Generelles Verbot, über ein Thema zu berichten, schränkt Medienfreiheit zu stark ein

G

Entgegnung II zum Beitrag Rudolf Mayr von Baldegg über die Verfügung des Kantonsgerichts Zug in Sachen Jolanda Spiess-Hegglin in medialex 05/2020

Matthias Seemann, Dr. iur., LL.M., Rechtsanwalt, Winterthur*

Résumé: La dernière édition de Medialex avait évoqué la mesure superprovisoire décidée par le Tribunal cantonal zougois contre une journaliste, un texte qui a suscité la réplique qui suit. Celle-ci se concentre sur l’aspect de la liberté des médias. Selon l’auteur, des mesures provisionnelles ne se justifient que pour interdire la publication de certaines affirmations, mais pas un compte-rendu dans son entier. Interdire ainsi le traitement d’un thème en tant que tel, comme l’a fait la cour zougoise, n’est pas proportionné, viole le principe de liberté de la presse et peut être qualifié de censure.

Zusammenfassung: Nachdem in der letzten Medialex-Ausgabe eine superprovisorische Verfügung des Zuger Kantonsgerichts gegen eine Journalistin besprochen wurde, folgt hier eine Entgegnung. Der Beitrag konzentriert sich auf Aspekte der Medienfreiheit. Der Autor vertritt unter anderem die Auffassung, dass mit vorsorglichen Massnahmen nur die Publikation einzelner Aussagen verboten werden könne, nicht aber die Berichterstattung über ein ganzes Thema. Ein solches Themenverbot, wie es im Zuger Entscheid enthalten sei, sei unverhältnismässig, verletze die Medienfreiheit und könne als Zensur bezeichnet werden.

I. Vorbemerkungen

1

In medialex 05/2020 vom 8. Juni 2020 hat Rudolf Mayr von Baldegg „Bemerkungen aus der Praxis am Beispiel des Urteilsspruchs des Kantonsgerichts Zug (Einzelrichter) vom 04. Mai 2020“ publiziert. Dabei bezog er sich auf ein superprovisorisches, bisher ohne schriftliche Begründung erlassenes Verbot, das Jolanda Spiess-Hegglin (Gesuchstellerin), frühere Zuger Kantonsrätin und heutige Geschäftsführerin des Vereins „#NetzCourage“, gegen Michèle Binswanger (Gesuchsgegnerin), Journalistin beim „Tages-Anzeiger“, erwirkt hat. Mayr von Baldegg nahm dies als Ausgangspunkt für wertvolle und praxisbezogene Bemerkungen rund um superprovisorische Verfügungen im Medienrecht. Die nachfolgende Entgegnung kritisiert Einzelpunkte des Beitrags und nimmt dies zum Anlass, Aspekte der Medienfreiheit darzustellen, die über den vorliegenden Fall hinaus relevant sind.

II. Übermässige vorsorgliche Massnahmen als Zensur

2

Mayr von Baldegg führt aus, dass verschiedene Akteure das gesetzliche Instrument der vorsorglichen Massnahmen „häufig missverstehen“, wobei Medienschaffende oft „Privatzensur und die Verletzung der Medienfreiheit“ witterten.

3

Dieser Sichtweise ist zu widersprechen: Die Bezeichnung übermässiger vorsorglicher Massnahmen gegen Medien als eine Art Zensur ist kein Missverständnis, sondern entspricht dem Verständnis des schweizerischen Gesetzgebers: Der Bundesrat führte in seiner Botschaft zum Persönlichkeitsrecht vom 5. Mai 1982 aus, dass der Zivilrichter bei einer konsequenten Anwendung des Massnahmerechts auf Medien „indirekt eine Art Zensur ausüben“ könnte: „Es würde genügen, dass eine Person, welche die Folgen einer bevorstehenden Aussage fürchtet, ein Verbot der Veröffentlichung verlangt, indem sie eine Verletzung ihrer Persönlichkeit glaubhaft macht. Neigt der Richter seinerseits dazu, systematisch die Höherrangigkeit der Persönlichkeitsrechte anzuerkennen, wird er dem Begehren leicht stattgeben. Ein solches Vorgehen würde aber die Freiheit der Medien zu stark einschränken und bedeutete für sie eine dauernde und ernsthafte Bedrohung“ (BBl. 1982 II 667, zur Regelung von Art. 28c Abs. 3 aZGB, die sich heute in Art. 266 ZPO wiederfindet). Entsprechend ist auch verfassungsrechtlich anerkannt, dass vorsorgliche Massnahmen gegen Medien wegen der Nähe zur Zensur stets einschränkend anzuwenden sind (vgl. Brunner/Burkert, Art. 17 BV N 61 , in: Ehrenzeller et al. [Hg.], Die Schweizerische Bundesverfassung, 3. A., St. Gallen 2014: „Solche Massnahmen bleiben aber wegen ihrer funktionalen Nähe zur (Vor-)Zensur, deren Verbot zum zentralen Bereich der Medienfreiheit gehört, […] heikel und sind immer – auch über die besonderen Anforderungen von Art. 266 ZPO […] hinaus – nach den Kriterien von Art. 10 EMRK einschränkend zu beurteilen.“).

III. Kein Äusserungsverbot für gesamte Themen

4

Mayr von Baldegg berichtet vorliegend von „präzise gestellten (und offenbar gutgeheissenen) Rechtsbegehren“. Er bezweifelt zwar, ob „Spekulationen“ zu einem Thema generell verboten werden dürfen. Auch fragt er sich, inwieweit die Gesuchstellerin Behauptungen „in Bezug auf Markus Hürlimann“ untersagen lassen darf, wobei er dies insoweit als zulässig erachtet, als es auch um ihre eigene Person geht. Im Übrigen sieht er das superprovisorische Verbot „wohl vom Massnahmenanspruch gedeckt“.

5

Auch dieser Einschätzung ist m.E. zu widersprechen. Die vorliegende superprovisorische Verfügung ist medienrechtlich aussergewöhnlich, weil sie sich nicht auf einzelne Aussagen beschränkt, sondern sich auf ein gesamtes Thema erstreckt (vgl. zur Unverhältnismässigkeit eines zu weiten Äusserungsverbots gegen einen Journalisten auch der kürzlich ergangene Entscheid des Berner Obergerichts vom 14. April 2020, Verfahrens-Nr. BK 20 87, E. 3.6). Üblich ist, dass vorsorgliche Äusserungsverbote auf konkrete Einzelaussagen bezogen werden (vgl. z.B. HGer ZH, Urteil vom 26. Oktober 2016, Geschäfts-Nr. HE160410 = ZR 115/2017 Nr. 14 S. 59 ff., Dispositiv-Ziff. 1: „[…] verboten, folgende Behauptung weiter zu äussern: […] Der Chef der schlingernden A. Private Bank habe ein Himmelfahrtskommando übernommen, er müsse die Privatbank rasch verkaufen, sonst drohe das nächste Fiasko“; vgl. auch HGer ZH, Urteil vom 21. Dezember 2015, Geschäfts-Nr. HE150135, Dispositiv-Ziff. 1, wo u.a. verboten wurde: „Die Behauptung, der Verwaltungsrat der Klägerin dürfe sich im Bündnerland nicht mehr blicken lassen“).

6

Im vorliegenden superprovisorischen Verbot ist hingegen bereits Dispositiv-Ziff. 1.1 lit. a umfassend: Verboten wird hier jede Publikation der Gesuchsgegnerin, „in der Handlungen der Gesuchstellerin anlässlich der Zuger Landammann-Feier vom 20. Dezember 2014 in Bezug auf Markus Hürlimann thematisiert werden oder Spekulationen diesbezüglich geäussert werden“.

7

Nun ergibt sich aus hunderten Medienberichten zur Landammann-Feier 2014 und deren Folgen, dass die wesentlichen Sachverhaltselemente die folgenden waren: A) Jolanda Spiess-Hegglin und Markus Hürlimann, die damals beide (Co-)Präsidenten ihrer jeweiligen Kantonalpartei waren, vertieften sich an der Feier in ein Gespräch; B) nach dem offiziellen Teil der Feier nahmen sie, weiterhin miteinander im Gespräch, auch am anschliessenden Fest in einem nahegelegenen Restaurant teil; C) dabei zogen sich die beiden in einem oberen Stock des Restaurants in ein Nebenzimmer zurück, wo es zu einem Sexualkontakt kam; D) in der Folge kam es zu einem – später eingestellten – Strafverfahren gegen Markus Hürlimann betreffend Schändung, in welchem das gegenseitige Verhalten der beiden an der Landammann-Feier untersucht wurde.

8

Gemäss der zitierten Dispositiv-Ziff. 1.1 lit. a wurde der Gesuchsgegnerin als Journalistin jede einzelne der erwähnten Aussagen A, B, C und D verboten (und noch viel mehr). Denn es handelt sich durchwegs um Aussagen über Handlungen der Gesuchstellerin in Bezug auf Markus Hürlimann. Mit anderen Worten wurde ihr auch einstweilen untersagt, den allseits bekannten, in zahlreichen Medienberichten während Jahren – auch von der Gesuchstellerin selbst in Zitaten, Interviews und auf Social Media – erläuterten, wesentlichen Sachverhalt des Themas nur schon zu erwähnen. Damit betrifft das Verbot wie erwähnt nicht nur einzelne Aussagen, sondern ein ganzes Thema. Dies ist nicht nur hinsichtlich des Bestimmtheitsgebots (BGE 97 II 92) sowie der Substantiierungslast problematisch (ein Verbot sollte nur soweit gehen, wie die Gesuchstellerin konkrete drohende Rechtsverletzungen substantiieren kann). Es ist auch unverhältnismässig und darf somit als Zensur bezeichnet werden.

IV. Kein Verbot ganzer Beiträge oder Bücher

9

Mayr von Baldeggs Befund von „präzise gestellten“ Rechtsbegehren ist auch in weiterer Hinsicht zu kritisieren: Wenn für einzelne Aussagen eine zu befürchtende Persönlichkeitsverletzung glaubhaft gemacht wird, so können diese zwar grundsätzlich vorsorglich verboten werden. Das Verbot muss sich jedoch auf diese Aussagen beschränken und darf nicht zusätzlich den gesamten Beitrag oder ein gesamtes Buch erfassen. Dies ist auch in der Rechtsprechung anerkannt (vgl. HGer ZH, Urteil vom 20. November 2017, Geschäfts-Nr. HE170345 = ZR 117/2018 Nr. 21 S. 74 ff., E. 11.6: „Diesbezüglich erscheint eine Persönlichkeitsverletzung als glaubhaft gemacht. Allerdings wäre es unverhältnismässig, deshalb den ganzen Artikel vom Netz zu verbannen.“).

10

Die vorliegende superprovisorische Verfügung sieht hingegen Folgendes vor: „Der Gesuchsgegnerin wird […] verboten, ein Buch, einen Artikel oder eine andersartige Veröffentlichung zu publizieren […] in dem bzw. in der Handlungen der Gesuchstellerin [Aufzählung der Handlungen] thematisiert werden oder Spekulationen diesbezüglich geäussert werden.“ Dies bedeutet: Sobald eine einzige Äusserung in einer Publikation der Gesuchsgegnerin das Verbot verletzt, ist die gesamte Publikation verboten. Zum Beispiel: Falls ein Buch der Gesuchsgegnerin den oben erwähnten Satz „Jolanda Spiess-Hegglin und Markus Hürlimann, die damals beide (Co-)Präsidenten ihrer jeweiligen Kantonalpartei waren, vertieften sich an der Feier in ein Gespräch“ enthalten würde, wäre gemäss der superprovisorischen Verfügung das gesamte Buch mit allen seinen Teilen – auch den unproblematischen – verboten. Auch in dieser Hinsicht erweist sich das Verbot als unverhältnismässiger Eingriff in die Medienfreiheit und damit als Zensur.

V. Höhere Hürden für Verbote betreffend periodisch erscheinende Medien

11

Gemäss Art. 266 ZPO bestehen für vorsorgliche Verbote in periodisch erscheinenden Medien höhere Hürden als im Normalfall. Mayr von Baldegg führt jedoch aus, dass die Gesuchsgegnerin vorliegend dieses Medienprivileg nicht in Anspruch nehmen könne, da die Gesuchstellerin „nur die Autorin und nicht den Verlag oder ein periodisch erscheinendes Medium ins Recht gefasst hat“.

12

In diesem Punkt hat Mayr von Baldegg wohl die herrschende Lehre auf seiner Seite, wonach Art. 266 ZPO nur anwendbar ist, wenn ein Medienhaus selbst formell als Gesuchsgegnerin eingeklagt wird (vgl. etwa BK-Güngerich, Art. 266 ZPO N 8, in: Berner Kommentar ZPO, Bd. II, Bern 2012). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Nichtanwendung von Art. 266 ZPO ist m.E. jedoch nicht sachgerecht. Die Gesuchsgegnerin ist Journalistin beim „Tages-Anzeiger“, und das Verbot richtet sich explizit auf alle ihre Verbreitungskanäle („ein Buch, einen Artikel oder eine andersartige Veröffentlichung“). Damit wird auch ein potentieller Artikel im „Tages-Anzeiger“ erfasst. Deshalb ist nicht einzusehen, weshalb Art. 266 ZPO auf diesen Verbreitungskanal nicht anwendbar sein soll. Wenn periodisch erscheinende Medien vom Gesetzgeber privilegiert werden, so sollte dieses Privileg auch dann gelten, wenn nicht das Medienhaus, sondern eine medienschaffende Person eingeklagt ist, die voraussichtlich in einem periodisch erscheinenden Medium publizieren wird. Dies ergibt sich aus der teleologischen, d.h. am Zweck der Bestimmung und damit an der Medienfreiheit ausgerichteten Auslegung von Art. 266 ZPO.

___

*Der Autor ist Mitarbeiter im Rechtsdienst von TX Group und Tamedia, wo die Gesuchsgegnerin des vorliegend besprochenen Falls als Journalistin tätig ist. Der Autor vertritt hier seine persönliche Meinung.

image_print

Kommentar schreiben

one × four =

Über uns

Medialex ist die schweizerische Fachzeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht. Sie erscheint als Newsletter im Monatsrhythmus (10x jährlich), open access, und enthält Untersuchungen und Brennpunkte zu medienrechtlichen Themen, aktuelle Urteile mit Anmerkungen, Hinweise auf neue medien- und kommunikationsrechtliche Urteile, UBI-Entscheide und Presseratsstellungnahmen sowie auf neue wissenschaftliche Publikationen und Entwicklungen in der Rechtsetzung.

Vernetzen