Das Steuergeheimnis gilt nicht mehr absolut

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Das BVGer bejaht den Anspruch auf Einsicht in anonymisierte Entscheide der Eidg. Steuerverwaltung

Dominique Strebel, Jurist und Studienleiter an der Schweizer Journalistenschule MAZ

Résumé: Pour la première fois, le Tribunal administratif fédéral (TAF) a relativisé la valeur absolue du secret fiscal en regard du principe de la publicité de la justice (art. 3 al. 3 Constitution fédérale) en acceptant une demande de consultation de décisions de l’Administration fédérale des contributions (AFC). Toutefois, contrairement à la pratique du Tribunal fédéral concernant les sanctions décidées par d’autres organes de l’administration et les ordonnances pénales, il a autorisé cette consultation uniquement pour des décisions anonymisées. L’auteur recommande aux journalistes de formuler leurs demandes de façon très précise, car la possibilité que l’AFC prélève une taxe n’est pas exclu. L’AFC prévoit de donner accès, dans un de ses bureaux, à ses décisions entrées en force, sur demande et sous forme anonyme, à partir de novembre 2020.

Zusammenfassung: Das Bundesverwaltungsgericht relativiert im Urteil A-1878/2018 erstmals die absolute Geltung des Steuergeheimnisses unter dem Gebot der Justizöffentlichkeit, indem es einen Anspruch auf Einsicht in Entscheide der Eidg. Steuerverwaltung (EStV) bejaht. Damit behandelt das Bundesverwaltungsgericht Strafbescheide der ESTV abweichend von der Praxis des Bundesgerichts zu Strafbescheiden anderer Verwaltungsbehörden oder zu Strafbefehlen von Staatsanwaltschaften. Medienschaffenden empfiehlt der Autor, ihre Gesuche zielgenau zu formulieren, da das BVGer nicht beanstandet hat, dass die EStV für das Zusammenstellen von Entscheiden Kosten auferlegt hat. Die ESTV plant, die rechtskräftigen, anonymisierten Entscheide ab November 2020 vor Ort öffentlich aufzulegen.

Urteil BVGer A-1878_2018- Aebi c. EStV

Anmerkungen: 

1

Dieser Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts ist grundsätzlich zu begrüssen. Er bejaht einen Anspruch auf Einsicht in anonymisierte Strafbescheide der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV), verneint ihn aber für nicht anonymisierte Entscheide (E. 4.9). Damit behandelt das Bundesverwaltungsgericht Strafbescheide der ESTV abweichend von der Praxis des Bundesgerichts zu Strafbescheiden anderer Verwaltungsbehörden oder zu Strafbefehlen von Staatsanwaltschaften. Dort gilt gemäss Bundesgericht grundsätzlich ein Anspruch auf Einsicht in nicht anonymisierte Entscheide (vgl. BGE 124 IV 234, E.3e); eine Anonymisierung ist der Ausnahmefall. Dieser Unterschied ergibt sich gemäss Bundesverwaltungsgericht aus dem Steuergeheimnis.

2

Das Bundesverwaltungsgericht spricht dem Steuergeheimnis zwar einen hohen Stellenwert zu, weil es gesetzlich verankert ist und wichtige Ziele verfolgt (E. 4.7). Es betont aber, dass das Steuergeheimnis der Gerichtsöffentlichkeit gemäss Art. 30 Abs. 3 BV nicht grundsätzlich entgegen stehe. Deshalb sei «im Einzelfall eine Interessenabwägung zwischen dem Interesse an Transparenz und dem Interesse am Schutz der finanziellen Privatsphäre vorzunehmen ist.» (E. 4.8). Es nimmt diese Abwägung in Bezug auf das konkrete Gesuch des Journalisten jedoch nicht vor, sondern bejaht ohne Einzelfallprüfung nur den Zugang zu den anonymisierten Strafbescheiden.

3

Unklar bleibt, ob im Einzelfall auch ein Anspruch auf Zugang zu nicht anonymisierten Strafbefehlen bestehen kann. Der Journalist hatte verlangt, in sämtliche in den Monaten Oktober, November und Dezember 2017 ausgestellten rechtskräftigen Strafbescheide aus den Bereichen Mehrwert- und Verrechnungssteuer Einsicht zu nehmen (unter Ausschluss der Strafbescheide nach Art. 98 Bst. b MWSTG und Art. 62-64 VStG) und zwar in nicht anonymisierter Form.

4

Werden entsprechende Strafbescheide der ESTV anonymisiert, so müssen gemäss Bundesverwaltungsgericht «einzelne Angaben zu den finanziellen Verhältnissen der vom Strafbescheid Betroffenen entgegen der Vorinstanz nicht immer geschwärzt werden» (E. 4.9). Diese Formulierung ist meines Erachtens zu vorsichtig. Falls die Strafbescheide – wie vom Bundesverwaltungsgericht gewünscht – so anonymisiert werden, dass «die Identität der Verurteilten in jedem Fall geheim bleibt», sollten Angaben zu den finanziellen Verhältnissen nie geschwärzt werden, denn die finanzielle Privatsphäre ist schlicht nicht mehr tangiert.

5

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts dokumentiert einen Lernprozess der eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV): Die ESTV hat nach einer ersten ablehnenden Antwort realisiert, dass ihre Strafbescheide gemäss Art. 30 Abs. 3 BV öffentlich verkündet werden müssen. Im Laufe des Verfahrens vor Bundesverwaltungsgerichts hat die Steuerverwaltung deshalb angekündigt, dass sie künftig alle Strafbescheide während 30 Tagen ab Rechtskraft anonymisiert für jedermann zur Einsicht auflegen werde, sofern das Bundesverwaltungsgericht urteile, dass nur anonymisierte Strafbescheide zugänglich gemacht werden müssen. Gemäss Auskunft der ESTV wird diese Einsichtsmöglichkeit ab November 2020 bei einer Geschäftsstelle auf Voranmeldung angeboten. Kopien oder Ausdrucke der Entscheide sollen kostenlos möglich sein.

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Aufgelegt werden sollten – obwohl im Entscheid nicht erwähnt – nicht nur Strafbescheide (Art. 64 Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht, VStrR), sondern auch Strafverfügungen (Art. 70 VStrR) der ESTV. Strafverfügungen werden vom Bundesgericht erstinstanzlichen Urteilen gleich gestellt (BGE 133 IV 112 E. 9.4.4) und fallen deshalb genauso unter Art.30 Abs. 3 BV wie Strafbescheide (die mit Strafbefehlen vergleichbar sind).

7

Den Lernprozess der ESTV hat ein Journalist erwirkt, der seinerseits einen Lernprozess durchgemacht hat. Sein erstes Gesuch um Einsicht in die Strafbescheide der ESTV stützte er auf das Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (BGÖ) und erhielt Unterstützung vom Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB), der in seiner Empfehlung vom 30. Januar 2018 eine Offenlegungspflicht gestützt auf das BGÖ bejahte und sich mit keinem Wort mit dem verfassungsmässigen Gebot der Justizöffentlichkeit auseinandersetzte. Auch der EDÖB wird nun zur Kenntnis nehmen müssen: Strafbescheide der Verwaltung unterliegen dem verfassungsmässigen Gebot der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV).

8

Dass diese drei Lernprozesse erst jetzt geschehen, ist erstaunlich. Der einschlägige Leitentscheid des Bundesgerichts ist mehr als 20 Jahre alt (BGE 124 IV 234). Andere Verwaltungsbehörden des Bundes wie etwa die Swissmedic haben den Leitentscheid des Bundesgerichts bereits vor Jahren umgesetzt, verschicken einen Newsletter mit den kürzlich ergangenen Strafbescheiden und Strafverfügungen an interessierte Journalist/innen und stellen die Entscheide auf Gesuch hin unkompliziert als PDF per Mail zu.

9

Gemäss Bundesverwaltungsgericht dürfen dem Gesuchsteller fürs Zusammenstellen von Entscheiden Kosten auferlegt werden, weil Art. 1 Abs. 1 Bst. a der Verordnung über Gebühren für Verfügungen und Dienstleistungen der ESTV eine Gebührenpflicht für Dienstleistungen vorsieht. Art. 3 Abs. 2 Bst. a AllgGebV verlangt zwar eine Interessenabwägung, wenn die Gebühren festgesetzt werden und dabei ist gemäss Bundesverwaltungsgericht «zu berücksichtigen, dass die Medien zur seriösen Meinungsbildung und zur Kontrolle behördlicher Tätigkeiten regelmässig auf Zugang zu amtlichen Dokumenten angewiesen sind und die Kumulation von (für sich allein bescheidenen) Gebühren sich als tatsächliche Zugangsbeschränkung auswirken könnte.» (E. 5.6). Aber diese Bestimmung sei als Kann-Vorschrift formuliert und räume keinen Anspruch auf Gebührenbefreiung ein, auch wenn das Vorliegen eines öffentlichen Interesses grundsätzlich zu bejahen sei (E. 5.7).

10

Es ist gemäss Bundesverwaltungsgericht somit nicht zu beanstanden, dass Medienschaffenden Gebühren für die Zusammenstellung von Strafbescheiden auferlegt werden. Wie tief diese sein müssen, hat das Gericht nicht entschieden, da eine konkrete Gebühr von der ESTV noch nicht in Rechnung gestellt wurde. Das Bundesverwaltungsgericht verweist darauf, dass der Gesuchsteller gegen eine Gebühr wiederum den Rechtsweg beschreiten kann, wenn sie konkret verfügt ist. Eine wichtige Frage hat das Bundesverwaltungsgericht somit (noch) nicht entschieden.

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Journalist/innen tun gut daran, ihre Gesuche möglichst zielgenau zu formulieren und nur so viele Entscheide wie nötig zusammenstellen zu lassen. Immerhin hat die ESTV angekündigt, dass die geplante Auflage von Strafbescheiden vor Ort kostenlos sein wird. Damit entschärft sich die Problematik und wird nur relevant, wenn Journalist/innen in weiter zurückliegende Entscheide Einsicht nehmen möchten.

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