Die superprovisorische Verfügung ins richtige Licht gerückt

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Entgegnung I zum Beitrag Rudolf Mayr von Baldegg über die Verfügung des Kantonsgerichts Zug in Sachen Jolanda Spiess-Hegglin in medialex 05/2020

Rena Zulauf, Dr. iur., Rechtsanwältin, LL.M., Zürich*

Résumé: Dans son analyse, Rudolf Mayr von Baldegg commente le commentaire du Tribunal cantonal de Zoug de façon critique, bien qu’il ne connaisse pas le fond de l’affaire, comme il le dit lui-même, ce qui pose un problème, selon l’autrice du texte qui suit. Elle fait remarquer que le droit des médias est aussi journalistique car, le droit des médias, ce n’est rien d’autre qu’exercer une critique en montrant où les frontières du journalisme et celles du droit sont outrepassées. Ce droit gagnera en importance en raison du manque d auto-critique de la branche. Rudolf Mayr von Baldegg utilise une image de western spaghetti pour évoquer les «requérants et leurs avocats» qui, avec «le colt encore fumant» recherchent un «verdict favorable» des tribunaux. Etant les donné les conditions-cadres digitales prévalant actuellement dans le droit des médias et de la communication, il est difficile d’imaginer que l’audition de la partie adverse aboutisse à une mesure superprovisoire pour presque chaque requête. Un Etat de droit fort doit accorder aux requérantes et requérants la protection juridique à laquelle ils ont droit lorsque les conditions sont réunies.

Zusammenfassung: In seinem Beitrag kommentiert Rudolf Mayr von Baldegg kritisch einen Entscheid des Kantonsgerichts Zug, obwohl er, wie er selber einräumt, den Sachverhalt nicht kennt. Das hält die Autorin für problematisch. Dabei gehe vergessen, dass Medienrecht auch journalistisch ist. Medienrecht sei nichts anderes als Kritik zu üben, wo journalistische Grenzen überschritten und rechtliche Grenzen verletzt werden. Nach ihrer Auffassung wird mangels selbstkritischer Reflexion in der Branche das Medienrecht künftig an Bedeutung gewinnen. Mayr von Baldegg brauche ein Bild aus der Zeit schlechter Spaghetti-Western und berichte von «Gesuchstellern und deren Anwälten», die mit «rauchenden Colts» ein «günstiges Verdikt» der Gerichte anstrebten. Unter den heutigen digitalen Rahmenbedingungen des Medien- und Kommunikationsrechts könne man schwerlich zum Schluss zu gelangen, eine Anhörung der Gegenpartei sei bei fast jedem Gesuch um superprovisorische Massnahmen möglich. Gefragt sei ein starker Rechtsstaat, der Gesuchstellerinnen und Gesuchstellern aufgrund klarer Argumentation Rechtschutz gewähre, wenn dies angezeigt ist.

I. Einleitung

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In seinem Beitrag mit dem Titel «Superprovisorisches Verbot gegen Buchveröffentlichung» kommentiert Kollege Rudolf Mayr von Baldegg kritisch einen Entscheid des Kantonsgerichts Zug[1]. Problematisch allerdings: Der Autor kennt, wie er selber einräumt, den Sachverhalt, auf den die superprovisorische Verfügung beruht, nicht. Mayr von Baldegg spekuliert deshalb in seinem Beitrag und bemüht rechtswissenschaftliche Quellen aus dem Jahre 1982, als die Digitalisierung für den Gesetzgeber noch kein Thema war. Mayr von Baldegg lässt dabei ausser Acht: Auch Medienrecht ist journalistisch. Medienrecht ist nichts anderes als Kritik zu üben, wo journalistische Grenzen überschritten und rechtliche Grenzen verletzt werden.

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Es scheint, dass mangels selbstkritischer Reflektion in der Branche – der Fachbereich Medienjournalismus führt heutzutage ein stiefmütterliches Dasein – das Medienrecht künftig an Bedeutung gewinnen wird. Mayr von Baldegg braucht dafür ein Bild aus der Zeit schlechter Spaghetti-Western und berichtet von «Gesuchstellern und deren Anwälten», die mit «rauchenden Colts» ein «günstiges Verdikt» der Gerichte anstreben. Unter den heutigen digitalen Rahmenbedingungen des Medien- und Kommunikationsrechts kann man indessen nur schwerlich zum Schluss zu gelangen, eine Anhörung der Gegenpartei sei bei fast jedem Gesuch um superprovisorische Massnahmen möglich. Gefragt ist mehr denn je ein starker Rechtstaat, der Gesuchstellerinnen und Gesuchstellern aufgrund klarer Argumentation Rechtschutz gewährt, wenn dies angezeigt ist.

II. Zum Sachverhalt

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Gesuche um Erlass superprovisorischer Massnahmen werden dann eingereicht und gutgeheissen, wenn vor Veröffentlichung eines publizistischen Beitrags konkrete und glaubhafte Anhaltspunkte vorliegen, dass rechtliche Normen nicht eingehalten werden. Um den Entscheid des Kantonsgerichts Zug diesbezüglich nachvollziehen und einordnen zu können, wird nachfolgend zunächst die Schilderung des Sachverhaltes nachgeholt. Man sagt, im Journalismus sei die Recherche das A und O. Nichts anderes gilt für die Rechtswissenschaft. Um sich mit dem Sachverhalt vertraut zu machen genügt die Lektüre der bisher erlassenen Gerichtsentscheide in der Causa Jolanda Spiess-Hegglin und die Stellungnahme des Presserates zum selben Thema.

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Am 24. Dezember 2014 veröffentlichte die Zeitung Blick auf der Frontseite die Schlagzeile: «Sex-Skandal um SVP-Politiker – Hat er sie geschändet? XY, Zuger XY-Kantonalpräsident XY[2], – Jolanda Spiess-Hegglin, Grüne Kantonsrätin, Zug». Im Zentrum der Berichterstattung stand der bis heute von den Strafermittlungsbehörden ungeklärte Vorfall an der Zuger Landammann-Feier vom 20. Dezember 2014, bei dem es zu einem sexuellen Kontakt zwischen Jolanda Spiess-Hegglin und XY kam. Mit seiner Berichterstattung initiierte der Blick eine Welle von Spekulationen, die unter dem Begriff «Zuger Sex-Skandal[3]» durch alle nationalen, regionalen und lokalen Medien ging. Mit Urteil vom 8. Mai 2019 stellte das Kantonsgericht Zug fest, dass Ringier AG (die Herausgeberin des Medientitels Blick) mit der erwähnten Berichterstattung von Heiligabend 2014 die Persönlichkeitsrechte von Jolanda Spiess-Hegglin widerrechtlich schwer verletzt hatte[4]. Dasselbe hätte das Gericht auch in Bezug auf XY entschieden, wenn er Klage eingereicht hätte, denn auch er wurde (Stichwort Unschuldsvermutung) in seiner Privatsphäre verletzt. Zum selben Schluss wie das Zuger Kantonsgericht kam auch der Schweizer Presserat, der bereits im Mai 2016 festgestellt hatte, dass beide – Jolanda Spiess-Hegglin und XY – in ihrer Privatsphäre verletzt worden waren[5].

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Die Veröffentlichung von Informationen aus dem Privatbereich und die Spekulationen des Blicks darüber, was an der Landammannfeier 2014 geschehen war, hatten für Jolanda Spiess-Hegglin – und auch ihre Familie (!) – einschneidende Folgen. Bald schon sah sich Jolanda Spiess-Hegglin mit dem Vorwurf in der Weltwoche konfrontiert, sie hätte XY wider besseres Wissens falsch beschuldigt. Philipp Gut, ehemals stellvertretender Chefredaktor der Weltwoche, hatte im September 2015 in einem Artikel behauptet, Jolanda Spiess-Hegglin hätte XY planmässig falsch beschuldigt und sie hätte gelogen. In der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Zug betreffend Schändung, die Philipp Gut vorlag, wurde dieser Vorwurf allerdings ausdrücklich widerlegt[6]: «Jolanda Spiess-Hegglin äusserte zu keinem Zeitpunkt die konkrete Beschuldigung, wonach ihr XY entweder eine sedierende Substanz verabreicht, noch gegen ihren Willen an ihr eine sexuelle Handlung vollzogen hätte». Für den Vorwurf der Falschbeschuldigung und des Lügens gab und gibt es keine Faktenbasis, was sowohl das Bezirksgericht Zürich als auch das Obergericht Zürich in ihren rechtskräftigen Urteilen vom 15. Mai 2017 bzw. 18. Juni 2019 gegen den ehemaligen stellvertretenden Chefredaktor der Weltwoche, Philipp Gut, festhielten[7]. Philipp Gut wurde wegen übler Nachrede von zwei Instanzen schuldig gesprochen.

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Trotz klarer Faktenlage muss Jolanda Spiess-Hegglin mehr als fünf Jahre nach der persönlichkeitsverletzenden Blick-Berichterstattung – und das ist einer der vielen unverständlichen und verstörenden Seiten dieses Falles – um die Respektierung ihrer Privatsphäre durch die Medien und durch Medienschaffende fürchten. In Bezug auf die Journalistin Michèle Binswanger, d.h. im Fall der vorliegend interessierenden superprovisorischen Massnahme, verhält es sich so, dass diese in zahlreichen E-Mails an Dritte (und nur in einer E-Mail an Jolanda Spiess-Hegglin) kund tat, dass sie ein Buch veröffentlichen wolle, in dem die Geschehnisse anlässlich der Landammannfeier 2014 thematisiert werden sollen. Gegenüber Dritten und auf Twitter erklärte Michèle Binswanger zudem, dass sie Jolanda Spiess-Hegglin nicht glaube und in ihrem Buch darlegen wolle, wer in Bezug auf die Geschehnisse an der Zuger Landammannfeier gelogen habe. Mit anderen Worten plante Michèle Binswanger dieselbe Thematik aufzunehmen wie vor ihr schon Philipp Gut: Was ist in der besagten Nacht geschehen und wer hat gelogen, Jolanda Spiess-Hegglin oder XY? Dieses Vorhaben sprengt ganz klar den Rahmen des rechtlich Zulässigen aber auch das Mass des menschlich Zumutbaren:

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  1. Was in der besagten Nacht zur Landammannfeier 2014 geschehen ist, betrifft einen rein privaten, vermutungsweise kriminellen Vorgang, wobei mutmasslich beide Involvierten, also sowohl Jolanda Spiess-Hegglin als auch XY, zu Opfern wurden. Es gibt kein öffentliches Interesse, das es rechtfertigen würde, öffentlich darüber zu spekulieren, was zwei Menschen im Bereich der Privatsphäre betrifft, an dem beide fast zerbrochen sind und das sie ein Leben lang zeichnen wird.
  2. Aus den Akten der ermittelnden Staatsanwaltschaft ist ersichtlich – und das ist aufgrund der Gerichtsverfahren i.S. Philipp Gut öffentlich bekannt – dass beide Involvierten keine Erinnerung mehr daran haben, was in besagter Nacht geschehen ist, mithin einen Gedächtnisverlust hatten («Filmriss»). Auch XY erlitt einen Gedächtnisverlust. Zudem ist aus den Akten der Staatsanwaltschaft auch bekannt, dass zwei männliche DNA-Spuren im Intimbereich von Jolanda Spiess-Hegglin gefunden wurden. Die Staatsanwaltschaft hat lediglich eine DNA zuordnen können; die andere DNA wurde nie abgeglichen, dies obwohl gegen weitere Personen wegen Schändung ermittelt wurde.
  3. Daraus folgt, dass mutmasslich beide – sowohl Jolanda Spiess-Hegglin als auch XY – Opfer sind eines kriminellen Aktes oder eines dummen, verunglückten Streichs, möglicherweise durch die Verabreichung von KO-Tropfen. Aufgrund der Ermittlungen der Zuger Staatsanwaltschaft hat man nicht klären können, was geschehen ist. Mit Sokrates müsste deshalb festgestellt werden: Wir wissen, dass wir nichts wissen. Aus dieser – zentralen – Faktenlage folgt, dass jede «Wahrheitsfindung» seitens Dritter sich bestenfalls im Reich erneuter Spekulationen bewegt. Dass es daran kein öffentliches Interesse gibt, muss nicht weiter ausgeführt werden. Auch heute nicht, wo Jolanda Spiess-Hegglin öffentlich bekannt ist, zumal sie diese Bekanntheit ja gerade deshalb erlangt hat, weil über sie in gesetzeswidriger Weise berichtet wurde. Zum besseren Verständnis sei bemerkt, dass KO-Tropfen nicht k.o. im Sinne von schlapp machen, sondern aphrodisierend, euphorisierend und erotisierend wirken.
  4. Es gibt mit Blick auf das Nichtwissen die These einer dritten Variante bzw. weiterer Varianten (ein krimineller Akt, ein dummer, missratener Streich eines Dritten). In der öffentlichen Diskussion wurde diese dritte These von den (Click-getriebenen) Medien nie aufgegriffen. Dies, weil der Blick mit seinen Schlagzeilen von Anfang an ein klares «entweder / oder-Schema» vorlegte: Entweder hatten die beiden Involvierten freiwilligen Sex oder einer von beiden lügt (XY hat sie geschändet oder Jolanda Spiess-Hegglin beschuldigt ihn, sie geschändet zu haben, weil sie ihre Ehe retten will). Damit hat der Blick die beiden Involvierten gegeneinander ausgespielt und eine Kampagne initiiert und geführt, ohne die nötige journalistische Distanz zu wahren. Man darf davon ausgehen, dass die Medienkampagne auch die Strafuntersuchungen beeinflusst hat.
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Es lagen, als das Gesuch um Erlass superprovisorischer Massnahmen eigereicht wurde, genügend Beweisurkunden vor, die darlegten, dass auch Michèle Binswanger in dieselbe Kerbe schlagen würde wie Ringier AG bzw. der Blick und wie Philipp Gut. Entweder hat XY Jolanda Spiess-Hegglin geschändet oder sie hat gelogen. Aus Unterlagen geht hervor, dass Michèle Binswanger sich mit toxikologischen Gutachten auseinandergesetzt hat, dass sie darlegen will, dass Jolanda Spiess-Hegglin die Medien beeinflusse und dass XY als Unschuldiger diffamiert worden sei. Dass eine einzelne Person, sprich Jolanda Spiess-Hegglin, die Medien beeinflussen könnte, ist absurd. Das Zitieren aus Strafakten hingegen ist widerrechtlich. Michèle Binswanger verfügt erwiesenermassen nur über einen Teil der Strafakten, deren inhaltliche Wiedergabe – siehe Kantonsgericht Zug mit Entscheid vom 8. Mai 2019 – den Anspruch auf Privatsphärenschutz von Jolanda Spiess-Hegglin und von XY verletzt[8]. Man kann, mit anderen Worten, über das Vorgefallene an der Zuger Landammannfeier 2014 nicht berichten, ohne abermals in die Privatsphäre beider Involvierter einzugreifen. Jolanda Spiess-Hegglin ist seit jeher der Meinung, dass auch XY in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt worden ist, indem er – trotz Unschuldsvermutung – als «Täter» von Ringier AG bzw. dem Blick vorverurteilt wurde.

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Michèle Binswanger ist nicht Staatsanwältin, verfügt nicht über forensische Ermittlungsmöglichkeiten und -instrumente wie eine Staatsanwaltschaft, hat lediglich fragmentarischen Einblick in Strafakten und ist – last but not least – dem Thema gegenüber wohl voreingenommen. In einem ihrer Kommentare im Tages-Anzeiger zu den Zuger Ereignissen behauptete sie beispielsweise entgegen den Akten, dass Jolanda Spiess-Hegglin «gebechert» habe, woraufhin es zum «Quickie» bzw. «Techtelmechtel» gekommen sei; Jolanda Spiess-Hegglin wolle lediglich die Verantwortung für einen Seitensprung abwälzen[9].  Gemäss einem rechtsmedizinischen Gutachten hat Jolanda Spiess-Hegglin indessen nur eine «geringe Menge» Alkohol getrunken. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug hielt in ihrer Einstellungsverfügung betreffend den Schändungsvorwurf ferner explizit fest, dass Jolanda Spiess-Hegglin davon ausgehen durfte, Opfer einer Sexualstraftat geworden zu sein, auch wenn kein Täter ermittelt werden konnte. Jolanda Spiess-Hegglin habe nichts falsch gemacht, so die Staatsanwaltschaft Zug.

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Am Tag des Gerichtsverfahrens i.S. Philipp Gut, am 15. Mai 2017, prognostizierte Michèle Binswanger zudem in einem Video, das auf Tages-Anzeiger Online aufgeschaltet worden war, gute Erfolgschancen für Philipp Gut und schlechte für Jolanda Spiess-Hegglin: Philipp Gut werde wohl den Nachweis für seine Aussagen, dass Jolanda Spiess-Hegglin wiederholt gelogen habe und XY planmässig falsch beschuldigt habe, einfach erbringen können, da er sich in der Berichterstattung auf Prozessakten stütze. Diesen Beweis konnte Philipp Gut indessen gerade nicht erbringen, wie das Bezirksgericht Zürich und das Obergericht Zürich übereinstimmend urteilten[10].

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Wer übrigens meint, aufgrund der heutigen Bekanntheit von Jolanda Spiess-Hegglin bestünde ein öffentliches Interesse an Spekulation darüber, was anlässlich der Landammannfeier 2014 geschehen ist, liegt falsch. Diese Argumentation führt den Persönlichkeitsschutz ad absurdum und der Fall Landammannfeier 2014 würde zu einer Anleitung für mediale Persönlichkeitsverletzungen verkommen. Es ist verkehrt zu meinen, sobald ein Opfer einer medialen Skandalisierung und Persönlichkeitsverletzung sein Schweigen bricht und öffentlich kommuniziert, könne man ungeniert über diese Person berichten. Mit dieser Argumentation verwehrt man Medienbetroffenen ein Recht auf Verteidigung, und Betroffene müssten hilflos zusehen, wie ihre Persönlichkeitsrechte verletzt werden, ohne Möglichkeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Der geschilderte Vorgang wird auch «Victim Blaming» genannt.

III. Zur Urteilsbesprechung

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Mayr von Baldegg kennt den Sachverhalt, auf dem die superprovisorische Verfügung des Kantonsgerichts Zug vom 4. Mai 2020[11] beruht, nach eigenen Angaben nicht. In der Konsequenz bringen seine vom konkreten Fall losgelösten Überlegungen die Causa Spiess-Hegglin/Binswanger leider nicht weiter.

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Die Ausführungen von Mayr von Baldegg zeigen auf, dass sich dieser an Medienschaffenden orientiert, die sich an journalistische Sorgfaltspflichten halten und die einen Fall von (rechtlichem) öffentlichen Interesse recherchieren (vgl. Mayr von Baldegg, RZ 6[12] – 9[13]). Dass sich Mayr von Baldegg sodann ausgerechnet den Fall von Michèle Binswanger / Jolanda Spiess-Hegglin als Aufhänger für Ausführungen zur superprovisorischen Verfügung aussucht, um dann zu betonen, es gehe gar nicht um diesen Fall, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn die meisten superprovisorischen Massnahmengesuche werden dann eingereicht und gutgeheissen, wenn im Vorfeld zu einem publizistischen Beitrag konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass journalistische und rechtliche Normen eben gerade nicht eingehalten werden. Wie in jeder Branche gibt es auch in den Medien Grenzüberschreitungen, die rechtlich beantwortet werden können – und im Rechtsstaat auch rechtlich sanktioniert werden sollen.

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Die für superprovisorische Gesuche zentrale Voraussetzung der Dringlichkeit (Art. 265 und 266 ZPO) ist im Medienbereich seit der Digitalisierung fast immer gegeben[14]. Es ist heute ein leichtes, innerhalb von wenigen Sekunden Unmengen von Daten und Texten online zu veröffentlichen, die für einzelne Personen einen Schaden bewirken können, der diese nachhaltig, gar lebenslang, stigmatisiert. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die Medienbranche – insbesondere, wenn die Mechanismen der Selbstregulierung versagen[15] – und die Publizistik im Generellen inskünftig vermehrt mit superprovisorischen Anordnungen konfrontiert sein werden. In Bezug auf den hier interessierenden Fall ist es so, dass tatsächlich konkrete Informationen vorliegen, wonach Michèle Binswangers Recherche abgeschlossen ist und auch deshalb von einer umso grösseren Dringlichkeit ausgegangen werden musste.

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Mayr von Baldegg zitiert in seinem Beitrag drei Quellen: zum Einen eines seiner Bücher, zum anderen den Basler Kommentar zur Zivilprozessordnung (ohne Angabe der Auflage) und schliesslich die Botschaft des Bundesrates aus dem Jahr 1982 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches / Persönlichkeitsschutz. Als im Jahr 1982 der Persönlichkeitsschutz im Zivilgesetzbuch revidiert wurde, war das Internet noch kein Thema. Wie vorstehend erwähnt, ist es heute ein Leichtes, innerhalb von wenigen Sekunden persönlichkeitsverletzendes Material öffentlich in Umlauf zu bringen. Mayr von Baldeggs mit Verweis auf die bundesrätliche Botschaft 1982 untermauerte Auffassung, Gerichte würden oftmals superprovisorische Verfügungen erlassen, weil es ihnen zu «schwierig, zu mühsam oder gar nur lästig» sei, die Gegenpartei anzuhören, ist mit Blick auf den konkreten Fall unangebracht: Wie bei jedem superprovisorischen Gesuch üblich, wurden auch im hier interessierenden Fall Beweise vorgelegt, die es dem Gericht erlaubten, eine vorläufige Verfügung ohne Anhörung der Gegenseite zu erlassen.

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Schliesslich ist auch der Zwischentitel «Verbot kann Publikation, nicht aber Recherche betreffen» falsch und irreführend. Bekanntlich gilt im Zivilprozess die Dispositionsmaxime. Die klagende Partei ist frei, diejenigen Anträge dem Gericht zu stellen, für die sie Rechtsschutz sucht. Wenn also jemand Kenntnis darüber erlangt, dass Medienschaffende Recherchemethoden in Bezug auf ihn oder sie anwendet, die widerrechtlich sind, so kann diese Person selbstverständlich superprovisorisch ein Verbot gegen eine Recherchemethode vor Gericht beantragen. Medien sind zwar in gewissen Bereichen privilegiert (z.B. Quellenschutz), haben sich darüber hinaus aber an allen rechtlichen Vorgaben zu orientieren wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, Staatsorgane, Organisationen, Verbände etc. auch.

IV. Schlussbemerkung

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Die Autorin dieses Beitrages vertritt Jolanda Spiess-Hegglin seit mehreren Jahren als Rechtsanwältin. Verstörend im Fall von Jolanda Spiess-Hegglin ist die simple Tatsache, dass der Fall dermassen interessiert. Jolanda Spiess-Hegglin ist eine normale Frau, ehemalige Journalistin, Ehefrau und Mutter dreier Kinder, die nichts anderes verlangt, als dass ihre Persönlichkeitsrechte respektiert werden. Nicht mehr und nicht weniger. Das, was Jolanda Spiess-Hegglin und ihre Familie aufgrund der Berichterstattung von Blick und in der Folge von zahlreichen anderen Medientiteln erleben mussten, die – wie der Soziologe Prof. Kurt Imhof zu sagen pflegte – dem Blick im Rudel hinterhergelaufen sind (sog. Rudeljournalismus), ist traumatisierend. Jolanda Spiess-Hegglin musste sich in der Folge komplett neu erfinden. Eine normale Jobsuche beispielsweise ist nicht mehr möglich. Und noch immer, mehr als 5 Jahre nach der initialen Berichterstattung durch Blick, wird Jolanda Spiess-Hegglin von hunderten von Personen (meist Männern) gestalkt und mit Hass-, Droh- und Mordbotschaften tagtäglich eingedeckt. In einem Interview, das Reto Spiess, der Ehemann von Jolanda Spiess-Hegglin dem Online-Medium Watson gab[16], antwortete er auf die Frage nach dem Vergleich mit Heinrich Bölls «Katharina Blum» was folgt:

«Aber Sie planen nicht, einen Journalisten zu erschiessen? 
(Lacht nicht). Die Gewalt richtet sich normalerweise bei so einer Medientraumatisierung gegen sich selbst. Niemand hätte sich wundern dürfen, wenn sich Jolanda Gewalt angetan hätte. Umso besser ist es, dass Jolanda einen anderen Weg gewählt hat».

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Dieser andere Weg heisst: Nicht schweigen. Nicht schweigen darüber, was die Medien und in der Folge was sog. Wutbürger anderen Menschen antun können, wenn sie aufgrund von ungerechtfertigten skandalisierenden Schlagzeilen den Kopf und den letzten Rest an Anstand verlieren. Niemand soll warten müssen oder erneut Persönlichkeitsverletzungen hinnehmen müssen bis Rechtsschutz kommt.


Gegendarstellung

Zwei Darstellungen von Rechtsanwältin Rena Zulauf in Ihrem Medialex-Beitrag vom 7. Juli 2020 über das Massnahmeverfahren der von ihr vertretenen Jolanda Spiess-Hegglin gegen meine Person, die mein Rechercheprojekt und damit mich betreffen, sind unzutreffend:

  1. RA Zulauf schreibt, es lägen «genügend Beweisurkunden vor, die darlegten, dass auch Michèle Binswanger in dieselbe Kerbe schlagen würde wie Ringier AG bzw. der Blick und wie Philipp Gut». Das ist falsch. Richtig ist, dass der Inhalt meines laufenden Rechercheprojekts noch nicht definitiv festgelegt ist und ich Jolanda Spiess-Hegglin mit den sie betreffenden Fragen noch gar nicht konfrontiert habe.
  2. RA Zulauf schreibt, ich hätte im Tages-Anzeiger behauptet, «Jolanda Spiess-Hegglin wolle lediglich die Verantwortung für einen Seitensprung abwälzen». Das ist falsch. Diese Behauptung stammt nicht von mir. Als Journalistin hatte ich im Januar 2015 über die damals in der Öffentlichkeit kursierende Behauptung im Tages-Anzeiger geschrieben, mit ihrem Verhalten «heizt sie Spekulationen an, sie habe mit der Story nur die Verantwortung für den Seitensprung abwälzen wollen».

 Michèle Binswanger, 9. Juli 2020

Die Autorin, RA Rena Zulauf, hält an ihrer Darstellung fest.


Fussnoten

* Die Autorin vertritt als Rechtsanwältin die Gesuchstellerin der hier thematisierten superprovisorischen Verfügung.

  1. Entscheid des Kantonsgerichts Zug vom 4. Mai 2020 i.S. Jolanda Spiess-Hegglin gegen Michèle Binswanger betreffend Schutz der Persönlichkeit (Massnahme).

  2. Der Name des betroffenen Mannes und seine Position werden hier anonymisiert, da auch er ein Recht auf Respektierung seiner Persönlichkeitsrechte hat. Für die Veröffentlichung des Namens der Gesuchstellerin der fraglichen superprovisorischen Verfügung des Kantonsgerichts Zug liegt deren Einverständnis vor.

  3. Der Begriff «Zuger Sex-Skandal» ist übrigens bereits vermessen, weil es grob verharmlosend, für die Betroffenen verletzend und sexistisch, schliesslich aber auch falsch ist, bei einem mutmasslichen Sexualdelikt, bei welchem sich Involvierte aufgrund einer Amnesie nicht erinnern, von „Sex-Skandal“ zu sprechen; Boulevardeske Sprache wirkt – wie aus der Sozialwissenschaft bekannt ist – auf künftige Betroffene abschreckend, weshalb die Folge darin besteht, dass Betroffene (Frauen wie Männer) tendenziell weniger über Sexualdelikte sprechen und eher schweigen; für den kritischen Journalismus sowie für Betroffene kann das eine fatale Entwicklung zur Folge haben.

  4. Kantonsgericht Zug, Entscheid vom 8. Mai 2019, A1 217 55, Ziff. 2.6. Urteil nicht rechtskräftig.

  5. Stellungnahme des Schweizer Presserates 09/2016, 10/2016 und 11/2016 vom 19. Mai 2016, www.presserat.ch.

  6. Vgl. Entscheid Kantonsgericht Kanton Zug vom 8. Mai 2019, Ziff. 2.4.3.

  7. Bezirksgericht Zürich, Urteil vom 15. Mai 2017, Geschäfts-Nr. GG170064-L / U; Obergericht des Kantons Zürich, Urteil vom 18. Juni 2019, Geschäfts-Nr. SB170224-O/U/cs.

  8. Kantonsgericht Zug, Entscheid vom 8. Mai 2019, A1 217 55, Ziff. 2.6. Urteil nicht rechtskräftig. Der Vollständigkeitshalber sei erwähnt, dass die Herausgabe von Strafakten durch Behördenmitglieder eine Amtsgeheimnisverletzung nach Art. 320 StGB darstellt.

  9. Tages-Anzeiger vom 6. Januar 2015, «Keine klaren Grenzen»; Tages-Anzeiger vom 3. März 2015, «Wenn ein Vorwurf k. o. geht»; Tages-Anzeiger vom 15. Mai 2017, Video auf https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/ein-spaeter-showdown-zur-zuger-sexaffaere/story/24923736; vgl. auch Luzerner Zeitung Online vom 1. Mai 2020, «»Privates Racheprojekt»? Aufruhr um geplantes Buch zu Jolanda Spiess-Hegglin» und Schweiz am Wochenende vom Samstag, 2. Mai 2020, «Aufruhr um geplantes Buch»

  10. Bezirksgericht Zürich, Urteil vom 15. Mai 2017, Geschäfts-Nr. GG170064-L / U; Obergericht des Kantons Zürich, Urteil vom 18. Juni 2019, Geschäfts-Nr. SB170224-O/U/cs

  11. Entscheid des Kantonsgerichts Zug vom 4. Mai 2020 i.S. Jolanda Spiess-Hegglin gegen Michèle Binswanger betreffend Schutz der Persönlichkeit (Massnahme).

  12. In Bezug auf die Ausführungen von Mayr von Baldegg in RZ 6 sei die Bemerkung erlaubt, dass sich Richterinnen und Richter von Anwältinnen und Anwälten wohl kaum je «einschüchtern» lassen; vielmehr ist es so, dass Anwältinnen und Anwälte Argumente vortragen, die ein Gericht (zugunsten oder zulasten eines Massnahmegesuchs) mehr oder weniger überzeugen.

  13. Mayr von Baldeggs Bemerkung in RZ 7, «gerade diese Phase des Informationsaustausches führt oft zur falschen Vorstellung der von der Recherche Betroffenen …» muss widersprochen werden: In einem professionellen Austausch sollte es grundsätzlich nicht zu falschen Vorstellungen auf Seiten einer Partei kommen. In der Praxis ist es zudem nicht selten so, dass bei Betroffenen tatsächlich keine «falschen Vorstellungen» entstehen, sondern Medienschaffende Grundlagen offenbaren, die aufzeigen, ob sie fair oder voreingenommen recherchieren. Wenig passend der für das  journalistische Recherchegespräch verwendete Ausdruck «Vorgeplänkel» (RZ 8).

  14. Vgl. in diesem Zusammenhang die Bestrebungen des Zürcher Anwaltsverbandes ZAV, der mit den Zürcher Gerichten einen Leitfaden ausgearbeitet hat, der es Gerichten erlaubt, unkompliziert und auch ausserhalb von Büroöffnungszeiten Stellungnahmen von Gesuchbetroffenen einzuholen; der Leitfaden kann beim Zürcher Anwaltsverband bezogen werden.

  15. Wenn Mayr von Baldegg in RZ 14 meint, es sei «kaum vorstellbar, dass eine Publikation vor Stellungnahme der Betroffenen erfolgt», so liegt er hier falsch: Die monatelange persönlichkeitsverletzende und skandalisierende Medienberichterstattung zu Jolanda Spiess-Hegglin und XY durch den Blick (Ringier AG) erfolgte ohne Anhörung oder gar Einverständnis. Es sind im Blick über 200 Artikel zu Jolanda Spiess-Hegglin erschienen, ohne dass diese je bewusst und direkt mit den betreffenden Medienschaffenden des Blick gesprochen hätte.

  16. Watson vom 7. Juli 2017, «Reto Spiess: «Meine Liebe zu Jolanda ist eher noch stärker geworden», Interview mit dem Ehemann von Jolanda Spiess-Hegglin über unerschütterliches Vertrauen in die Partnerin, seinen Kampf um die Ehre, Heinrich Böll, Hexenprozesse und andere Dinge, die eine fünfköpfige Familie so richtig zusammenschweissen», https://www.watson.ch/schweiz/interview/197300910-reto-spiess-meine-liebe-zu-jolanda-ist-eher-noch-staerker-geworden

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