Medialex-Serie «Meine Diss»: Was AutorInnen heute über ihre Doktorarbeit von damals denken – Teil 5
Mirjam Teitler zu ihrer 2008 erschienenen Dissertation «Der rechtskräftig verurteilte Straftäter und seine Persönlichkeitsrechte im Spannungsfeld zwischen öffentlichem Informationsinteresse, Persönlichkeitsschutz und Kommerz»
Was hat Sie motiviert, eine Diss zu schreiben?
Als nicht sehr intellektueller Mensch stand das Verfassen einer Dissertation nicht unbedingt in meiner persönlichen Agenda. Am Ende meines Studiums wurde ich jedoch im wahrsten Sinne des Wortes vom «Schlag getroffen»: Ich erlitt einen Hirnschlag. Das Schicksal zwang mich so zu einem gewissen Innehalten. Unter diesen Umständen wäre es mir damals nicht möglich gewesen, in einer Kanzlei oder auch im nicht juristischen Bereich als Angestellte zu arbeiten. Ich hatte zwar keine kognitiven Probleme, aber meine Schmerzen und die Reha zwangen mich zu einer Tätigkeit, bei der ich den Takt selbst angeben durfte. Deshalb entschied ich mich, eine Dissertation zu schreiben und hatte zudem erstaunlicherweise grossen Spass daran.
Wovon handelte Ihre Doktorarbeit?
Meine Dissertation setzt sich mit dem Schutz und der Vermarktung von Biografien von Kriminellen nach dem rechtskräftigen Schuldspruch auseinander. Bis zum Urteil ist der Fall klar: Ausser es bestehen besondere Verhältnisse, gilt die Unschuldsvermutung und deshalb ist bei der Namensnennung von mutmasslichen Tätern grosse Zurückhaltung geboten.
Danach ist aber nicht klar, ob und wie lange über ein Verbrechen identifizierbar berichtet werden darf. Meine Dissertation setzt sich damit auseinander, ob überhaupt und wie lange nach der Tat namentlich über einen Täter berichtet werden darf.
Wie packten Sie damals die Doktorarbeit an?
Während des Studiums arbeitete ich in einer Kanzlei in München, die auch über eine grosse Medienrechtsabteilung verfügt. Bei dieser Arbeit kam ich mit dem Thema in Berührung. Als ich mich für eine Dissertation entschieden hatte, musste ich deshalb nicht lange nach einem Thema suchen. Es schien mir spannend und es war ausserdem noch wenig erforscht.
Ich habe die Materie für mich in folgende «Unterfälle» aufgeteilt: alltägliche Vergehen, Verbrechen von besonderer krimineller oder politischer Energie, Wiederholungstäter und bereits vor dem Urteil bekannte Personen des öffentlichen Lebens (wie heute z.B. Boris Becker). Dabei habe ich mir überlegt, was mir mein Rechtsempfinden bei diesen Untergruppen bezüglich identifizierbarer Berichterstattung sagt. Dann habe ich die nationale und internationale Rechtsprechung und Fachliteratur studiert und anhand meines Rechtsempfindens und der Recherche-Ergebnissen meine These gebildet.
Und wie lautete diese?
Meine These besagt, dass bei Straftaten, an denen ein öffentliches Interesse besteht, während einer Zeitspanne von ca. 10% der nach rechtskräftigem Urteil noch zu verbüssenden Strafe, identifizierbar über die Geschehnisse berichtet werden darf, wobei die Umstände des Einzelfalls stets beachtet werden müssen. Je länger das Urteil zurück liegt desto mehr überwiegen das Recht auf eine erfolgreiche Resozialisierung und die allgemeinen Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person.
Der EuGH hat in seinem Leitentscheid von 2014, sechs Jahre nach der Publikation meiner Dissertation das Thema «Recht auf Vergessen» in einer allgemeineren Weise – nicht auf Straftaten bezogen – konkretisiert. Privatpersonen wird seither das Recht eingeräumt, von Suchmaschinenbetreibern die Löschung von Links zu Webseiten Dritter zu verlangen, wenn diese Webseiten persönlichkeitsverletzende Inhalte enthalten.
Weiter ist mir aufgefallen, dass die schweizerischen Medien tendenziell zurückhaltender geworden sind bei der identifizierbaren Berichterstattung über Straftäter – auch nach einem rechtskräftigen Urteil. So haben beispielsweise viele Medien auch unmittelbar nach dem Urteil darauf verzichtet, den vierfachen Mörder von Rupperswil namentlich zu nennen, obschon es sich um eines der grausamsten Verbrechen der schweizerischen Kriminalgeschichte und somit Zeitgeschichte handelte und deshalb eine namentliche Berichterstattung nicht per se widerrechtlich gewesen wäre.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie heute in Ihrer Dissertation lesen?
Ich habe sie für diesen Beitrag seit langer Zeit wieder einmal aus dem Bücherregal hervorgeholt und finde, sie liest sich immer noch gut.
War Ihre Dissertation auch von Nutzen für die Rechtspraxis?
Ich glaube nicht.
Was würden Sie anders machen, wenn Sie Ihre Diss nochmals schreiben würden?
Eigentlich nicht viel. Es war für mich eine schöne Erfahrung, die mich gesundheitlich und akademisch einen Schritt weitergebracht hat – und auch das Resultat lässt sich blicken.