Analyse des Spannungsfeldes zwischen Medienfreiheit und richterlichen Auflagen gemäss Art. 70 StPO
Simon Jakob, Rechtsanwalt, M.A. HSG in Law & Economics, Senior Legal Counsel «Neue Zürcher Zeitung»
1. Einleitung
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Das Bundesgericht hat mehrfach die Bedeutung der Medien als eine Art Vermittler zwischen der Justiz und der Bevölkerung, respektive zwischen dem Staat und der Öffentlichkeit, hervorgehoben (exemplarisch BGE 137 I 16, E. 2.2; BGE 141 I 211, E. 3.1). Die Rolle von Gerichtsberichterstattenden in der modernen Medienlandschaft ist sowohl herausfordernd als auch entscheidend für die Aufrechterhaltung der Transparenz und des öffentlichen Vertrauens in das Rechtssystem. Während Medienschaffende sich bemühen, Licht in die oft komplexen Abläufe der Justiz zu bringen, sehen sie sich regelmässig und immer häufiger mit richterlichen Auflagen konfrontiert, die ihre Berichterstattung erschweren. Diese Auflagen, insbesondere jene, die der Verhinderung der Identifizierung von Verfahrensbeteiligten dienen sollen, navigieren im schwierigen Gewässer zwischen dem Schutz der Privatsphäre von Verfahrensbeteiligten und dem Recht der Öffentlichkeit auf Information. Dies hat sich jüngst in einem Straffall gezeigt, bei dem es um sexuelle Handlungen mit Kindern ging. Das Bezirksgericht Zürich hatte auf Begehren des Beschuldigten hin den Medienschaffenden verboten, dessen Zugehörigkeit zur (ultra-)orthodoxen jüdischen Gemeinde Zürichs zu nennen. Dieses Verbot hob das Zürcher Obergericht später auf (siehe die Besprechung dieses Entscheides im Beitrag «
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Thomas Hasler, langjähriger Gerichtsreporter des «Tages-Anzeigers», hat sich bereits 2020 im Medialex-Beitrag «Schlichte Unkenntnis oder magistrale Ignoranz» (medialex 2/2020) mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Seine Analyse von fast hundert richterlichen Entscheidungen zur Auslegung und Anwendung von Art. 70 StPO deckte eine besorgniserregende Tendenz auf: Oft wird der Grundsatz, eine Güterabwägung vornehmen zu müssen, sowie der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, der eine Einschränkung der Pressefreiheit rechtfertigen könnte, missachtet.
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Vor diesem Hintergrund stellt der vorliegende Aufsatz die Frage in den Raum: Inwieweit können beschuldigte Personen selbst Anträge auf Ausschluss der Öffentlichkeit oder auf spezifische Auflagen in Gerichtsverfahren stellen? Diese Frage ist deshalb besonders brisant, weil die Regelungen rund um die Verfahrensöffentlichkeit primär zum Schutz von Opfern konzipiert wurden, wie schon der Wortlaut von Art. 70 Abs. 1 lit. a StPO zeigt. Dass auch Beschuldigte in der Lage sein sollen, solche Anträge zu stellen, scheint im Widerspruch zum ursprünglichen Zweck dieser Regelungen zu stehen. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit dieser Diskrepanz und untersuchen die rechtlichen Implikationen, die sich daraus für die Justizpraxis und die Rolle der Medien in der Berichterstattung über Gerichtsverfahren ergeben.
2. Rechtlicher Rahmen
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Laut Art. 69 Abs. 1 StPO sind Verhandlungen vor dem erstinstanzlichen Gericht und dem Berufungsgericht sowie die mündliche Eröffnung von Urteilen und Beschlüssen dieser Gerichte öffentlich. Hingegen sieht der Gesetzgeber vor, dass ein Gericht die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen ganz oder teilweise ausschliessen kann, wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder schutzwürdige Interessen einer beteiligten Person, insbesondere des Opfers, dies erfordern (Art. 70 Abs. 1 lit. a StPO). Das Gericht darf aber gemäss Art. 70 Abs. 3 StPO Medienschaffenden und weiteren Personen, die ein berechtigtes Interesse haben, unter bestimmten Auflagen den Zutritt zu Verhandlungen gestatten, die nach Abs. 1 nicht öffentlich sind.
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Art. 70 StPO legt die materiellen Bedingungen für einen teilweisen oder vollständigen Ausschluss der Publikums- und Medienöffentlichkeit, also der direkten und indirekten Öffentlichkeit, fest. In der praktischen Anwendung müssen diese Regelungen mit den Vorgaben der Grundrechte übereinstimmen. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, dass nur die in Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II genannten Gründe einen Ausschluss der Öffentlichkeit rechtfertigen können (vgl. BGE 143 I 194 E.3.1.). Die Entscheidung des Gerichts, die Öffentlichkeit von einer Verhandlung auszuschliessen, kann von den Prozessparteien gemeinsam mit dem abschliessenden Urteil angefochten werden. Sollte jedoch ein unumkehrbarer Schaden im Hinblick auf den Schutz der Persönlichkeit durch den Beschluss zum (Nicht-)Ausschluss drohen, ist es möglich, diesen Zwischenentscheid gesondert zu beanstanden. Für dritte Parteien, insbesondere für Medienschaffende, gilt die gerichtliche Anordnung ihres Ausschlusses von der Verhandlung als ein eigenständig anfechtbarer Endentscheid (so Brüschweiler/Nadig/Schneebeli, Art. 70 StPO, N 19 wie auch zahlreiche andere Autoren; vgl. auch den jüngsten Beschluss des Zürcher Obergerichts vom 9. Januar 2024, besprochen im Beitrag «Tatumfeld und Hintergründe sind für die Gerichtsberichterstattung essentiell», medialex 03/2024).
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Ein Ausschluss der Öffentlichkeit kann zum Schutz der am Verfahren beteiligten Personen verfügt werden. Zu diesen Personen zählen gemäss Art. 104 StPO die beschuldigten Personen, Privatkläger und die Staatsanwaltschaft in erstinstanzlichen und in Berufungsverfahren, sowie potenziell andere Behörden, die gemäss Gesetz vollständige oder teilweise Parteirechte innehaben. Des Weiteren sind laut Art. 105 StPO sogenannte weitere Verfahrensbeteiligte eingeschlossen, darunter Geschädigte und Opfer, Anzeigeerstattende, Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständige sowie Dritte, die durch Handlungen im Rahmen des Verfahrens beeinträchtigt sind. Das Hauptaugenmerk liegt aber auf den Interessen des Opfers. Ein Antrag des Opfers führt nicht automatisch zu einem Ausschluss der Öffentlichkeit. Das Gericht ist vielmehr dazu verpflichtet, eine Abwägung zwischen dem international und verfassungsrechtlich verankerten Prinzip der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen und den individuellen Interessen des Opfers, des Beschuldigten sowie der Allgemeinheit und der Medien vorzunehmen. Der Ausschluss der Öffentlichkeit aus dem Gerichtssaal muss verhältnismässig sein, also sowohl geeignet als auch notwendig, um den angestrebten Schutz zu gewährleisten. Ferner ist erforderlich, dass die Gründe für den Ausschluss der Öffentlichkeit in einem angemessenen Verhältnis zum öffentlichen Interesse an einer transparenten Gerichtsverhandlung stehen. Ein automatischer Ausschluss der Öffentlichkeit aufgrund eines Antrags des Opfers, ohne eine Abwägung der Interessen, ist daher nicht statthaft.
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Das Bundesgericht hat in seiner bedeutenden Entscheidung vom 22. Februar 2017 den Rahmen abgesteckt: Die Verweigerung des Zugangs für Medienschaffende kann insbesondere dann als gerechtfertigt betrachtet werden, wenn wichtige Anliegen des Schutzes von Kindern, Jugendlichen oder Opfern vorliegen, vor allem, wenn weniger eingreifende Beschränkungen sich als nicht zielführend herausstellen und während der Gerichtsverhandlung äusserst private Aspekte behandelt werden, deren Veröffentlichung für die betroffenen Personen extrem belastend und möglicherweise (re-)traumatisierend wirken könnte. Dies gilt vor allem für direkte Opfer schwerer Straftaten, insbesondere von Sexualdelikten, die in der Gerichtsverhandlung über den Vorfall und ihre persönlichen Verhältnisse befragt werden (BGE 143 I 194, E. 3.6.1).
3. Darf ein Beschuldigter Antrag stellen?
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Die beschuldigte Person kann zwar nach dem Wortlaut der StPO unter Berufung auf die persönlichen Freiheit (Art. 13 BV) einen Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit stellen, doch sind bei ihr wohl selten schutzwürdige Interessen ersichtlich, da jede Gerichtsverhandlung eine öffentliche Exposition und psychische Belastung mit sich bringt. Das Bundesgericht hat schon in einem Entscheid von 1993 klar gemacht, dass die Möglichkeit, von Delikten und einer entsprechenden Verurteilung Kenntnis zu nehmen, zum modernen Strafprozess, wie er unter dem Grundsatz der Öffentlichkeit geführt wird, gehört. Daher müssen gewisse Nachteile wie auch explizit negativen Einfluss auf «soziales Prestige» akzeptiert werden (BGE 119 Ia 99 E.4b). Besondere Gründe sind also notwendig, um auf dieser Basis die Öffentlichkeit auszuschliessen. Es ist jedenfalls nicht zulässig, bestimmte Personen zu schonen, nur weil sie beispielsweise aufgrund ihres hohen sozialen Ansehens als besonders empfindlich gelten. Als besonders schutzbedürftig werden laut bundesgerichtlicher Rechtsprechung beschuldigte Personen und Opfer angesehen, wenn sie unter erheblichen psychischen Problemen leiden und eine Verschlechterung ihres Zustandes durch die öffentliche Durchführung des Strafverfahrens droht (BGE 137 I 209 E. 4.9 ).
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In jüngster Zeit nehmen Anträge von Strafverteidigern auf Ausschluss der Öffentlichkeit gemäss Art. 70 StPO zu, mit denen die Interessen der Beschuldigten geschützt werden sollen. Doch bleibt die tatsächliche Anzahl solcher Anträge weitgehend im Dunkeln, denn Medienschaffende erfahren in der Regel nur von solchen Anträgen, wenn diese vom Gericht auch gutgeheissen werden.
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In der Justizlandschaft waltet ein Prinzip der Unvorhersehbarkeit in Bezug auf Art. 70 Abs. 1 lit. a StPO, wie Haslers Erörterungen aus dem Jahre 2020 beleuchten. Die Praxis der Gerichte ist vielfältig. Diese Fragmentierung erhöht das Risiko von Fehlentscheiden. Art. 70 StPO eröffnet theoretisch den Raum für richterliche Vorzensur – ein potentielles Machtinstrument, das in Konflikt mit der verfassungsmässigen Pressefreiheit und dem expliziten Zensurverbot steht. Die Vorstellung, dass ein Gericht temporär die Deutungshoheit über die mediale Darstellung eines Verfahrens erlangt, wirft Fragen nach der Gewaltenteilung und der Transparenz der Justiz auf. Noch mehr als beim Schutz von Opfern zeichnet sich eine problematische Grauzone ab, wenn Beschuldigte diese Mechanismen zu ihrem Vorteil nutzen können. Während der Schutz von Opfern, insbesondere in Fällen von Sexualdelikten, eine Rechtfertigung für gewisse Einschränkungen bieten kann, so erinnert die Möglichkeit eines umfassenden Medienausschlusses durch Anträge Beschuldigter an dunklere Zeiten der Justizgeschichte.
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Art. 70 StPO, der gemäss heutiger Lehre und Rechtsprechung eine Zensurbefugnis einräumt, scheint in direktem Widerspruch zur Bundesverfassung zu stehen, die Zensur verbietet (Art. 17 Abs. 2 BV). Diese Diskrepanz wird besonders brisant, wenn man bedenkt, dass Gerichte – zumindest temporär – die Macht haben könnten, die (narrative) Kontrolle über Gerichtsverfahren zu erlangen, was nicht im Sinne der Kontrollfunktion der Medien als vierte Gewalt ist.
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Man stelle sich vor, Pierin Vincenz hätte einen Antrag hätte einen Antrag auf nicht-identifizierende Berichterstattung gestellt und dieser wäre von einem Richter bewilligt worden. Ein Beispiel wie dieses illustriert die potenzielle Macht richterlicher Entscheidungen über die Pressefreiheit. Auch wenn es etwas überzeichnet sein mag, verdeutlicht das Beispiel das Ausmass der Einflussnahme, das Richtern bei der Zensur zukommen kann.
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Gerichtliche Auflagen sollten nicht auf die Art und Weise der Berichterstattung Einfluss nehmen, sondern primär auf den Schutz der Opfer bzw. von Verfahrensbeteiligten fokussieren, indem sie verhindern, dass diese vor einer breiten Öffentlichkeit erneut traumatisiert werden, oder sie von inneren oder äusseren Gefahren fernhalten. Statt Anweisungen zu erteilen, wie über das Verfahren berichtet werden soll, wären Regelungen wie der Teilausschluss der Öffentlichkeit bei Einvernahmen der Opfer oder Beschuldigter mit nachträglicher Zurverfügungstellung der Einvernahmeprotokolle effektiver. Solche Massnahmen böten einen direkteren Schutz und respektierten die Privatsphäre der Betroffenen, ohne die Berichterstattung übermässig einzuschränken.
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Das Vorliegen eines Schutzbedürfnisses des Beschuldigten ist die grundlegende Voraussetzung für den Ausschluss der Öffentlichkeit oder die Verfügung von Auflagen. Dieses Bedürfnis muss jedoch sehr eng definiert werden. Ein Schutzbedürfnis kann anerkannt werden, wenn die öffentliche Verhandlung unumkehrbare Schäden an der psychischen Gesundheit des Beschuldigten verursachen könnte oder wenn eine reale und unmittelbare Gefahr für das Leben des Beschuldigten oder seiner Familie besteht. Situationen, die lediglich zu einer negativen Reputation führen könnten, wie zum Beispiel die Kenntnisnahme durch den Arbeitgeber oder die Familie über das Verfahren, sind kein ausreichender Grund für einen Ausschluss. Solche negativen Auswirkungen sind von den Beschuldigten hinzunehmen.
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Lediglich in sehr speziellen Situationen sollten Beschuldigte Anträge auf Ausschluss der Öffentlichkeit gemäss Art. 70 StPO stellen können, z.B. wenn ein Beschuldigter Geschäftsgeheimnisse offenlegen müsste, die, wenn öffentlich gemacht, dem Unternehmen schweren Schaden zufügen könnten. Ebenso könnte ein Beschuldigter, der als Kronzeuge in einem gewalttätigen Drogenmilieu aussagt, einen solchen Antrag stellen, wenn durch die öffentliche Aussage sein Leben oder das seiner Familie gefährdet würde. Ein weiteres Beispiel wäre ein Beschuldigter, der aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens als labil eingestuft wird und bei dem ernsthafte Befürchtungen eines Selbstmordes bestehen, sollte keine gerichtlichen Auflagen zum Schutz seiner Privatsphäre erteilt werden.
4. Verfassungsrechtliche Dimension
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In der Debatte um Art. 70 StPO stossen wir auf eine verfassungsrechtliche Dimension, bei der die persönliche Freiheit von Opfern oder Beschuldigten einerseits und die Medienfreiheit sowie das Zensurverbot einander gegenüberstehen. Gerichtliche Auflagen tangieren nebst der allgemeinen Medienfreiheit auch die Zensurfrage.
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Zensur wird üblicherweise als der Prozess der Kontrolle von Kommunikation durch staatliche Stellen definiert. Unter Vorzensur versteht man die Prüfung von Inhalten vor ihrer Veröffentlichung, während Nachzensur die Überprüfung nach der Veröffentlichung, also eine repressive Kontrolle, darstellt. Beide Formen der Zensur können entweder in spezifischen Einzelfällen oder auf systematische Weise angewandt werden. Art. 17 Abs. 2 BV etabliert ein explizites Zensurverbot für Medien, die unter Abs. 1 fallen. Jegliche Massnahmen, die als Zensur verstanden werden, sind somit untersagt, weil das Verbot der Zensur zum Kerngehalt des Art. 17 BV gehört (vgl. BSK BV, Art. 17, N 35 ff. mit weiteren Hinweisen und Quelle).
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Grundrechte dürfen gemäss Art. 36 BV nur unter drei Bedingungen eingeschränkt werden: Erstens muss eine gesetzliche Grundlage für die Einschränkung vorhanden sein. Zweitens muss die Einschränkung einem öffentlichen Interesse dienen oder den Schutz von Grundrechten anderer Personen bezwecken. Drittens muss die Einschränkung verhältnismässig sein, das heisst, sie muss geeignet, erforderlich und angemessen sein, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Der Kerngehalt des Grundrechts darf durch die Einschränkung nicht angetastet werden.
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Art. 70 StPO stellt für Einschränkungen der Justizöffentlichkeit gemäss aktueller Lehre und Rechtsprechung die gesetzliche Grundlage nach Art. 36 Abs. 1 BV dar (wobei der Autor die Auffassung vertritt, dass diese Grundlage als unzureichend anzusehen ist, da sie nicht hinreichend präzise, also zu allgemein formuliert ist). Nach der Feststellung eines Schutzbedürfnisses des Antragstellers im Sinne von Art. 13 Abs. 1 BV i.V.m. Art. 36 Abs. 3 BV muss als nächster Schritt die Verhältnismässigkeit der beantragten Auflage geprüft werden. Dabei ist eine sorgfältige Abwägung zwischen der persönlichen Freiheit des Beschuldigten und den verfassungsmässigen Rechten der Medienschaffenden und der allgemeinen Öffentlichkeit erforderlich. Das Gericht muss entscheiden, ob die Auflagen geeignet, erforderlich und angemessen sind, um den angestrebten Schutz zu erreichen, ohne dabei die Pressefreiheit und das öffentliche Interesse an Transparenz und Information übermässig zu beeinträchtigen. Die Auflagen sollten so gestaltet sein, dass sie den Schutz der Betroffenen gewährleisten, während sie gleichzeitig das Recht auf freie Berichterstattung so wenig wie möglich einschränken. Die Einschränkungen müssen also verhältnismässig sein und dürfen zudem den Kerngehalt nicht antasten.
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Aber: Gerichtliche Auflagen zur Berichterstattung stellen eine Vorzensur dar. Interessanterweise haben nach Kenntnisstand des Autors bisher weder Literatur noch Gerichte solche gerichtliche Auflagen in Bezug auf die Berichterstattung als Zensur im Sinne von Art. 17 Abs. 2 BV qualifiziert bzw. sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Da der Kerngehalt der Grundrechte – und dazu gehört auch ein temporäres Vorzensurverbot – unantastbar ist, sind nach hier vertretenen Auslegung von Verfassung und Rechtsprechung die Verfügung von Auflagen von Gerichten in Bezug auf die Berichterstattung immer unzulässig. Anders als bei Begehren um Auflagen durch Beschuldigte mag im Kontext des Opferschutzes das Grundrecht auf persönliche Freiheit zweifellos eine bedeutende Position einnehmen und auf breites Verständnis stossen. Juristisch haltbar sind solche Auflagen m.E. allerdings nicht.
5. Fazit
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Beim Erlass von gerichtlichen Auflagen in Bezug auf die Berichterstattung, insbesondere auf Antrag des Beschuldigten, ist von den Gerichten also höchste Zurückhaltung geboten, da diese m.E. verfassungswidrig sind.
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Obwohl das geltende Recht weder das Vergeltungsprinzip verficht noch Prangerwirkung anstrebt, kann es zusätzlich befremdlich wirken, dass Gerichte auf Ersuchen Beschuldigter Zensurmassnahmen ergreifen können. Es stellt sich die Frage, ob Beschuldigten derartige Anträge gestattet sein sollten, insbesondere weil ihr Schutz bereits durch bestehende Normen, wie die des ZGB (Persönlichkeitsrechte gemäss Art. 28 ff.) oder des StGB (Ehrverletzungsdelikte gemäss Art. 173 ff.), ausreichend gewährleistet wird. Richterliche Auflagen, die spezifisch die Berichterstattung und die Identifizierbarkeit betreffen, scheinen in diesem Kontext nicht gerechtfertigt und verfassungswidrig. Ein gezielter Schutz der Beschuldigten im Verfahren, etwa durch einen partiellen Ausschluss der Medien bei bestimmten Einvernahmen oder Beweisaufnahmen, mag in einigen Fällen angebracht und verfassungsmässig sein, wie oben in einigen Beispielen (vgl. oben Rn. 15) erläutert. Vorschriften zur Zensur durch Gerichte sind jedoch kritisch zu betrachten und abzulehnen.
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Gerichtliche Auflagen nach Art. 70 StPO bieten ohnehin keinen umfassenden Schutz, weder für ein Opfer noch für Beschuldigte. So besteht jederzeit auch die Möglichkeit, dass eine am Fall beteiligte Partei sich an die Medien wendet, was eine «unkontrollierte» Berichterstattung nach sich ziehen könnte. Diese Gefahr besteht, weil die StPO abseits von Art. 70 dem Gericht keine Mittel in die Hand gibt, um die Berichterstattung zu regulieren oder den Medien Vorgaben zu machen, wenn diese wie das Publikum von der Verhandlung gänzlich ausgeschlossen sind. Somit entzieht sich die Art der Berichterstattung vollständig der gerichtlichen Kontrolle. Somit betreffen gerichtliche Auflagen zur Berichterstattung nur die anwesenden bzw. an der Verhandlung teilnehmenden Journalisten. Gelangen Unterlagen des Verfahrens über Umwege an andere Medienhäuser oder Journalisten, sind diese an die Auflagen des Gerichts nicht gebunden.
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Zu guter Letzt: Was oft in der Diskussion um Artikel 70 StPO und die damit verbundenen Medieneinschränkungen übersehen wird, ist – wie oben ausgeführt (vgl. Rn. 22) – der allgemeine Schutz der Beteiligten durch den zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz gemäss Art. 28 ZGB und den strafrechtlichen nach Art. 173 ff. StGB. Dieser rechtliche Rahmen stellt einen Mechanismus zum Schutz der Privatsphäre und Ehre der Beteiligten bereit, ohne die fundamentalen Prinzipien der Pressefreiheit und des Zensurverbots zu untergraben.
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