barbara K./Oertli Reinhard (Hrsg.), Stämpflis Handkommentar URG, 2. Aufl., Bern 2012, URG 2 N 9, die Voraussetzung der geistigen Schöpfung von Art. 2 Abs. 1 URG, die ebenfalls für Art. 2 Abs. 3bis URG gilt, erfordert einen bestimmten Grad von Neuigkeit. Das könnte allenfalls als Hilfsmittel beigezogen werden, um anderen zu verbieten, die exakt gleiche Fotografie aufzunehmen.

  54. Egloff (Fn. 8), URG 2 N 31 f., beschreibt den Schutz von Computerprogrammen nach Art. 2 Abs. 3 URG, ebenfalls als fehl am Platze im Urheberrecht. Wenn man die Systematik des Gesetzes anschaut, sollten Computerprogrammen einen individuellen Charakter haben. Allerdings ist ein gelungenes Computerprogramm kein besonders raffiniertes oder verschnörkeltes, sondern ein neues, genial einfaches und leistungsfähiges. Diese Neuheit soll bereits demonstrieren, dass das Computerprogramm individuell ist. Siehe auch: OGer ZH, sic! 2013, 697 ff. E. 5, «Bildungssoftware», wo die Individualität des Computerprogrammes vermutet wird. In seiner Anmerkung auf S. 705 ff., führt R. M. Hilty aus, dass es im Urheberrecht jeder Grundlage entbehrt, den individuellen Charakter zu vermuten.

  55. Beutler/Stutz (Fn. 50), 3.

  56. Beutler/Stutz (Fn. 50), 3; G. Hansen, Warum Urheberrecht?: Die Rechtfertigung des Urheberrechtes unter besonderer Berücksichtigung des Nutzerschutzes, Baden-Baden 2009, 46 f., diagnostiziert in der Erosion der Schutzrechtsgrenzen und in der Aufnahme des Urheberrechtsschutzes für Computerprogrammen eine der Ursachen für die «gegenwärtige Legitimationskrise des Urheberrechts».

  57. Rehbinder/Viganò (Fn. 46), URG 2 N 7.

  58. BGE 100 II 167 ff. E. 7.

  59. BGE 117 II 466 ff. E. 2.

  60. BGer, JdT 1996 I 242 ff. E. 2, «Zeitungsartikel», aber auch in: «Love», OGer ZH, sic! 2010, 889 ff. E.1.1, wo Indianas zeitgenössisches Kunstwerk die Werkqualität zugesprochen wurde. Es wurde argumentiert, dass «die Natur eines Werkes unter Umständen nur wenig Platz für eine persönliche Auswahl an Gestaltungsmöglichkeiten lässt».

  61. BGE 130 III 714 ff. E. 2.2.

  62. Mosimann/Hostettler (Fn. 11), 126.

  63. Senn Mischa, Die urheberrechtliche Individualität – eine methodische Annäherung, sic! 2017, 524. R. M. Hilty, Anmerkung zum Urteil vom 19. August 2002 (Hobby Kalender), in sic! 2003, 29 f. Für was betrifft Hiltys Kritik, dass die Herabsetzung der Individualität zu einem unverhältnismässigen Urheberrecht führt, siehe a.M. Hug, (Fn. 1), 61 und Fn. 43 dorthin, wo erklärt wird, dass einer kleinen Individualität ein kleiner Schutzumfang entspricht.

  64. Zum Beispiel P. Mosimann, Zur Fotografie als urheberrechtliches Werk – Bemerkungen zu BGer, sic! 2004, 705 ff., «Bob Marley», 707; Mosimann (Fn. 12), 27, N 56.

  65. Egloff (Fn. 8), URG 2 N 13; Cherpillod (Fn. 50), URG 2 N 17.

  66. BGE 100 II 167 ff. E. 7.

  67. Schon M. Kummer, Das urheberrechtlich schützbare Werk, Bern 1968, 166, sagte: «Noch niemand vermochte zu sagen, wo die sogenannte «kleine Münze» aufhört und das Silbergeld beginnt».

  68. Mosimann (Fn. 12), 27, N 56; Mosimann/Herzog (Fn. 16), 707.

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1 Kommentar

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  • Es ist erfreulich, dass der Schutz von nicht individuell gestalteten Fotografien im Gespräch bleibt.

    Zu präzisieren am Artikel gibt es aus meiner Sicht Folgendes:

    1. Der Schluss von Giulia Walter, dass Fotografien ohne individuellen Charakter auch geistige Schöpfungen sein und der Gattung «Literatur» oder «Kunst» zugeordnet werden können müssten, weil Art. 2 Abs. 3bis explizit nur das Erfordernis des individuellen Charakters streichen würde, ist eine Fehlinterpretation: Art. 2 Abs. 3bis ist eine Fiktion: «Fotografische Wiedergaben (…) gelten als Werke, auch wenn sie keinen individuellen Charakter haben.» Über die anderen Werkanforderungen wird eben gerade explizit nichts ausgesagt, entsprechend gelten diese fotografischen Wiedergaben einfach als Werke, ohne eine dieser drei Bedingungen erfüllen zu müssen.

    2. Giulia Walter ist der Ansicht, es sei ein Trugschluss, dass die neue Bestimmung mehr Rechtssicherheit geschaffen hätte, weil mit der Bedingung «Wiedergabe 3-dimensionaler Objekte» ein neues Kriterium mit potenzieller Rechtsunsicherheit geschaffen worden sei und der Schutz für nicht individuell gestaltete Fotografien bereits nach 50 Jahren ablaufe. Auf den ersten Blick und rein theoretisch betrachtet, ist das nicht falsch. Schaut man sich das jedoch quantitativ an, versickern diese angeblichen Probleme in der Bedeutungslosigkeit: Mir hat bis heute weder ein Fotograf noch ein Jurist eine fotografische Wiedergabe eines 1- oder 2-dimensionalen Objektes präsentieren können, und 50 Jahre Schutzdauer decken geschätzte 99% aller Verwendungen einer Fotografie ab. Der neue Artikel hat in der Praxis für die allermeisten Fälle von Bildnutzungen also sehr wohl Rechtssicherheit geschaffen.

    3. Es ist bedauerlich, dass Frau Walter bezüglich der Gültigkeit der Persönlichkeitsrechte von unter der neuen Bestimmung geschützten Fotografien dem unhaltbaren Standpunkt von Willi Egloff erneut eine Plattform bietet, wo sie doch selber ausführt, dass aufgrund des Textes in der Botschaft die Rechtslage klar ist: «Den Fotografinnen und Fotografen von Bildern, die keinen individuellen Charakter haben, stehen die gleichen Verwertungs- und Urheberpersönlichkeits-
    rechte zu wie allen anderen Urheberinnen und Urhebern.»

    4. Die spannendste Frage, die Giulia Walter aufgeworfen hat, ist jene der Nachahmungsfreiheit von unter Art. 2 Abs. 3bis geschützten Fotografien. Die Autorin kommt zum richtigen Schluss, dass die Nachahmung verboten sein muss. Weil dies widersinnig ist, da sie einem Motivschutz gleichkommen kann, wäre die Verankerung des neuen Artikel in den Nachbarrechten die richtige gewesen.

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