Verhärtete Kommunikation: Rechtfertigung des Terrorismus und Hassrede gegen Minderheiten

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Entscheidübersicht Verfassungsrecht und EMRK: Medienrelevante Rechtsprechung 2022

Franz Zeller, Titularprofessor an der Universität Bern und Lehrbeauftragter für Medien- und Kommunikationsrecht an der Universität Basel

Résumé: Durant l’année sous revue, la justice a été confrontée à plusieurs affaires portant sur des affirmations, dans les médias, qui ont frappé par à un ton particulièrement dur:  les juges ont ainsi dû se prononcer sur des cas de justification du terrorisme, de banalisation du génocide et sur une haine grandissante contre les minorités (par exemple les gens du voyage). Les passages incriminés émanaient souvent de journalistes non professionnels et diffusés ensuite sur des canaux à grande audience. Mais, en 2022, les tribunaux ont aussi traité des thèmes plus habituels dans les médias, comme la protection de la personnalité ou de la réputation commerciale. De nouveaux phénomènes – tel l’emploi de drones pour des enquêtes journalistiques – ont aussi occupé les juges. 

Zusammenfassung: Im Berichtsjahr sah sich die Justiz mit einer punktuellen Verhärtung der Kommunikation konfrontiert: Zu beurteilen waren etwa die Rechtfertigung des Terrorismus, die Verharmlosung von Völkermord und der zunehmende Hass gegen Minderheiten (bspw. Fahrende). Die rechtswidrigen Äusserungen stammten oft nicht von professionellen Medienschaffenden, wurden aber meist über massenmediale Kanäle verbreitet. 2022 befassten sich die Gerichte auch mit typisch journalistischen Themen. Dazu gehörten gängige Konflikte wie der Schutz persönlicher oder geschäftlicher Reputation vor Verletzungen durch die Massenmedien. Die Justiz beurteilte aber auch neue Phänomene wie den Einsatz von Drohnen zum Zweck redaktioneller Recherche.

Inhaltsverzeichnis

I. Medien-, Meinungs-, Wissenschafts-, Kunst- und Wirtschaftsfreiheit (Art. 16, 17, 20, 21 und 27 BV; Art. 10 EMRK)
    1. Allgemeines     Rn. 5
    2. Staatliche Eingriffe in grundrechtlich geschützte Kommunikation    
        A. Geltungsbereich: Welche Freiheitsrechte sind betroffen? 4   6
        B. Eingriff: Staatliche Schmälerung des grundrechtlichen Freiraums?   8
        C. Betroffenheit: Befugnis zur Beschwerde gegen einen Eingriff   10
        D. Verbot des Missbrauchs der Konventionsrechte (Art. 17 EMRK)  12
    3. Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)     16
    4. Berechtigtes Beschränkungsziel (Art. 36 Abs. 2 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)   17
    5. Primärer Eingriffszweck: Schutz privater Interessen (guter Ruf u.a.)
        A. Schutz des Ansehens (guter Ruf, Art. 10 Abs. 2 EMRK)   20
        B. (Journalistische) Sorgfalt bei rufschädigenden Vorwürfen   31
        C.  Ansehensschutz bei Satire, Sarkasmus, Ironie und Humor   35
        D.  Schutz privater Interessen bei Vorwürfen strafbaren Verhaltens    36
        E. Schutz der geschäftlichen Reputation von Marktteilnehmern   39
        F.  Schutz der Privatsphäre vor Blossstellung (z.B. durch Abbildung)    40
        G.  Art und Schwere der Sanktion bei (angeblich) rechtswidrigen Vorwürfen   45
    6. Primärer Eingriffszweck: Schutz von Interessen der Allgemeinheit
        A. Schutz staatlicher Geheimnisse   47
        B. Aufrufe zu Diskriminierung, Intoleranz, Hass und Gewalt   48    
        C.  Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung von Völkermord   59  
        D.  Massnahmen zum Schutz von Sittlichkeit, Gesundheit und Moral   62
        E.  Schutz des religiösen Friedens und religiöser Empfindungen   63
        F.  Schutz von Wahlen und Abstimmungen    65
        G.  Bekämpfung von Terrorismus und Aufrufen zur Gewalt   66
        H.  Weitere öffentliche Interessen   70
    7. Beschränkungen der journalistischen Recherche   71
    8. Redaktionsgeheimnis / Quellenschutz (Art. 17 Abs. 3 BV und Art. 10 EMRK)   73
    9. Staatliche Pflicht zur Gewährleistung freier Kommunikation (Art. 10 EMRK)   76
    10. Zensurverbot (Art. 17 Abs. 2 BV)   77

II. Informationszugang für Medien und Allgemeinheit (Art. 17 und 16 Abs. 3 BV; Art. 10 EMRK)
    1. Informationszugang gestützt auf die EMRK   78
    2. Informationszugang gestützt auf Bundesrecht (BGÖ, Archivierungsgesetz)   81
    3. Informationszugang gestützt auf kantonales Recht   84
    4. Anspruch auf rechtsgleiche und willkürfreie amtliche Information (Art. 8 und 9 BV)   87
    5. Gerichtsöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 6 EMRK)
        A.  Öffentlichkeit der Verhandlung   88
        B.  Öffentlichkeit des Urteils ab Verkündung    89
        C.  Weitere Aspekte   90
    6. Amtliche Pflicht zur Anonymisierung von Informationen   91

III.  Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK)   92

IV.  Radio und Fernsehen (Art. 93 BV; Art. 10 EMRK)
    1. Redaktioneller Inhalt von Radio- und Fernsehprogrammen
        A.  Bundesgerichtspraxis   95
        B.  Rechtsprechung des EGMR   97
    2. Weitere Aspekte   101

V.  Verfassungs- und konventionsrechtliche Aspekte der Online-Kommunikation (Art. 16, 17 und 27 BV; Art. 10 EMRK)
    1. Recht auf Zugang zu Online-Informationen   104
    2. Verantwortlichkeit für rechtswidrige Äusserungen
        A.  Haftung für eigene Äusserungen, Links und anderes Weiterverbreiten   105
        B.  Haftung für Kommentare von Dritten   107
        C.  Weitere Aspekte   110
    3. Sperren und andere Beschränkungen des Zugangs zu Online-Inhalten   111
    4. Staatliche Schutzpflichten im Online-Bereich   113



Einleitung

1

Die Rechtsprechung des Jahres 2022 beinhaltet neben zahlreichen Entscheiden zu bekannten Rechtsfragen auch eine Reihe von grundlegenden Urteilen mit Leitcharakter. Dazu gehören die Urteile zur Klagebefugnis des Gemeinwesens gegen rufschädigende Medienberichte, zum Rechtsschutz gegen die Löschung nutzergenerierter Kommentare im Online-Angebot der SRG und zur Verhinderung rassistischer Userkommentare auf sozialen Plattformen.

2

Die Berichterstattung zur verfassungs- und menschenrechtlichen Kasuistik ergänzt wie in den Vorjahren die bereits in medialex erschienenen Jahresübersichten zur Rechtsprechung auf Gesetzesstufe (zum Strafrecht, Programmrecht, Zivilrecht und zum BGÖ):

Miriam Mazou/Marie Besse, Morceaux choisis de jurisprudence pénale rendue durant l’année 2022 en lien avec les médias, medialex 05/23 vom 6. Juni 2023

Oliver Sidler, Rechtsprechungsübersicht 2022 der unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI, medialex 06/23 vom 6. Juli 2023.

– Louis Wéry/Jonas Dupraz, Aperçu de la jurisprudence fédérale, cantonale et internationale rendue durant l’année 2022 en matière de droit civil en lien avec les médias, medialex 08/23 vom 9. Oktober 2023.

Daniel Ladanie-Kämpfer/Annina Keller, Überblick über praxisrelevante Entscheide des Jahres 2022 zum Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ), medialex 03/23 vom 11. April 2023.

Einzelne der in diesen Übersichten erörterten Bundesgerichtsentscheide werden in der vorliegenden Zusammenstellung ebenfalls thematisiert, falls sie verfassungs- oder konventionsrechtliche Fragen aufwerfen.

3

Wie üblich greift die Entscheidübersicht ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige zentrale Urteile der Lausanner und der Strassburger Rechtsprechung heraus. Sie will die wichtigsten staats- und menschenrechtlichen Entwicklungen des Rechtsprechungsjahres 2022 auf dem Gebiet freier (Massen-)Kommunikation dokumentieren und punktuell würdigen.

4

Die Übersicht folgt der gleichen Systematik wie in den Vorjahren. Ausgangspunkt ist die etablierte Dogmatik für die Beschränkung von Freiheitsrechten: Zunächst ist zu klären, ob überhaupt eine staatliche Beschränkung des grundrechtlich garantierten Freiraums vorliegt (nachstehend I/2). In einem zweiten Schritt fragt sich, ob der hoheitliche Eingriff sämtliche Voraussetzungen für eine rechtmässige Grundrechtsbeschränkung (Art. 36 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK) erfüllt (nachstehend I/3-6). Spezielle Abschnitte widmen sich der freien Recherche (I/7), dem journalistischen Quellenschutz (I/8) sowie der staatlichen Pflicht zur Gewährleistung und zum aktiven Schutz freier Kommunikation (I/9). Behandelt werden sodann Rechtsfragen des Zugangs zu amtlichen Informationen (II) und des oft mit der Medienfreiheit kollidierenden Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK (III). Den Abschluss bilden die verfassungs- und konventionsrechtlichen Aspekte von Radio und Fernsehen (IV) und die Rechtsprechung zur Online-Kommunikation (V).

I. Medien-, Meinungs-, Wissenschafts-, Kunst- und Wirtschaftsfreiheit

1. Allgemeines

5

Im Berichtsjahr stellte sich verschiedentlich die Frage, welches von verschiedenen Grundrechten durch einen staatlichen Eingriff beschränkt wird. Auch die Opfereigenschaft als Voraussetzung für die Beschwerdeberechtigung beschäftigte die Justiz mehrmals.

2. Staatliche Eingriffe in grundrechtlich geschützte Kommunikation

A. Geltungsbereich: Welche Freiheitsrechte sind betroffen?

6

BGE 148 II 273 (Einsicht ins Bundesarchiv) hält fest, dass die einem Historiker verweigerte Einsicht in Akten des Bundesarchivs das in Artikel 20 der Bundesverfassung garantierte Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit beschränkt (E. 6.5.2). Der bundesgerichtliche Leitentscheid hält fest, Art. 20 BV sei bei Einsichtsgesuchen zum Zwecke historischer Forschung durchaus tangiert, selbst wenn das Archivierungsgesetz kein eigentliches Wissenschaftsprivileg verankere. Die zuständigen Bundesbehörden müssen in ihrer Güterabwägung die Wissenschaftsfreiheit gebührend berücksichtigen. (Näheres zu dieser Abwägung hinten Rn. 82).

7

Den verbotenen Besitz von Pornografie im Gefängnis überprüfte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Urteil „Chocholáč c. Slowakei“ 81292/17 vom 07.07.2022 [Importance Level (IL) 2]. Er tat dies unter dem Blickwinkel des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK – Eingriff im Falle eines lebenslänglich inhaftierten Mörders unverhältnismässig), nicht aber hinsichtlich des Anspruchs auf Zugang zu Informationen (Art. 10 EMRK).

B. Eingriff: Staatliche Schmälerung des grundrechtlichen Freiraums?

a) Wird das Grundrecht überhaupt beschränkt?
8

Die Bestrafung einer Menschenrechtsaktivistin wegen Verletzung einer russischen Gesetzesvorschrift zur Meldung ausländischer Bewohner tangierte die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) nicht. Im EGMR-Urteil „Kotlyar c. Russland“ (Scheinmeldung an die Behörde) 38825/16 vom 12.07.2022 [Importance Level (IL) 2] verneinte die 3. Kammer einstimmig, dass die Strafe für die aus Protest gegen die russischen Meldevorschriften eingereichte Scheinmeldung von mehr als 100 angeblich in ihrer Wohnung lebenden Migranten einen staatlichen Eingriff in die freie Kommunikation bedeutete. Das russische Gesetz ziele nicht auf die Beschränkung einer kommunikativen Tätigkeit («communicative activity»). Die Aktivistin hatte ihre Auffassung in den Medien und in Schreiben an die Behörden kundtun können. (Strafrechtlich verbotene) Handlungen, die nicht zur Kundgabe der eigenen Auffassung nötig sind, bewegen sich laut EGMR ausserhalb des Geltungsbereichs der Meinungsfreiheit. In einer solchen Konstellation sind die Beschränkungsvoraussetzungen von Art. 10 Abs. 2 EMRK (gesetzliche Grundlage, legitimier Eingriffszweck, Notwendigkeit der Sanktion) nicht zu prüfen. Bei Strafsanktionen greift immerhin Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz). Dieses Menschenrecht wurde im Fall der Aktivistin missachtet.

b) Verursacht die Grundrechtsbeschränkung einen erheblichen Nachteil (Art. 35 Abs. 3 Bst. b EMRK)?
9

Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.

C. Betroffenheit: Befugnis zur Beschwerde gegen einen Eingriff

10

Gemäss ständiger Rechtsprechung kennt die EMRK keine Popularbeschwerden für nicht direkt betroffene Personen. Wer Beschwerde führt, muss von der Wirkung eines staatlichen Eingriffs nachteilig betroffen sein und ein berechtigtes persönliches Interesse an dessen Beendigung haben. Dies verneinte der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Ines de Pracomtal + Fondation Jérôme Lejeune c. Frankreich“ (Kurzfilm über Downsyndrom)34701/17 + 35133/17 vom 07.07.2022 [IL 3]. Die französische Medienregulierungsbehörde CSA (Conseil supérieur de l’audiovisuel) hatte im Juli 2014 ein Schreiben an verschiedene Fernsehveranstalter gesandt. Diese hatten in ihrem Werbeblock einen von der Stiftung Jérôme Lejeune mitfinanzierten Kurzfilm mit dem Titel „Chère future maman“ ausgestrahlt. Darin wenden sich junge Menschen mit Downsyndrom an eine fiktive schwangere Frau, die eben erfahren hat, dass sie ein Kind mit Trisomie 21 erwartet. Der CSA schrieb den Sendunternehmen, dieser Film sei weder als Werbung noch als Einschaltung im allgemeinen Interesse zu qualifizieren. Sie sollten künftig achtsamer mit der Ausstrahlung von kontroversen Inhalten umgehen. In einer Verfügung hielt der CSA fest, die Ausstrahlung im Werbeblock sei unangemessen. Rechtsmittel gegen den Brief und die Verfügung des CSA lehnte der Conseil d’État ab. 2017 verweigerten die Sendeunternehmen die von der Stiftung gewünschte erneute Ausstrahlung des Kurzfilms zum Welttag des Downsyndroms. Gegen das Verhalten der Sender wehrte sich die Stiftung bei der französischen Justiz nicht. Ein dreiköpfiger Ausschuss der 5. Kammer erklärte die Beschwerde einstimmig für unzulässig. Zwar sei davon auszugehen, dass es zwischen dem Beschluss des CSA und der abgelehnten Ausstrahlung einen Zusammenhang gebe. Der Nichtausstrahlungsentscheid sei aber nicht vom CSA gefällt worden, sondern von einem anderen Akteur. Der Stiftung fehle die von Art. 34 EMRK verlangte Opfereigenschaft und ihre Beschwerde sei mangels erheblichen Nachteils unzulässig (Art. 35 Abs. 3 Bst. a EMRK).

11

Die Opfereigenschaft fehlte auch beim EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Miska Teleradiokompaniya Chernivtsi, Tov c. Ukraine“ (ursprünglich verweigerte Lizenz für digitale TV-Verbreitung) 55592/13 vom 01.09.2022 [IL 3]. Einer Fernsehveranstalterin war 2011 die Lizenz für die digitale terrestrische Programmverbreiterin verweigert worden. Sie musste sich bis 2019 gedulden, bis sie die gewünschte Lizenz erhielt. In der Zwischenzeit konnte sie ihr Fernsehprogramm in analoger Technologie ausstrahlen. Sie war daher zu keinem Zeitpunkt daran gehindert, ihr Publikum zu bedienen. Das Unternehmen war kein Opfer einer Konventionsverletzung (Art. 34 EMRK). Offensichtlich unbegründet war die Beschwerde im Fall „Teleradiokompaniya Era, Tov c. Ukraine“ (verweigerte Lizenz für digitale TV-Verbreitung)24064/13 vom 01.09.2022 [IL 3]. Die beschwerdeführende Fernsehveranstalterin war 2011 bei der Vergabe digitaler Lizenzen leer ausgegangen. Sie hatte allerdings eine Lizenz zur Verbreitung über Satellit, mit der sie ein grösseres Publikum hätte erreichen können als mit der digitalen terrestrischen Verbreitung ihres Fernsehprogrammes. Ein dreiköpfiger Ausschuss der 5. Kammer des EGMR erklärte die Beschwerde als unzulässig.

Verbot des Missbrauchs der Konventionsrechte (Art. 17 EMRK)

12

Eine immer wichtigere Hürde für die inhaltliche Prüfung staatlicher Eingriffe in die freie Kommunikation ist Artikel 17 EMRK («Missbrauchsklausel»). Diese Konventionsbestimmung richtet sich gegen den Missbrauch der EMRK-Rechte durch Handlungen, die auf Abschaffung der in der Konvention festgelegten Rechtsansprüche und Freiheiten zielen: Wer im Sinne von Art. 17 ein EMRK-Recht missbraucht, verlässt den konventionsrechtlichen Schutzbereich. In besonders krassen Fällen von Hassrede hat es der Gerichtshof daher abgelehnt, nationale Schuldsprüche auf ihre Vereinbarkeit mit der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) zu untersuchen (vgl. den vom EGMR publizierten Guide on Article 17 of the European Convention on Human Rights – Prohibition of abuse of rights; www.echr.coe.int/Documents/Guide_Art_17_ENG.pdf). Im Berichtsjahr wurde Artikel 17 EMRK in verschiedenen Fällen thematisiert, doch kam er letztlich nicht zur Anwendung.

13

Im EGMR-Urteil „Zemmour c. Frankreich“ (Hass gegen Muslims)63539/19 vom 20.12.2022 [IL 2] prüfte der Gerichtshof das Argument der französischen Regierung, die islamfeindlichen Interviewaussagen eines umstrittenen Politikers stellten einen Missbrauch der Konventionsrechte dar. Der Gerichtshof schilderte in seiner Urteilsbegründung (§ 25-28) seine bisherige Rechtsprechung zu Art. 17 EMRK und hielt fest, die provokativen Äusserungen seien nicht gravierend genug. Der Gerichtshof prüfte deshalb, ob Zemmours strafrechtliche Verurteilung sämtliche Voraussetzungen für eine Beschränkung der Meinungsfreiheit erfüllte (Art. 10 Abs. 2 EMRK), ­ was er einstimmig bejahte (zur Prüfung von Art. 10 Abs. 2 EMRK in diesem Fall vgl. hinten Rn. 53).

14

In anderen Fällen erwähnte der Gerichtshof Art. 17 EMRK, liess aber letztlich offen, ob die Missbrauchsklausel verletzt war. Dazu gehörte der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Alain Bonnet c. Frankreich“ (Chaplin vor Davidstern) vom 25.01.2022 N° 35364/19 (vgl. dazu hinten Rn. 59). Ebenfalls offen gelassen wurde die Anwendbarkeit von Art. 17 EMRK in den EGMR-Urteilen „Taganrog LRO u.a. c. Russland“ N° 32401/10 u.a. vom 07.06.2022 sowie „Ekrem Can u.a. c. Türkei“ N° 10613/10 vom 08.03.2022.

15

Kommentar: Selbst wenn der Gerichtshof 2022 letztlich keinen Missbrauch freier Kommunikation nach Art. 17 EMRK bejaht hat, ist diese Vorschrift in der Strassburger Rechtsprechung von unveränderter Aktualität. Dies belegt etwa der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Lenis c. Griechenland“ 47833/20 vom 27.06.2023 [IL 2]. Darin verweigerte der Gerichtshof dem Verfasser eines homophoben Blogposts die von ihm verlangte Prüfung seiner Verurteilung auf die Vereinbarkeit mit der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK). Seine Publikation gehöre nicht nur in die Kategorie schwerster Formen der Hassrede, sondern habe auch zur Gewalt aufgestachelt. Anders als in den 2022 beurteilten Fällen war für den Gerichtshof in dieser Konstellation die Schwelle zum Missbrauch der Konventionsrechte überschritten.

3. Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)

16

Nach ständiger Rechtsprechung verlangt jede Beschränkung grundrechtlich geschützter Kommunikation eine Gesetzesvorschrift, die eine nach den Umständen vernünftige Vorhersehbarkeit staatlichen Einschreitens ermöglicht. In eher seltenen Fällen hat der EGMR das Fehlen einer ausreichend präzise formulierten Gesetzesvorschrift moniert. Dazu gehört das Urteil „Karuyev c. Russland“ (Spucken auf Putin-Fotografie)4161/13 vom 18.04.2022 [IL 2]. Im Rahmen einer Performance hatte der oppositionelle Aktivist Karuyev auf eine Fotografie von Präsident Putin gespuckt. Für die Verurteilung zu einer 15tägigen Freiheitsstrafe gab es nach Auffassung der 3. Kammer des EGMR im russischen Recht keine genügende Grundlage. Der Gerichtshof brauchte daher nicht zu prüfen, ob der Schuldspruch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig (verhältnismässig) war. Zur Diskussion der Gerichtsminderheit über den Verhältnismässigkeitsaspekt vgl. hinten Rn. 23.

4. Berechtigtes Beschränkungsziel (Art. 36 Abs. 2 BV bzw. Art. 10 Abs. 2 EMRK)

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Staatliche Beschränkungen grundrechtlich geschützter Kommunikation kommen nur in Frage, wenn ein legitimer Eingriffszweck vorliegt. Art. 36 Abs. 2 BV verlangt ein öffentliches Interesse oder den Schutz von Grundrechten Dritter. Art. 10 Abs. 2 EMRK tut dies im Kern der Dinge ebenfalls, listet die einzelnen zulässigen Beschränkungsziele aber im Konventionstext auf. In der Strassburger Rechtsprechung gab es im Berichtsjahr ab und zu Diskussionen darüber, welche von verschiedenen denkbaren Eingriffszwecken in einem bestimmten Fall in die Abwägung einfliessen sollte und welche nicht.

18

Im Grundsatzurteil „NIT S.R.L. c. Republik Moldau“ (Lizenzentzug) N° 28470/12 vom 05.04.2022 [IL Key cases] akzeptierte die Grosse Kammer des EGMR, dass der Entzug einer Fernsehlizenz wegen einseitiger und tendenziöser Berichterstattung dem legitimen Zweck diente„ die «Rechte anderer» (Art. 10 Abs. 2 EMRK) zu schützen. Nicht zu überzeugen vermochte den Gerichtshof hingegen das Argument der moldawischen Regierung, der Lizenzentzug habe ebenfalls der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit und der Aufrechterhaltung der Ordnung gedient (zur anschliessenden Güterabwägung des EGMR zwischen den Rechten anderer und der Medienfreiheit vgl. hinten Rn. 97).

19

Unterschiedliche Auffassungen über die massgebenden Beschränkungsziele gab es in der 1. Kammer beim EGMR-Urteil „Rabczewska c. Polen“ (Bibelbeschimpfung durch Popsängerin)8257/13 vom 15.o9.2022 [IL 2]. Nach Auffassung der Kammermehrheit bezweckte ein wegen öffentlicher Verletzung religiöser Gefühle (Art. 196 des polnischen Strafgesetzbuchs) verhängter Schuldspruch den Schutz der Rechte anderer (§ 55 der Urteilsbegründung). In ihrer Minderheitsmeinung empfahlen die beiden Richter Gilberto Felici (San Marino) und Ioannis Ktsitakis (Griechenland) ein neues Vorgehen. Staatliche Eingriffe gegen religionskritische Äusserungen sollte der EGMR nicht mehr mit dem Eingriffszweck des Schutzes privater Rechte begründen, sondern allein mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung (religiöser Frieden). Dabei stützte sich die Minderheit auf die 2007 von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats verabschiedete Empfehlung 1805 (2007) über Blasphemie, religiöse Beleidigungen und Anstachelung zum Hass gegen Menschen aufgrund ihrer Religion. In Ziffer 15 fordert sie, es seien nur religionsbezogene Äusserungen zu bestrafen, «which intentionally and severely disturb public order and call for public violence». In die gleiche Richtung argumentierte die Menschenrechtsorganisation Article 19 in ihrer Drittintervention an den Gerichtshof. (Zur Güterabwägung des EGMR in dieser Angelegenheit vgl. hinten Rn. 63).

5. Primärer Eingriffszweck: Schutz privater Interessen (guter Ruf u.a.)

A. Schutz des Ansehens (guter Ruf, Art. 10 Abs. 2 EMRK)

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Wie üblich beschäftigte die Kollision zwischen Meinungsfreiheit und dem in Art. 10 Abs. 2 EMRK ausdrücklich erwähnten Schutz des guten Rufs sowohl den EGMR als auch das Bundesgericht. Dabei geht es nicht nur um Vorwürfe gegen Einzelpersonen, sondern immer öfter auch gegen Unternehmen, Vereinigungen oder Behörden. Besonders wichtig ist ein Grundsatzurteil des EGMR zur Klagebefugnis des Gemeinwesens (siehe Rn. 29).

a) Vorwürfe im politischen Zusammenhang (public figures)
21

Im EGMR-Urteil „Verein gegen Tierfabriken (VgT) & Kessler c. Schweiz N° 21974/16 vom 11. Oktober 2022 [IL 3] bemängelte ein Dreierausschuss der 3. EGMR-Kammer, dass der Beschwerdeführer zivilrechtlich verurteilt worden war, weil er einen gewählten Politiker aus dem Kanton Freiburg in seiner Persönlichkeit verletzt hatte. In seinen Broschüren hatte der VgT den damaligen Staatsrat Pascal Corminboeuf aus tierschützerischer Optik scharf angegriffen. Der EGMR erinnerte daran, dass die Grenzen zulässiger Kritik an Amtshandlungen von Politikern besonders weit gesteckt sind. Die abwertende Wortwahl in der Broschüre (z.B. „Ochse“ und „Abfall“) sprengte diese Grenzen nicht. Überdies warf die Kammer in ihrem einstimmigen Entscheid der schweizerischen Ziviljustiz vor, sie habe die vom VgT ins Feld geführten Argumente (bzw. Beweismittel) nicht ausreichend geprüft und die geforderte Abwägung zwischen Corminboeufs Recht auf Privatleben und dem Recht des Vereins auf freie Meinungsäusserung unterlassen. Vor dem Hintergrund einer unerschrockenen Debatte zu politischen Angelegenheiten waren die ausgesprochenen zivilrechtlichen Sanktionen unverhältnismässig. Die Pflichten zur Entfernung der Broschüren von der VgT-Website und zur Veröffentlichung des Urteilstenors in drei Zeitungen waren geeignet, eine abschreckende Wirkung («chilling effect») zu entfalten.

22

Kommentar: Christoph Born hat in seiner Urteilsbesprechung vom 8. Februar 2023 (Ein Politiker muss sich mehr gefallen lassen als eine einfache Privatperson, medialex 01/23) auf vereinzelte Schwachstellen der Strassburger Urteilsbegründung hingewiesen. Gewisse Unschärfen des EGMR-Urteils könnten damit zu tun haben, dass der Gerichtshof davon ausging, hier brauche er für einmal nicht einen komplexen Grenzfall subtil auszubalancieren. Auf dem sonst oft heiklen Terrain kollidierender Konventionsrechte war der Fall VgT & Kessler für den EGMR eine relativ klare Angelegenheit. Dies dokumentiert seine Kernaussage: Das Bundesgericht blieb eine überzeugende Begründung dafür schuldig, weshalb der Anspruch des Regierungsmitglieds Corminboeuf auf Schutz seines Rufes über das Recht auf die Äusserung unverblümter Kritik an einem gewählten Magistraten gestellt werden musste. Im politischen Meinungsstreit dürfen verbale Angriffe auch auf die Person der Akteure zielen. Wichtig ist, dass die beissende Kritik des VgT die Amtsführung des Staatsrats aufs Korn nahm und nicht etwa Vorgänge aus seiner Privatsphäre. Angesichts der offenkundig unzureichenden Argumentation der Schweizer Ziviljustiz war es folgerichtig, dass der EGMR die Angelegenheit im vereinfachten Verfahren für Fälle gefestigter Rechtsprechung mit bloss drei Richtern erledigen konnte (Ausschuss nach Art. 28 Abs. 1 Bst. b EMRK für Fälle von «well-established case-law of the Court»). Aus Strassburger Sicht handelte es sich hier also gewissermassen um einen Dutzendfall. Ob er aus schweizerischer Sicht ein Ausnahmefall bleiben wird, bleibt abzuwarten. Beim Gerichtshof ist ein weiteres Verfahren gegen ein zivilrechtliches Urteil des Bundesgerichts hängig (Beschwerde N° 14652/22 «Benito Perez u.a. c. Schweiz» zum Urteil 5A_612/2019 der II. zivilrechtlichen Abteilung vom 10.09.2021 über eine rufschädigende Publikation der Tageszeitung «Le Courrier»).

23

Beim vorne (Rn. 16) erwähnten EGMR-Urteil „Karuyev c. Russland“ (Spucken auf Putin-Fotografie)4161/13 vom 18.04.2022 [IL 2] äusserten sich zwei Gerichtsmitglieder zur Frage der Verhältnismässigkeit einer Bestrafung. In seiner abweichenden Minderheitsmeinung bezeichnete der russische Richter Dmitry Dedov den Schuldspruch als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft. Nicht zuletzt zum Erhalt einer friedfertigen gesellschaftlichen Atmosphäre sei es ein universelles und fundamentales Prinzip, dass Meinungen respektvoll zu äussern sind. Die an Hassrede grenzende Respektlosigkeit des oppositionellen Aktivisten Karuyev sei gefilmt und über Internet verbreitet worden. Sie gehöre bestraft. Diametral anderer Auffassung war der albanische Richter Darian Pavli. Der überwiegend satirische Protest gegen das russische Staatsoberhaupt habe die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt und auch nicht zu einem polizeilichen Einschreiten geführt. Pavli erinnerte daran, dass in Osteuropa unlängst Personen für das Erzählen von Witzen über Politbüromitglieder in Arbeitslager gesteckt worden seien. Auch in Demokratien sollte der Respekt vor der Staatsspitze nicht mit der Androhung von Freiheitsstrafen gesichert werden.

24

Dass vulgäre Kritik an Politikern über das Ziel hinausschiessen kann, belegte etwa das EGMR-Urteil „Pretorian c. Rumänien» (Bastard) N° 45014/16 vom 24.05.2022 [IL 3]. Eine Wochenzeitung beleidigte in einem satirischen Text einen Politiker u.a. als «liberalen Bastard», machte sexuelle Unterstellungen und spielte auf Alkoholmissbrauch an. Für die überspitzten und teils auf blossen Gerüchten beruhenden, stigmatisierenden Werturteile gab es keine ausreichende Tatsachengrundlage, und der Politiker hatte diesen journalistischen Exzess auch nicht provoziert.

b) Vorwürfe gegen andere öffentlich exponierte Akteure
25

Die ehrenrührige Kritik an Tierschützern beurteilte die II. zivilrechtliche Abteilung in BGer 5A_654/2021 vom 13.01.2022 (Fernsehen Tele Top ­ Mahnwache). In seiner News-Sendung vom 10. November 2018 kritisierte das Regionalfernsehen Tele Top V den Verein gegen Tierfabriken (VgT) und Erwin Kessler (bis zu seinem Tod im September 2021 Präsident und Geschäftsführer des VgT). Die Auswahl der gezeigten Szenen aus einem vom VgT veröffentlichten Original-Video suggerierte laut Bundesgericht dem Fernsehpublikum, dass der VgT einem Schafzüchter aus Herrenhof TG grundlos strafbares Verhalten vorgeworfen hatte (Tierquälerei). Mit dem von ihr selbst zusammengeschnittenen und um nachgestellte Aufnahmen ergänzten Videoausschnitt habe die Tele Top-Redaktion den Anspruch des VgT, als ehrliche und der Sache des Tieres verpflichtete Organisation zu gelten, empfindlich herabgesetzt. Vergeblich berief sich Tele Top auf seinen Informationsauftrag als Medienunternehmen. Dieser vermag nach bundesgerichtlicher Praxis die öffentliche Verbreitung von Unwahrheiten nicht zu rechtfertigen (E. 4.2). Zur strafrechtlichen Problematik des heimlich erstellten Originalvideos aus dem Schafstall vgl. hinten Rn. 40ff.

26

Kommentar: Fast drei Jahre vor dem Bundesgericht befasste sich bereits die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) mit dem gleichen Beitrag der Fernsehsendung «Top News». In ihrem Entscheid b. 802 vom 29.03.2019 bejahte die UBI-Mehrheit einen Verstoss gegen das Sachgerechtigkeitsgebot von Art. 4 Abs. 2 des Radio- und Fernsehgesetzes (RTVG). Für das Fernsehpublikum sei nicht erkennbar gewesen, dass es sich bei der ausgestrahlten Videosequenz teils um nachgestellte Szenen handelte und dass die ausgewählten Originalbilder vergleichsweise harmlos waren. Überdies habe es Tele Top unterlassen, dem Publikum notwendige Hintergrundinformationen zur Mahnwache des VgT zu vermitteln. Steht beim UBI-Entscheid die Optik des Publikums im Vordergrund, geht es beim Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung um die Sichtweise des in seinen Persönlichkeitsrechten betroffenen Vereins.

27

Keine public figure war gemäss EGMR-Urteil „Mesic c. Kroatien“ (Anwalt eines Strafanzeigers) 19362/18 vom 05.05.2022 [IL 2] der vom damaligen Staatspräsidenten Stjepan Mesić angegriffene Anwalt eines Mannes, der 2006 in Frankreich im Namen seines Klienten eine Strafanzeige gegen elf Personen eingereicht hatte (wegen Beihilfe zum Mord und Erpressung durch eine kriminelle Organisation). Auf Anfrage von Medienschaffenden hatte sich der Anwalt jeglichen Kommentars zur von ihm eingereichten Anzeige enthalten. Er habe sich deshalb nicht willentlich ins öffentliche Rampenlicht begeben (§ 96).

c) Rufschädigende Vorwürfe gegen besonders geschützte Personen
28

Die Begründung des EGMR-Urteils Patrício Monteiro Telo de Abreu c. Portugal“ (Satirische Politcartoons) N° 42713/15 vom 07.06.2022 [IL 2] verdeutlicht, dass ehrenrührige Publikationen besonders problematisch sind, wenn sie den guten Ruf weiblicher Personen durch die Verwendung sexistischer Klischees beeinträchtigen (ausführlicher zu diesem Fall hinten Rn. 57).

d) Weitere Aspekte: Klage von Gemeinwesen als Konventionsverstoss
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In einem Grundsatzurteil hat der Gerichtshof die Aktivlegitimation des Gemeinweisens für persönlichkeitsrechtliche Klagen behandelt. Das EGMR-Urteil „OOO Memo c. Russland” (Klagebefugnis für Gemeinwesen) N° 2840/10 vom 15.03.2022 (IL Key cases) bejahte einen Konventionsverstoss durch eine Verleumdungsklage, die eine russische Regionalbehörde gegen die Betreiber der russischen Webseite Kavkazskiy Uzel eingereicht hatte. Im beurteilten Fall ging es um eine Zivilklage als Reaktion auf einen Online-Artikel, der das Exekutivorgan wegen der Kürzung von Mitteln an die Stadt Wolgograd kritisiert hatte. Die Regionalbehörde empfand dies als Vorwurf unsauberer Tätigkeit und erwirkte bei der Ziviljustiz, dass Kavkazskiy Uzel eine Richtigstellung publizieren musste. Der EGMR hielt fest, die Zulassung einschüchternder Verleumdungsklagen durch Regierungsstellen belaste die beklagten Medien übermässig. Solche Ehrenschutzverfahren könnten ihre Funktion als Informationsquelle und als Wachhunde der Öffentlichkeit (public watchdogs) beeinträchtigen. Die Interessen eines staatlichen Exekutivorgans an seiner intakten Reputation unterschieden sich ganz erheblich vom Anspruch auf Wahrung des guten Rufs, der neben natürlichen Personen auch jenen juristischen Personen zusteht, die im wirtschaftlichen Wettbewerb stehen (seien es private oder öffentliche Unternehmen). Ehrverletzungsverfahren von Körperschaften mit staatlichen Befugnissen dienten hingegen nicht dem berechtigten Zweck des «Schutzes des guten Rufes … anderer» (Artikel 10 Absatz 2 EMRK). Der EGMR verwies auf das Machtgefälle und hielt fest, es sei kein legitimes Ziel, Exekutivbehörden durch Gerichtsverfahren vor journalistischer Kritik abzuschirmen. Ein legitimer Zweck für die Beschränkung der Medienfreiheit existiere bloss in Fällen, in denen sich ein Gemeinwesen als Marktteilnehmer bei einem Zivilgericht für seine wirtschaftliche Reputation wehre. Überdies könnten erkennbar angegriffene Behördenmitglieder in ihrem eigenen Namen klagen. Das Gemeinwesen dürfe hingegen aus konventionsrechtlicher Sicht nicht als aktivlegimitierte Klagepartei auftreten.

30

Kommentar: Das Leiturteil wurde zwar einstimmig gefällt, doch wehrten sich drei von sieben Gerichtsmitgliedern gegen die grundsätzliche Argumentationslinie der Mehrheit. Gemäss Minderheitsauffassung fehlten ausreichenden Gründe für die radikale Abkehr von der bisherigen Strassburger Rechtsprechung. In mehreren früheren Fällen habe der EGMR einen legitimen Eingriffszweck bejaht und eine einzelfallweise Verhältnismässigkeitsprüfung vorgenommen, bspw. unlängst im Fall «Freitas Rangel c. Portugal» N° 78873/13 am 11.01.2022 (Beleidigung richterlicher und staatsanwaltlicher Verbände, § 53). Nach Ansicht der unterlegenen Minderheit sollte der EGMR nicht ausschliessen, dass die betroffene Behörde beim Schutz ihres Ansehens ein berechtigtes Anliegen verfolge. Deshalb sei stets eine Güterabwägung angezeigt (die vorliegend zugunsten der Medien ausfallen würde). Der vierköpfigen Kammermehrheit ging es jedoch unverkennbar darum, ein deutliches Zeichen für die Medienfreiheit zu setzen. In § 23 seiner Urteilsbegründung erwähnte der EGMR denn auch erstmals die hochaktuelle Problematik der SLAPPs (Strategic Litigation Against Public Participation = Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung), die der Europarat in einer Empfehlung an seine Mitgliedstaaten aufgreifen will (zum Thema siehe auch REGULA BÄHLER, «<SLAPP> und <SLAPP-back>: Goliath und David», medialex 02/22).

B. (Journalistische) Sorgfalt bei rufschädigenden Vorwürfen

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Bei rufschädigenden Tatsachenbehauptungen steht regelmässig die Frage im Zentrum, ob unzutreffende Vorwürfe im Einklang mit der journalistischen Ethik geäussert wurden und ob Medienschaffende mit der Sorgfalt gehandelt haben, die verantwortungsvoller Journalismus gebietet. Die Rechtsprechung zu diesen Fragen war auch im Berichtsjahr umfangreich. Anschaulich geschildert werden die grossen Linien der Judikatur in der Dissertation von Nora Camenisch, Journalistische Sorgfalt: Rechtliche und medienethische Anforderungen, Zürich 2022 und in Camenischs Aufsatz «Sorgfaltspflichten zu kennen ist essenziell – Leitlinien und Unterschiede der rechtlichen und medienethischen Anforderungen an die journalistische Sorgfalt», medialex 04/23 vom 5. Mai 2023.

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In der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gab es wie üblich Beispiele von ausreichender und unzureichender Sorgfalt. Sie betrafen allerdings nicht journalistische Äusserungen, sondern von Privaten erhobene Vorwürfe. Der Entlastungsbeweis des guten Glaubens scheiterte etwa beim ehrverletzenden und unzutreffenden Vorwurf der Entsorgung giftiger Abfälle (Bundesgerichtsurteil 6B_1461/2021 vom 29.08.2022). Der Nachweis ausreichender Sorgfalt gelang hingegen bei dem vom BGer 6B_1296/2021 (Vorwurf der Spielmanipulation) vom 30.06.2022 beurteilten Bericht über die Verfehlungen von Verantwortlichen eines albanischen Fussballclubs. Nach den Worten des Bundesgerichts gab es ausreichende Gründe für die in einem Bericht an die Ethikkommission der UEFA erhobenen Vorwürfe gegen die Verantwortlichen des Proficlubs, der wegen systematischer Spielmanipulation sanktioniert worden war.

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Mit der Sorgfalt rufschädigender Publikationen von Medienschaffenden befasste sich der EGMR 2022 in mehreren Fällen. In der Strassburger Judikatur gab es auch im Berichtsjahr mehrere Beispiele für genügende und ungenügende Sorgfalt bei der journalistischen Recherche. Ausreichend sorgfältig handelte eine kleine satirische Zeitschrift, welche die Profiteure des Hafenmonopols von Madeira kritisiert hatte (EGMR-Urteil „Welsh & Silva Canha c. Portugal“ (Madeira) N° 58106/15 vom 30.08.2022 [IL 3]). Bei ihren Vorwürfen gegen ein Vorstandsmitglied durfte sie sich in guten Treuen auf die Publikationen verlässlicher Dritter stützen (überregionale Zeitungen). Eine unzureichende Überprüfung gravierender Vorwürfe bemängelte der Gerichtshof hingegen im Urteil „Azadliq und Zayidov c. Aserbaidschan“ (Korruptionsmaschine im Umfeld des Präsidenten) N° 20755/08 [IL 2]. Die von einer Tageszeitung ohne minimalen Faktencheck als Tatsachen präsentierten Korruptionsgerüchte rechtfertigten eine Sanktion. Die Höhe der Entschädigungsbeträge war allerdings überrissen. Sie betrug im Falle des verurteilten Chefredaktors mehr als das Neunfache des durchschnittlichen Jahresgehalts.

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Ein besonderes Augenmerk legt der EGMR auf die Verbreitung der Auffassung von Drittpersonen durch Journalistinnen und Journalisten. Nach etablierter Strassburger Rechtsprechung braucht es besonders überzeugende Gründe, wenn Medienschaffende für die blosse Schilderung ehrenrühriger Äusserungen von Aussenstehenden verantwortlich gemacht werden sollen. Sie fehlten etwa beim EGMR-Urteil „ZAO Informatsionnoye agentstvo ‹Rosbalt› c. Russland“ (verdächtige Dissertation eines Politikers) N° 16503/14 vom 24.05.2022 [IL 3]. Konventionswidrig war auch die zivilrechtliche Verurteilung von Medienschaffenden, die dem Geheimdienstchef den Missbrauch seiner Amtsgewalt in einer Privatangelegenheit vorgeworfen hatten. Das EGMR-Urteil „Kostova & Apostolov c. Nordmazedonien“ (Vorwürfe gegen Geheimdienstchef) N° 38549/16 vom 05.04.2022 [IL 3] hält fest, dass sich der Artikel der Wochenzeitung auf Aussagen eines Beamten stützte, die sich die Medienleute nicht zu eigen gemacht und die sie auch zu verifizieren versucht hatten. Anders präsentierte sich die Situation jedoch beim Dokumentarfilm, der im EGMR-Urteil „Ghimpu u.a. c. Republik Moldau“ (Erstürmung des Präsidentenpalasts) 24791/14 vom 01.02.2022 [IL 3] zu beurteilen war. Im Film ging es um die Verantwortung der Liberalen Partei und ihrer Vorsitzenden für die gewalttätigen Ausschreitungen nach den Wahlen von 2009. Der Filmautor hatte nicht nur die Aussagen seiner Interviewpartner wiedergegeben, sondern seine weitergehenden persönlichen Stellungnahmen hinzugefügt.

C.  Ansehensschutz bei Satire, Sarkasmus, Ironie und Humor

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Eine zulässige Satire bejahte das EGMR-Urteil Patrício Monteiro Telo de Abreu c. Portugal“ (Satirische Politcartoons) N° 42713/15 vom 07.06.2022 [IL 2]. Ausführlicher zu diesem Fall hinten Rn. 57.

D.  Schutz privater Interessen bei Vorwürfen strafbaren Verhaltens

a)  Unschuldsvermutung, Recht auf fairen Prozess, Resozialisierung
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Im EGMR-Urteil „RTBF c. Belgien (Nr. 2)“ (Sexvideos von Ringkämpfen)417/15 vom 13.12.2022 [IL 3] beanstandete der Gerichtshof eine geringfügige Sanktion, welche die belgische Ziviljustiz nach einem 52-minütigen Fernsehbericht über ein tatverdächtiges Paar ausgesprochen hatte. Die im Januar 2006 ausgestrahlte TV-Reportage zeigte Aufnahmen einer Hausdurchsuchung, die im Anschluss an die Anzeige einer jungen Frau vorgenommen worden war. In der Wohnung des angezeigten Paars beschlagnahmten die Polizeikräfte Sex-Videokassetten der vom Paar veranstalteten Ringkämpfe mit nackten (und teils minderjährigen) Personen. Die belgische Ziviljustiz hiess eine Zivilklage des Paars gut und sprach ihm eine symbolische Genugtuungssumme von je einem Euro zu. Sie bemängelte die fehlende Neutralität und den sarkastischen Tonfall der Fernsehreportage. Die 2. Kammer des EGMR war jedoch einhellig der Ansicht, dass der Bericht weder die Unschuldsvermutung verletzt noch einen verpönten «trial by media» geführt habe. Die RTBF-Redaktion hatte auf die Unschuldsvermutung hingewiesen und auch in der nonverbalen Kommunikation die Grenzen des Zulässigen respektiert. Gesamthaft gesehen schilderte die Reportage nach Auffassung des EGMR lediglich eine bestehende Verdachtslage. Wesentlich war für den Gerichtshof auch der Umstand, dass die belgischen Behörden nicht festgestellt hatten, der Fernsehbericht habe die laufenden Ermittlungen beeinträchtigt oder die späteren Entscheide der Strafjustiz (sie verurteilte das Paar 2014) beeinflusst.

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Zu weit ging die Bezeichnung einer Person als «verurteilter Neonazi», die vor zwei Jahrzehnten schuldig gesprochen und seither nicht mehr straffällig geworden war. Im EGMR-Urteil „Mediengruppe Österreich GmbH c. Österreich“ (Verurteilter Neonazi) N° 37713/18 vom 26.04.2022 [IL 2] akzeptierte die 4. Kammer des EGMR mit 4 gegen 3 Stimmen ein Zivilurteil auf Unterlassung der fraglichen Bezeichnung und Entschädigung. Vor dem Hintergrund der Resozialisierung von Straftätern betonte die Kammermehrheit das legitime Interesse des Betroffenen, nicht länger mit seinen lange zurückliegenden und aus dem Strafregister gelöschten Taten konfrontiert zu werden (§ 49 un d 70).

b) Behördliche Äusserungen über identifizierte Tatverdächtige
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Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.

E. Schutz der geschäftlichen Reputation von Marktteilnehmern

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Eine Art wirtschaftlichen Ehrenschutz gewährleistet das Bundesgesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG), das auch 2022 auf journalistische Berichterstattung angewendet wurde. Das Bundesgerichtsurteil 4A_475/2021 (Schwarzarbeit – Millionenskandal) vom 24.03.2022 stützte einen Entscheid des bernischen Handelsgerichts, das keinen UWG-Verstoss erkennen konnte. Die I. zivilrechtliche Abteilung verneinte eine Herabsetzung durch die SRF-Berichterstattung über die Wirtschaftskammer Baselland. Der Titel des Berichts («Millionenskandal oder formaljuristisches Problem?») stelle klar, dass beide Varianten denkbar sind. Zwar bleibe der Begriff «Millionenskandal» als Aufhänger im Gedächtnis haften, doch sei ein Titel notwendigerweise verkürzend (E. 6.3.2). Die von der Beschwerdeführerin behauptete skandalträchtige Diktion sprenge die lauterkeitsrechtlichen Grenzen des Journalismus nicht, zumal Medienschaffende über einen stilistischen Gestaltungsspielraum verfügen müssten und ihr Publikum oft in der Lage sei, reisserische Überschriften, Sensationshascherei oder übermässige Vereinfachungen zu relativieren (E. 6.3.3). Medienberichte über wirtschaftliche Zusammenhänge sind laut Bundesgericht nicht herabsetzend, sofern sie nicht in ein eigentliches Anschwärzen, Verächtlich- oder Heruntermachen ausarten. Eine kritische Auseinandersetzung mit Wettbewerbsteilnehmern und deren Angeboten müsse zulässig bleiben (E. 6.3.6).

F.  Schutz der Privatsphäre vor Blossstellung (z.B. durch Abbildung)

a) Recht am eigenen Bild
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Eine Verletzung des Geheim- oder Privatbereichs durch Aufnahmegeräte (Art. 179quater Abs. 1 und Abs. 3 StGB) bejahte das Bundesgerichtsurteil 6B_56/2021 (Aufnahmen aus Schafstall) vom 24.2.2022. Die Strafrechtliche Abteilung akzeptierte den Schuldspruch gegen einen Mann, der 2018 mit starker Zoomfunktion tierquälerische Vorgänge im Schafstall des benachbarten Bauernhofs mit seiner Videokamera dokumentieren wollte. Die verbotenen Aufnahmen stellte er anschliessend dem Präsidenten des Vereins gegen Tierfabriken zu, der sie auf der VgT-Internetseite veröffentlichte. Die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts verwarf den Einwand, das Verhalten sei wegen der Wahrnehmung berechtigter Interessen erlaubt gewesen. Der Nachbar habe nicht dargelegt, weshalb er mit seinen Beobachtungen nicht primär an die Behörden (Veterinäramt, Polizei oder Staatsanwaltschaft) gelangt war (E. 2.4).

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Schuldig gesprochen wurde auch VgT-Präsident Kessler, dem das Thurgauer Obergericht eine bedingte Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu CHF 230 auferlegte. Kessler verstarb während des Beschwerdeverfahrens. Da seine Erben nicht zur Fortsetzung des Strafverfahrens legitimiert sind, schrieb das Bundesgericht ihre gegenstandslos gewordene Beschwerde vom Geschäftsverzeichnis ab (Verfügung der Strafrechtlichen Abteilung im Fall 6B_88/2021 vom 31.03.2022).

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Kommentar: Hinsichtlich der verbotenen Filmaufnahmen ist festzustellen, dass das Bundesgericht eine strenge Linie verfolgt, die auch der journalistischen Dokumentation von Missständen enge Grenzen zieht. Die Aufnahmen aus dem Schafstall in Herrenhof TG und deren anschliessende Publikation führten übrigens nicht nur zu den zwei erwähnten Strafurteilen, sondern auch zu einem Rechtsstreit vor der Ziviljustiz und der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI). Vgl. dazu vorne Rn. 25.

43

Im EGMR-Urteil „I.V.T. c. Rumänien” (Fernsehaufnahmen einer Elfjährigen) N° 35582/15 vom 1.3.2022 [IL 2] betonte der Gerichtshof, dass die vorherige Zustimmung der Erziehungsberechtigten zu Aufnahmen von Kindern nicht eine blosse Formalität ist. Sie sei essentiell für den Schutz von Minderjährigen. Hätte die Mutter im fraglichen Fall vom Interview gewusst, hätte sie es verhindern und das Recht ihrer Tochter am eigenen Bild wahren können (§ 54 der Urteilsbegründung; vgl. zu diesem Fall auch hinten Rn. 92).

b) Weitere Beeinträchtigungen der Privatsphäre
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Um die Tonaufnahme und anschliessende Publikation eines Gesprächs durch einen Journalisten ging es im Bundesgerichtsurteil 6B_1241/2020 vom 03.05.2022. In Dreierbesetzung verneinte die Strafrechtliche Abteilung eine Verletzung von Art. 179ter StGB. Massgebend ist nach höchstrichterlicher Praxis die begründete Erwartung des Betroffenen auf Vertraulichkeit seiner Worte. Sie fehlt einer Person, die sich zwecks öffentlicher Rache gegen ihren früheren Vorgesetzten an einen Medienschaffenden wendet und ihm im Lauf des (vom Journalisten heimlich aufgenommenen Gesprächs) freimütig eigene strafbare Handlungen schildert. Ob das Verhalten des Journalisten medienethisch oder zivilrechtlich in Ordnung ist, spielt laut Bundesgericht in strafrechtlicher Hinsicht keine Rolle.

G.  Art und Schwere der Sanktion bei (angeblich) rechtswidrigen Vorwürfen

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Art. 10 EMRK verlangt, dass staatliche Sanktionen gegen angeblich ehrverletzende oder sonstwie illegale Publikationen verhältnismässig sind. Besonders problematisch sind präventive Eingriffe in die freie Kommunikation. Nicht ohne Zögern akzeptierte das EGMR-Urteil „Yeremenko c. Ukraine” (Bericht über korrupte Justiz) N° 22287/08 vom 15.09.2022 [IL 2] letztlich eine einstweilige Massnahme gegen einen Zeitungsartikel über angebliche Korruption in der ukrainischen Justiz. Die Anordnung, den Artikel bis zum gerichtlichen Entscheid über die Verleumdungsklage von der Website zu entfernen, war konventionskonform. Der Gerichtshof hielt fest, diese Massnahme habe eine genügende gesetzliche Grundlage in der ukrainischen Zivilprozessordnung. Die offenkundigen Gefahren solcher präventiven Massnahmen verlangten eine äusserst sorgfältige Überprüfung durch das zuständige Gericht. Da der Artikel erst einen Monat nach der Publikation von der Internetseite entfernt wurde, sei die gerichtliche Anordnung verhältnismässig gewesen. Die Dringlichkeit führe zwangsläufig dazu, dass eine nuancierte und umfangreiche gerichtliche Begründung der provisorischen Massnahme nicht immer in Frage komme. Bedenklich sei allerdings, dass die ukrainische Justiz die einstweilige Verfügung derart knapp begründet hatte, dass deren Überprüfung für den Gerichtshof schwierig war. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles verletze dies die Meinungsfreiheit nicht.

Missachtet wurde Art. 10 EMRK hingegen durch das Urteil im Hauptverfahren. Dort wurde der Journalist zum Widerruf der umstrittenen Äusserungen verpflichtet und zur Bezahlung eines Schmerzensgeldes von rund 330 Euro verurteilt. Die ukrainischen Gerichte hatten beim Ehrverletzungsprozess die gebotene Interessenabwägung unterlassen und konnten damit den konventionsrechtlichen Anforderungen nicht genügen.

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Als offensichtlich unbegründet bezeichnete auch der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Wojciech Krysztofiak c. Polen” (Vorsorgliche verbotene Kritik an Kunstschule) N° 15355/14 vom 26.04.2022 [IL 3] die Beschwerde gegen eine einstweilige Verfügung. Sie untersagte einem Journalisten für die Dauer eines Jahres die rufschädigende Kritik an einer privaten Kunstschule.

6. Primärer Eingriffszweck: Schutz von Interessen der Allgemeinheit

A. Schutz staatlicher Geheimnisse

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2014 veröffentlichte eine spanische Zeitung einen Artikel über die angebliche Verschwörung von 33 katalanischen Richtern. Der Zeitungsbericht enthielt Fotos und Informationen, die wahrscheinlich aus einer polizeilichen Datenbank stammten. Vergeblich strengten die betroffenen Richter ein Strafverfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung an. Das EGMR-Urteil „M.D. c. Spanien” (Leck in polizeilicher Datenbank) 36584/17 vom 28.06.2022 [IL 2] hielt einerseits fest, dass die Polizeidatenbank mangels gesetzlicher Grundlage gegen den Anspruch der Richter auf Achtung ihres Privatlebens (Art. 8 EMRK) verstiess. Die spanischen Behörden verletzten aber auch ihre positive Pflicht zum Schutz von Art. 8 EMRK vor privaten Übergriffen, denn sie unterliessen nach dem Geheimnisbruch ausreichende Untersuchungsmassnahmen. Sie hatten das Strafverfahren eingestellt, ohne den Verantwortlichen für die Datenbank zu befragen.

B. Aufrufe zu Diskriminierung, Intoleranz, Hass und Gewalt

a) Bundesgericht
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2022 hat das Bundesgericht seine umfangreiche Rechtsprechung zu Art. 261bis StGB (Diskriminierung und Aufruf zu Hass) erweitert. Im Zentrum standen herablassende Äusserungen rechtsstehender Politiker gegen Fahrende.

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BGE 148 IV 113 (Junge SVP – Transitplätze für Zigeuner) bestätigte die Verurteilung von zwei Exponenten der Jungen SVP des Kantons Bern. Sie hatten 2018 auf Facebook und auf ihrer Website eine abstossende Karikatur und einen herabsetzenden Textbeitrag («Wir sagen NEIN zu Transitplätzen für ausländische Zigeuner») publiziert. Zwar ist die Meinungsäusserungsfreiheit nach bundesgerichtlicher Praxis in der politischen Auseinandersetzung besonders stark zu gewichten und dürfen vermeintliche Missstände auch in zugespitzter Form angeprangert werden. Die Kritik an einer durch Art. 261bis StGB geschützten (ethnischen) Gruppe müsse aber insgesamt sachlich bleiben und sich auf objektive Gründe stützen (E. 5.3.2). Die Kernbotschaft, wonach «ausländische Zigeuner» generell unhygienisch, geradezu ekelerregend, schamlos und kriminell seien, verunglimpfe die betroffenen Gruppen (Roma und Sinti) pauschal und gehe zu weit. Die Strafrechtliche Abteilung fällte ihr Urteil gegen die beiden Co-Präsidenten der JSVP nach kontroverser öffentlicher Urteilsberatung mit 3 gegen 2 Stimmen.

50

Wenig später bekräftigte die Strafrechtliche Abteilung in Dreierbesetzung ihre Haltung in BGer 6B_749/2020 (Gespräch mit Journalistin über Fahrende) vom 18.05.2022. Einstimmig akzeptierte sie die Verurteilung eines SVP-Stadtparlamentariers aus Arbon, der französische Fahrende in einem Telefongespräch mit einer Redaktorin der Thurgauer Zeitung unter anderem als Schlitzohren und Kleinkriminelle bezeichnet hatte. Der Fraktionspräsident habe es unterlassen, die von ihm beanstandeten Missstände auf Transitplätzen für Fahrende sachlich in den Vordergrund zu stellen. Auch in diesem Fall sprenge die pauschale Herabsetzung den Rahmen des nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR in politischen Debatten Zulässigen (E. 3.7).

51

Kommentar: Der Parlamentarier hatte vergeblich argumentiert, er sei aufgrund rechtswidrig erlangter Beweise (Art. 141 Abs. 2 StPO) verurteilt worden: Die Journalistin habe ihm seine Zitate vor der Publikation nicht zur Autorisierung vorgelegt, was sein Recht am eigenen Wort (Art. 28 ZGB) verletze. Laut Bundesgericht betrifft dieser Einwand den Inhalt des Zeitungsartikels (bzw. dessen Entstehung), nicht aber die Beschaffung des Beweismittels (bspw. durch eine illegale Tonaufzeichnung). Ob der fragliche Zeitungsartikel mangels Gelegenheit zum Gegenlesen und wegen unzutreffender Wiedergabe der Äusserungen persönlichkeitsverletzend war, brauchte das Bundesgericht im Strafverfahren nicht zu beurteilen. Es konzentrierte sich auf die Würdigung der Zitate, deren Qualifikation als Straftat die Meinungsfreiheit (Art. 16 BV) nicht übermässig beeinträchtigte.

b) EGMR
52

Die Thematik des Hasses und Gewaltaufrufs stand auch 2022 im Mittelpunkt der Strassburger Rechtsprechung. In verschiedenen Fällen akzeptierte der Gerichtshof 2022 strafrechtliche Massnahmen gegen diskriminierende Äusserungen.

53

Das EGMR-Urteil „Zemmour c. Frankreich“ (Hass gegen Muslims)63539/19 vom 20.12.2022 [IL 2] bestätigte den Schuldspruch gegen den früheren französischen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour. Die Geldstrafe von 3’000 Euro wegen Anstiftung zu Diskriminierung und religiösem Hass gegen die muslimische Gemeinschaft durch herabsetzende Äusserungen in einer Fernsehsendung respektierte die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK). In seinem live ausgestrahlten Gastauftritt stellte Zemmour die Muslime im September 2016 als Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und für die Werte der Republik dar. Er kritisierte nicht einfach den wachsenden religiösen Fundamentalismus, sondern rief vor dem Hintergrund aktueller Terroranschläge während der besten Sendezeit pauschal zur Ablehnung und Ausgrenzung der muslimischen Gemeinschaft auf. Seine Äusserungen verdienten das Prädikat «Hassrede» («discours de haine»/ «Hate Speech»).

54

Ebenfalls bestätigt wurde ein Strafurteil der französischen Justiz im EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Henry de Lesquen du Plessis Casso c. Frankreich» (Nationalmannschaft) 34383/20 vom 15.12.2022 [IL 3]. Anlass für die Geldstrafe von 1’000 Euro war ein im Juli 2016 publizierter rassistischer Tweet mit dem Text « Comment franciser l’équipe de France de balle au pied ? 1. Expulser les Français de papier. 2. Réprimer le communautarisme ». Der EGMR unterstützte ein Einschreiten gegen den unverantwortlichen Umgang mit der Meinungsfreiheit durch rassistische Äusserungen, welche die Menschenwürde beeinträchtigen. Selbst wenn eine fremdenfeindliche Äusserung nicht zu einem Gewaltakt oder einem Delikt aufrufe, dürfe ihr der Staat mit strafrechtlichen Mitteln begegnen.

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Rassistische Entgleisungen schmälern die Sicherheit der betroffenen Bevölkerungsgruppen und tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei. Sie sind nach Strassburger Praxis entschlossen zu bekämpfen. Dabei dürfen die Gerichte allerdings die Meinungsfreiheit nicht aus dem Auge verlieren. Sie haben den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen. Massgebend sind nach etablierter EGMR-Rechtsprechung der Kontext einer verbalen Aggression, deren gesellschaftlicher und politischer Hintergrund, deren Verbreitung sowie ihr Schadenspotenzial. Übertrieben war beispielsweise der Schuldspruch nach einem ungehobelten Online-Kommentar gegen die russische Ethnie (EGMR-Urteil „Moseyev c. Russland“ N° 78618/13 vom 01.03.2022 [IL 3]). Dabei spielte auch eine Rolle, dass das zuständige russische Gericht nicht analysiert hatte, ob sich Moseyevs erzürnte Verunglimpfung («Abschaum») wirklich auf die gesamte russische Bevölkerungsgruppe bezogen hatte oder eher auf einen streitsüchtigen russischen Kommentarverfasser, der Moseyev provoziert hatte.

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Neben rassistischen Angriffen hatte der Gerichtshof in der Berichtsperiode auch Anfeindungen wegen der sexuellen Orientierung oder des Geschlechts zu beurteilen. Das EGMR-Urteil „Oganezova c. Armenien“ (Hassrede gegen LGBT-Aktivistin) N° 71367/12 und 72961/12 vom 17.05.2022 [IL 2] stellte einen Verstoss gegen die staatliche Pflicht zum Schutz vor homophober Erniedrigung und Diskriminierung fest. Die armenischen Behörden schützten eine LGBT-Aktivistin nicht ausreichend vor Hassrede im Internet. Die betroffene Geschäftsführerin einer Bar hatte der Polizei vergeblich Screenshots der homophoben Online-Publikationen übergeben. Angesichts der Drohungen und Gewalttaten (u.a. einem Brandanschlag auf Oganezovas Bar) hätten die Behörden die auf Social-Media-Plattformen geposteten Hasskommentare viel ernster nehmen müssen. Stattdessen wurden die Hassverbrechen von einigen Politikern und Amtsträgern offen gebilligt, wobei auch Polizeikräfte die Motive der Täter zu unterstützen schienen. Im armenischen Recht fehlte ein wirksamer strafrechtlicher Mechanismus zur Untersuchung homophober Hassrede. Einstimmig bejahte die 4. Kammer einen Verstoss gegen Artikel 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) in Verbindung mit Artikel 14 EMRK (Diskriminierung).

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Sexistische Klischees spielten eine Rolle beim EGMR-Urteil Patrício Monteiro Telo de Abreu c. Portugal“ (Satirische Politcartoons) 42713/15 vom 07.06.2022 [IL 2]. In ihrer Urteilsbegründung bedauerte die 4. Kammer zwar die in einer anzüglichen Karikatur verwendeten Stereotypen über Frauen in Machtpositionen. Einstimmig kamen sie aber zum Schluss, die Bestrafung eines Bloggers habe dessen Meinungsfreiheit (EMRK 10) übermässig beschränkt. Die von ihm publizierte Karikatur zeigte eine Stadträtin als Sau mit Spitzenstrümpfen, Strumpfhaltergürtel und High Heels. Angesichts des von der portugiesischen Justiz zu wenig berücksichtigten politischen Gesamtkontexts bewegte sich die umstrittene Karikatur im weiten Rahmen zulässiger satiretypischer Verzerrung, Übertreibung und Provokation. Der Schuldspruch wegen Ehrverletzung war konventionswidrig.

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Kommentar: Drei Richterinnen teilten zwar die Schlussfolgerung der Gerichtsmehrheit und sprachen sich gegen den Schuldspruch für den Blogger aus. In zwei Sondervoten unterstützten sie aber die Haltung der innerstaatlichen Strafgerichte in einem wesentlichen Punkt: Mit Fug und Recht habe die portugiesische Justiz den Aspekt der geschlechtsbezogenen Verunglimpfung in die Beurteilung dieses Ehrverletzungsfalls einbezogen. Es gehe nicht nur um die Reputation der kritisierten Politikerin. Sexistische Herabsetzung ebne ganz allgemein den Weg zur Verachtung diskriminierter Frauen und fördere geschlechtsbezogene Gewalttaten. Die Richterinnen bedauerten, dass die Mehrheit diesen wichtigen Aspekt in ihrer Urteilsbegründung nicht stärker beleuchtet hatte. Einige Monate später erhielt der Gerichtshof erneut die Gelegenheit, sich vertieft mit sexistischer (und auch mit homophober) Berichterstattung zu befassen. Im EGMR-Urteil C8 (Canal 8) c. Frankreich“ N° 58951/18 und 1308/19 vom 09.02.2023 akzeptierte die 5. Kammer einstimmig harte verwaltungsrechtliche Sanktionen für einen Fernsehveranstalter, dessen schlüpfrige Sendung «Touche pas à mon poste» eine Teilnehmerin in entwürdigender Weise auf den Status eines Sexualobjekts reduziert hatte (vgl. dazu die Ausführungen von Alberto Godioli, Humour and Symbolic Violence: Canal 8 v. France, Strasbourg Observers vom 07.04.2023).

C.  Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung von Völkermord

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Im EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Alain Bonnet c. Frankreich“ (Chaplin vor Davidstern) N° 35364/19 vom 25.01.2022 [IL 3] akzeptierte der Gerichtshof die Verurteilung für die Online-Publikation einer antisemitischen Zeichnung mit der Bildlegende «entgleiste Historiker». Im Rahmen einer als «Chutzpah Hebdo» betitelten Parodie auf die Frontseite von «Charlie Hebdo» zeigte eine Illustration Charlie Chaplin vor einem Davidstern. Auf Chaplins Frage «Shoah où t’es ? – Shoah, wo bist du?» antworteten verschiedene Sprechblasen mit «hier», «dort» und «auch dort». Sie waren vor Zeichnungen platziert, die eine Seife, einen Lampenschirm, einen Schuh ohne Schnürsenkel und eine Perücke darstellten. Der EGMR ging davon aus, dass die Publikation direkt auf die jüdische Gemeinschaft zielte. Sie sei darauf ausgerichtet, den Holocaust ins Lächerliche und dessen Existenz in Zweifel zu ziehen. Deswegen war der Schutz der Meinungsfreiheit reduziert (§§ 48 ff.). Hinsichtlich des Kontexts spielte für den Gerichtshof eine Rolle, dass die Publikation wenige Tage nach einem Selbstmordanschlag in Brüssel vom 22. März 2016 erfolgt war.

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Kommentar: Der Strassburger Unzulässigkeitsentscheid gegen den zu einer Geldstrafe verurteilten Präsidenten der Vereinigung «Égalité et Réconciliation» blieb auch in Lausanne nicht unbemerkt. Das Bundesgericht nahm in seinem Urteil 6B_857/2022 vom 13.04.2023, E. 1.4.2 ausführlich auf den Entscheid „Alain Bonnet c. Frankreich“ Bezug. Es benützte ihn als argumentative Stütze für den Schuldspruch gegen den Präsidenten der „PNS – Parti Nationaliste suisse“. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu strafbarer Diskriminierung und Hassaufrufen mittlerweile besser mit der EGMR-Praxis harmoniert als noch vor einigen Jahren.

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Als offensichtlich unbegründet bezeichnete der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Lanzerath c. Deutschland“ (Judenstern an AfD-Demo)1854/22 vom 05.07.2022 [IL 3] die Beschwerde eines Kommunalpolitikers der Alternative für Deutschland (AfD) gegen eine Geldstrafe von 4’500 Euro wegen Volksverhetzung (Art. 130 Abs. 3 des deutschen Strafgesetzbuchs). Rainer Edmund Maria Lanzerath hatte 2018 an einer Demonstration in Augsburg und auch im Internet die Kritik an der AfD mit der Judenverfolgung in Nazideutschland verglichen. Nach der vom EGMR gestützten Ansicht der deutschen Strafjustiz verharmloste Lanzerath den Holocaust.

D.  Massnahmen zum Schutz von Sittlichkeit, Gesundheit und Moral

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Dem Schutz öffentlicher Gesundheit und Moral sowie den Rechten anderer diente die Verurteilung eines dänischen Arztes, der bestimmten Personen Hinweise zum Begehen von Suizid gegeben hatte. Im EGMR-Urteil „Lings c. Dänemark“ (Ratschläge zur Selbsttötung) N° 15136/20 vom 12.04.2022 [IL 2] akzeptierte die 2. Kammer des Gerichtshofs einstimmig die Verurteilung des Arztes zu einer bedingten Freiheitsstrafe. Sie hielt fest, dass gemäss einer rechtsvergleichenden Studie von 2012 insgesamt 36 Europaratsstaaten jegliche Form der Beihilfe zum Suizid verbieten (darunter Dänemark, nicht aber die Schweiz). Zu dieser Thematik gebe bislang keinen gesamteuropäischen Konsens, und jeder EMRK-Vertragsstaat habe einen weiten Ermessensspielraum.

E.  Schutz des religiösen Friedens und religiöser Empfindungen

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Im EGMR-Urteil „Rabczewska c. Polen“ (Bibelbeschimpfung durch Popsängerin)8257/13 vom 15.o9.2022 [IL 2] bejahte die Kammermehrheit mit 6:1 Stimmen einen Verstoss gegen die Meinungsfreiheit der populären Sängerin Doda. 2009 hatte Doda in einem Interview erklärt, sie glaube zwar an eine höhere Macht und sei religiös erzogen worden. Sie sei aber eher von der Wissenschaft überzeugt als von den unglaubhaften biblischen Geschichten, die von besoffenen und bekifften Typen geschrieben worden seien. Auf Anzeige von zwei Privatpersonen klagte die Staatsanwaltschaft Doda wegen Verletzung von Art. 196 des polnischen Strafgesetzbuchs an. Doda habe die Heilige Schrift als Gegenstand religiöser Verehrung öffentlich beleidigt. Sie wurde zu einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 1’200 Euro verurteilt. Der EGMR bemängelte, die polnische Justiz haben den grösseren Kontext von Dodas Äusserungen ausser Acht gelassen. Sie sei den Nachweis schuldig geblieben, dass die Beschränkung der Meinungsfreiheit notwendig war, um den religiösen Frieden zu wahren. Die Aussagen der Sängerin bedeuteten weder einen unangemessenen Angriff auf ein Objekt religiöser Verehrung noch verletzten sie den Geist der Toleranz als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft.

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Kommentar: Die eher knappe Begründung des Urteils „Rabczewska c. Polen“ überzeugt im Ergebnis. Festzustellen ist allerdings, dass die Strassburger Rechtsprechung zu religionskritischen Äusserungen bislang eine klare Linie vermissen lässt. Dem Gerichtshof ist es noch nicht gelungen, nachvollziehbare Kriterien für solche Konstellationen zu entwickeln (vgl. dazu die treffenden Ausführungen von Tommaso Virgili, Rabczewska v. Poland and blasphemy before the ECtHR: A neverending story on inconsistency, Strasbourg Observers vom 21.10.2022).

F.  Schutz von Wahlen und Abstimmungen

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Um einen strafbaren Aufruf zum Wahlboykott ging es im EGMR-Urteil „Teslenko u.a. c. Russland“ N° 49588/12 vom 05.04.2022 [IL 2]. Vier Privatpersonen hatten auf Flugblättern dazu aufgerufen, eine bestimmte Partei (Einiges Russland) nicht zu wählen oder die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ganz zu boykottieren. Sie wurden festgenommen und zu Geldstrafen verurteilt. Der Gerichtshof liess offen, ob für diese strafrechtlichen Massnahmen eine ausreichende gesetzliche Grundlage bestand. Sie waren jedenfalls in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig (Art. 10 Abs. 2 EMRK). Nach einhelliger Auffassung der 3. EGMR-Kammer überschritten die russischen Behörden mit dem Schuldspruch den ihnen zustehenden Ermessensspielraum.

G.  Bekämpfung von Terrorismus und Aufrufen zur Gewalt

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Der EGMR-Zulässigkeitsentscheid „Saúl Jorge López c. Spanien“ (Rapper) N° 54140/21 vom 20.09.2022 [IL 3] bestätigte eine Busse gegen einen spanischen Rapper, dessen Songs zwischen 2014 und 2016 die Taten terroristischer Organisationen (GRAPO, ETA) rechtfertigten oder glorifizierten. Sie gingen deutlich weiter als herkömmliche Protestsongs. Der Gerichtshof bejahte, dass López seine aggressiven Äusserungen vor einem angespannten politischen und sozialen Hintergrund tätigte, dass sie im fraglichen Kontext als direkter oder indirekter Aufruf zu Gewalt oder als Rechtfertigung von Gewalt, Hass oder Intoleranz einzustufen waren und dass sie ein erhebliches Schädigungspotenzial bargen. Die ausgesprochene Sanktion respektierte die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK): Zwar wurde der Rapper zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, doch wurde deren Vollzug zur Bewährung ausgesetzt und die Geldstrafe auf 1’200 Euro reduziert.

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Kommentar: Die Strassburger Rechtsprechung zu terrorismusverherrlichenden Äusserungen spanischer Rapper hat sich in der Zwischenzeit verfestigt: Im Zulässigkeitsentscheid Pablo Rivadulla Duró“ N° 27925/21 vom 12.10.2023 [IL 3] bezeichnet die 5. Kammer eine Beschwerde gegen eine unbedingte neunmonatige Freiheitsstrafe als offensichtlich unbegründet. Der einschlägig vorbestrafte Rapper hatte in verschiedenen Tweets und einem Song seine Unterstützung für die verurteilten GRAPO-Terroristen bekundet.

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Im EGMR-Urteil „Rouillan c. Frankreich“ (Ex-Terrorist)28000/19 vom 23.06.2022 [IL 2] akzeptierte der Gerichtshof im Grundsatz die Bestrafung eines früheren Mitglieds der linksradikalen Terrorgruppe Action Directe wegen Verteidigung des Terrorismus («Apologie du terrorisme»). Rouillan hatte 2016 am Lokalradio die Täter der Pariser Anschläge von 2015 als mutig bezeichnet und ihren tapferen Kampf gelobt. Zum fraglichen Artikel 421-2-5 des französischen Strafgesetzbuchs gab es damals zwar noch wenig Rechtsprechung. Dennoch konnte Rouillan nach Auffassung des EGMR vernünftigerweise vorhersehen, dass seine Äusserungen rechtswidrig waren.

Der Schuldspruch diente den legitimen Zielen der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten (Art. 10 Abs. 2 EMRK). Rouillans Äusserungen riefen zwar nicht unmittelbar zu Gewalt auf, doch rückten sie die Urheber der Terroranschläge in ein positives Licht. Die über Radio und Internet verbreiteten Statements erfolgten in einem Zeitpunkt, in dem die terroristische Bedrohung hoch war. Der EGMR teilte daher die Auffassung der französischen Justiz, dass eine indirekte Aufstachelung zu terroristischer Gewalt vorlag («incitation indirecte à l’usage de la violence terroriste», § 71). Eine entschlossene staatliche Antwort auf solche gefährlichen Aussagen schien dem Gerichtshof angemessen. Dennoch hielt er letztlich fest, dass der Schuldspruch unverhältnismässig war. Die gegen Rouillan verhängte Strafe schoss über das Ziel hinaus. In den Augen des EGMR war die ausgesprochene Freiheitsstrafe von 18 Monaten (verknüpft mit einem Electronic Monitoring von sechs Monaten) übertrieben. Sie hatte eine exzessive Abschreckungswirkung («chilling effect») für die freie Meinungsäusserung.

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Kommentar: Im vorliegenden Fall hatte der zuständige Court de cassation beim Conseil Constitutionnel vorfrageweise eine abstrakte Kontrolle der Verfassungsmässigkeit von Artikel 421-2-5 des französischen Strafgesetzbuchs verlangt. Der Conseil Constitutionnel bejahte sie am 18. Mai 2018 (no 2018-706 QPC). Die Strafnorm sei ausreichend präzis formuliert und beschränke die Meinungsfreiheit nicht übermässig. Im schweizerischem Recht gibt es bislang keine dem französischen Recht entsprechende Spezialvorschrift, welche die (öffentliche) Rechtfertigung, Verharmlosung oder Verherrlichung terroristischer Gewalttaten unter Strafe stellen würde. Gewisse Grenzen setzen immerhin allgemeine Straftatbestände wie die Aufforderung zur Gewalt in Art. 259 StGB (die eine eindringliche motivierende Aussage voraussetzt) oder Art. 260ter StGB (der eigentliche Unterstützungshandlungen für kriminelle Organisationen verbietet). Die Strassburger Rechtsprechung gewährt den EMRK-Vertragsstaaten nach wie vor einen grossen Handlungsspielraum für entschlossene Massnahmen gegen terroristische Gefahr. Sie macht aber auch deutlich, dass die Behörden selbst bei abscheulichen Äusserungen in besonders angespannten und hektischen Zeiten stets die Verhältnismässigkeit im Auge behalten müssen.

H.  Weitere öffentliche Interessen

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Dem Schutz einer wehrhaften Demokratie dienten die staatlichen Massnahmen gegen eine rechtsradikale Lehrerin. Das EGMR-Urteil „Godenau c. Deutschland“ (Lehrerin auf schwarzer Liste)80450/17 vom 29.11.2022 [IL 2] betonte die enorme Wichtigkeit eines glaubwürdigen Schulunterrichts zu Fragen von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat (§ 52 der Urteilsbegründung).

7. Beschränkungen der journalistischen Recherche

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Erstmals hat sich das Bundesgericht mit journalistischen Recherchen mittels Drohnen befasst. In BGE 149 I 218 (Drohnenverbot) unterzog die I. öffentlich-rechtliche Abteilung ein kantonales Flugverbot für Drohnen der abstrakten Normenkontrolle (E. 9). Das Verbot betrifft unbemannte Luftfahrzeuge bis 30 kg Gewicht und gilt im Umkreis von 300 Metern um den Ort eines Einsatzes der Polizei, der Feuerwehr, des Zivilschutzes und des Rettungsdienstes. (§ 39ter Abs. 1 des revidierten Gesetzes über die Kantonspolizei Solothurn, KapoG/SO). Eine solche Vorschrift beschränke die Recherchetätigkeit der Medien. Sie greife in die Medienfreiheit ein (Art. 17 BV und Art. 10 EMRK), tangiere aber auch das Recht der Medienkonsumenten auf freien Informationsempfang (Art. 16 BV und Art. 10 EMRK). In verfassungskonformer Auslegung der allgemein formulierten Vorschrift verlangte das Bundesgericht, dass sich dieses Verbot auf Notfalleinsätze zu beschränken hat. Im Licht der journalistischen Wächterfunktion präzisieren die bundesgerichtlichen Ausführungen den Umfang der kantonalen Strafnorm. Sie halten fest, die Medienleute könnten zumindest bei länger dauernden Notfalleinsätzen eine Ausnahmebewilligung beantragen (E. 9.3.4).

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Kommentar: Immer öfter kommen unbemannte Luftfahrzeuge in der Medienbranche zum Einsatz, beispielsweise für Aufnahmen von Grossveranstaltungen, aber auch für Bilder von Unfällen oder Naturkatastrophen, bei denen die Blaulichtorganisationen vor Ort sind. Verbote des Drohneneinsatzes können die journalistische Recherche erheblich erschweren. Mit seinem differenzierten Urteil zum Solothurner Polizeigesetz dokumentiert das Bundesgericht seine Sensibilität für den Drohnenjournalismus. Nicht optimal ist allerdings, dass das Flugverbot gemäss der Solothurner Regelung in einem Einzelfall durch einen Offizier der – kaum auf eine vielleicht kritische Beobachtung ihrer Einsätze erpichten – Kantonspolizei aufgehoben werden müsste. Anderswo (so im Kanton Waadt) gibt es statt der einzelfallweisen Bewilligungsmöglichkeit ein System mit generellen Ausnahmebewilligungen für akkreditierte Videojournalistinnen und -journalisten und andere fachkundige Personen. Selbst wenn es verfassungsrechtlich nicht zwingend gefordert sein mag, dürften solche Regelungen den Kommunikationsgrundrechten besser Rechnung tragen als die Ausnahmevorschrift im Solothurner Polizeigesetz.

8. Redaktionsgeheimnis / Quellenschutz (Art. 17 Abs. 3 BV und Art. 10 EMRK)

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Im Urteil 1B_553/2021 (Quellenschutz für Online-Aktivisten) vom 14.01.2022 stellte die I. öffentlich-rechtliche Abteilung in Dreierbesetzung grundsätzliche Überlegungen zur Frage an, ob der Quellenschutz der Medienschaffenden nur Journalisten und Journalistinnen im klassischen Sinne erfasst. Art. 172 StPO und Art. 28a StGB konkretisieren das verfassungsrechtliche Redaktionsgeheimnis (Art. 17 Abs. 3 BV) auf Gesetzesstufe. Sie beschränken den Quellenschutz auf die Publikation von Informationen im redaktionellen Teil periodisch erscheinender Medien und verlangen, dass die das Zeugnis verweigernde Person beruflich mit der Veröffentlichung solcher Inhalte befasst ist. Im Fall eines Aktivisten, der als Meinungsmacher zu den Covid-19-Massnahmen auf verschiedenen sozialen Netzwerken (Facebook, Telegram, YouTube) mehrere Tausend Personen erreichte, schloss das Bundesgericht nicht aus, dass diese Publikationstätigkeit sämtliche gesetzlichen Merkmale erfüllt und daher Quellenschutz beanspruchen kann (E. 3). Es liess die Frage letztlich offen.

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Den hohen Stellenwert des Schutzes journalistischer Informationsquellen untermauerte das EGMR-Urteil „Sergey Sorokin gegen Russland“ 52808/09 vom 30.08.2021 [IL 2]. Der Gerichtshof bemängelte die unberechtigte Wohnungsdurchsuchung und die Beschlagnahme der elektronischen Geräte eines russischen Chefredaktors. Der Gerichtshof zweifelte bereits daran, ob die russische Strafprozessordnung eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die strafprozessualen Zwangsmassnahmen darstellte, die im Anschluss an den möglichen Verrat von Staatsgeheimnissen durch einen vom Journalisten interviewten Beamten angeordnet worden waren. Die Strafprozessordnung enthielt keinerlei Vorschriften zum Schutz der Vertraulichkeit journalistischer Quellen bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen. Der EGMR war deshalb nicht überzeugt, dass das russische Recht willkürliche Beschränkungen des Quellenschutzes genügend zurückbindet. Er liess diese Grundsatzfrage letztlich offen, da das Vorgehen im konkreten Fall nach einhelliger Ansicht der 3. Kammer in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war: Die russische Justiz hatte jegliche Abwägung der auf dem Spiele stehenden Interessen unterlassen. Sie hatte die Ermittlungsbehörden auch nicht angewiesen, strafrechtlich relevante von anderen Informationen zu trennen.

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Kommentar: Der Schweizer Richter Andreas Zünd und die deutsche Richterin Anja Seibert-Fohr bevorzugten in ihrem abweichenden Sondervotum eine grundsätzlichere Argumentationslinie. Der Verstoss gegen Art. 10 EMRK liege nicht nur im Fehlen verfahrensrechtlicher Garantien. Vorliegend sei es gar nicht um die Aufdeckung einer gravierenden Straftat gegangen, welche ernsthafte Konsequenzen für die öffentliche Ordnung hatte. Dieser Sichtweise folgt auch das geltende schweizerische Recht, das zwecks Aufklärung von Geheimnisverletzungen keinerlei Ausnahmen vom Quellenschutz erlaubt: Art. 320 StGB und andere Geheimnisschutznormen fehlen im Ausnahmekatalog von Art. 28a Abs. 2 StGB (bzw. im quasi deckungsgleichen Art. 172 Abs. 2 StPO). Im Bereich von Indiskretionen schützt das schweizerische Recht journalistische Informationsquellen damit besser als es der gegenwärtige Minimalstandard der EMRK tut.

9. Staatliche Pflicht zur Gewährleistung freier Kommunikation (Art. 10 EMRK)

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Einen Verstoss gegen die staatliche Pflicht zum Schutz der Medienfreiheit verneinte das EGMR-Urteil „Gasi u.a. c. Serbien“ (Medienkampagne gegen Journalisten) 24738/19 vom 06.09.2022 [IL 2]. Nachdem serbische Journalisten mehr Transparenz bei grossen Bauprojekten gefordert hatten, wurden sie bedroht und von regierungstreuen Medien als ausländische Agenten gebrandmarkt, die Konflikte schüren wollten. Die Medienleute beschwerten sich in Strassburg vergeblich, der serbische Staat habe sie ungenügend abgeschirmt. Die 2. EGMR-Kammer verneinte einstimmig einen Konventionsverstoss. Die finnische Richterin Pauliine Koskelo schloss sich der Mehrheitsansicht allerdings nur zögerlich an. In ihrem Sondervotum hielt sie fest, dass auch unterhalb der Schwelle der Hassrede eine staatliche Reaktion auf Einschüchterungen und Schmutzkampagnen vernünftigerweise erwartet werden könne. Es sei zweifelhaft, ob die serbischen Behörden genug getan hätten.

10. Zensurverbot (Art. 17 Abs. 2 BV)

77

Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.

II. Informationszugang für Medien und Allgemeinheit

1.Informationszugang gestützt auf die EMRK

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Damit der menschenrechtliche Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen (Art. 10 EMRK) überhaupt ins Spiel kommt, verlangt die Strassburger Rechtsprechung den Nachweis, dass die angefragten Informationen für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäusserung tatsächlich nötig waren. Auch 2022 scheiterten Gesuchsteller an dieser formalen Hürde.

79

Im EGMR-Urteil „Saure c. Deutschland“ (Originalakten zum Barschel-Tod) N° 8819/16 vom 08.11.2022 [IL 2] akzeptierte der EGMR den 2012 vom Bundesnachrichtendienst (BND) verweigerten Zugang zu den physischen Akten über die Umstände des Todes von Ex-Ministerpräsident Uwe Barschel, der 1987 in einem Genfer Hotel ums Leben gekommen war. Der BND hatte u.a. argumentiert, die 30jährige Schutzfrist sei noch nicht abgelaufen. «Bild»-Reporter Saure erhielt vom BND immerhin Informationen über den Akteninhalt. Persönlichen Zugang zu den Originalakten gewährte der BND aber nicht. Die Angelegenheit wurde in der 3. Kammer des EGMR kontrovers diskutiert. Sie lehnte die Beschwerde des „Bild“-Journalisten Saure mit 4:3 Stimmen ab. Die Mehrheit argumentierte, Saure habe sein Bedürfnis nach Zugang zu den physischen Akten nicht ausreichend dargetan. Die Gerichtsminderheit (mit dem Schweizer Richter Andreas Zünd) bemängelte hingegen, dass die deutschen Behörden die gebotene Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen unterlassen hatten.

80

Auch das EGMR-Urteil „Seks c. Kroatien“ (Dokumente aus Staatsarchiv) N° 39325/20 vom 03.02.2022 [IL 2] bestätigte den verweigerten Zugang zu amtlichen Informationen. Ein früherer Parlamentarier hatte im Rahmen seiner Recherchen für ein Buch Einsicht in Dokumente aus dem Büro des Staatspräsidenten verlangt. Dies lehnte die kroatische Justiz gestützt auf eine Stellungnahme der für Fragen nationaler Sicherheit zuständigen Fachstelle ab. Der EGMR bejahte zwar einen Eingriff in die menschenrechtlich garantierte Freiheit des Zugangs zu Informationen (Art. 10 EMRK). Dieser erfüllte aber sämtliche Eingriffsvoraussetzungen von Art. 10 Abs. 2 EMRK: Er beruhte auf einer gesetzlichen Grundlage und war aus wichtigen Gründen der nationalen Sicherheit notwendig, zumal der Antrag von Seks unabhängig überprüft worden war. Bei solchen Fragen gewährt der Gerichtshof den EMRK-Vertragsstaaten grundsätzlich einen weiten Ermessensspielraum, den Kroatien vorliegend nicht gesprengt habe.

2. Informationszugang gestützt auf Bundesrecht
(BGÖ, Archivierungsgesetz)

81

Den Zugang zu amtlichen Informationen regeln auf eidgenössischer Ebene das Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (Öffentlichkeitsgesetz; BGÖ) sowie eine Reihe spezialgesetzlicher Vorschriften. Für die massgebende Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts sei auch dieses Jahr auf die Zusammenstellung von Daniel Ladanie-Kämpfer/Annina Keller, Überblick über praxisrelevante Entscheide des Jahres 2022 zum Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ), medialex 03/2023 verwiesen. An dieser Stelle werden einzelne Urteile vertieft, die verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen haben.

82

Zentrale grundrechtliche Fragen stellten sich dem Bundesgericht beim Gesuch eines Historikers um die Einsicht in archivierte Asylakten. In BGE 148 II 273 (Einsicht ins Bundesarchiv) legte es das massgebende Bundesgesetz über die Archivierung (Archivierungsgesetz, BGA) im Lichte der Informationsfreiheit (Art. 16 BV) und der Wissenschaftsfreiheit (Art. 20 BV) aus. Begehre ein Historiker die Akteneinsicht vor Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist (Art. 13 BGA sowie Art. 18 Abs. 3 und 4 der Archivierungsverordnung, VBGA), so müsse die betroffene Behörde eine fundierte Güterabwägung vornehmen. Als gewichtiges Interesse an der Einsichtnahme sei die angestrebte Aufarbeitung der Geschichte zu berücksichtigen. Dieses Interesse an Informationen zur Geschichtsforschung werde durch die grundrechtlich garantierte Wissenschaftsfreiheit untermauert (E. 6.5.2). Die zuständige Bundesbehörde müsse die einer Einsicht entgegenstehenden privaten Geheimhaltungsinteressen differenziert abklären: Dabei habe eine «relativ bekannte» Persönlichkeit (vorliegend der Philosoph Mathieu Musey bzw. seine Angehörigen) einen weniger weitreichenden Anspruch auf Abschirmung ihrer Privatsphäre, zumal sie einen grossen Teil der Informationen ihres Archivdossiers zuvor selbst an die Öffentlichkeit getragen hatte (E. 6.5.2). Wichtig war für das Bundesgericht, dass das Problem einer möglichen Persönlichkeitsverletzung weniger bei einer Einsicht in das Dossier liegt als bei einer Veröffentlichung. Diesem Problem könne die Behörde dadurch begegnen, dass sie die Einsichtnahme an Auflagen knüpfe (E. 6.5.5).

83

Kommentar: Das bundesgerichtliche Urteil ist in verschiedener Hinsicht von grundlegender Bedeutung. Umfangreiche Analysen finden sich bei Gerold Steinmann, Kommentar zu BGE 148 II 273, Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht (ZBl), 124/2023, S. 24ff. und bei Franz Zeller, Mangelhafte Interessenabwägung beim Streit um Einsicht in archivierte Asylakten, medialex 04/22 vom 6. Mai 2022. Im Zentrum des Urteils stehen die verfassungskonforme Anwendung des Archivierungsgesetzes und die berechtigten Anliegen historischer Forschung. Die Urteilsbegründung ist aber auch für nichtwissenschaftliche, tagesaktuelle Medienberichterstattung über archivierte Informationen relevant. Zwar sind archivierte Akten vor Ablauf der dort verankerten Schutzfristen nicht allgemein zugänglich, weshalb sie streng genommen nicht unter den grundrechtlichen Geltungsbereich der Informationsfreiheit fallen (Art. 16 Abs. 3 BV; Erwägung 2). Gerold Steinmann hat aber zu Recht darauf hingewiesen, die Begründung von BGE 148 II 273 atme trotzdem den «Geist einer weit verstandenen Informationsfreiheit». Die Informationsfreiheit scheine in die richterliche Interessenabwägung einzufliessen und eine liberale Praxis bei der Einsichtsgewährung zu fördern. Ebenfalls zutreffend ist die Feststellung, dass die zuständigen Behörden bei ihrer sorgfältigen Abwägung kollidierende Interessen der betroffenen Privatpersonen und auch der Allgemeinheit ernst nehmen müssen (Steinmann, ZBl 2023, S. 29). Die neuere Gerichtspraxis hat dies bestätigt: Im Urteil 1C_257/2022 vom 7. Juni 2023 (Rundschau: Cryptoaffäre) hat das Bundesgericht die öffentlichen Geheimhaltungsinteressen letztlich höher gewichtet als die Informationsbedürfnisse der SRF-Journalistin. Gleichzeitig hat es eingeräumt, das Interesse der Öffentlichkeit an der journalistischen Aufarbeitung der Rolle der Bundespolizei in der Cryptoaffäre sei in keiner Weise zu unterschätzen (E. 7.4). Künftige Güterabwägungen könnten also durchaus zugunsten der Medien ausfallen.

3.Informationszugang gestützt auf kantonales Recht

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Das BGer-Urteil 1C_269/2021 (Polizeimeldungen) vom 13.10.2022 betrifft die Pflicht zur Nennung der Nationalität, die der Kanton Zürich im Rahmen einer Änderung des Polizeigesetzes (PolG/ZH) beschlossen hat. Im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle wies die I. öffentlich-rechtliche Abteilung eine Beschwerde mehrerer Personen ab. Sie verneinte einen Verstoss gegen übergeordnetes Bundes- und Konventionsrecht. Der Anwendungsbereich der Zürcher Regelung beziehe sich lediglich auf Polizeimeldungen und nicht auf die nachgelagerte Phase des Strafverfahrens. Sie verstosse nicht gegen das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV; E. 4.2 und 2.1). Sie respektierte auch das Willkürverbot (Art. 9 BV). Die Nationalitätennennung diene der Transparenz, denn es bestehe ein öffentliches Interesse daran, «nicht nur zu erfahren, dass etwas Bestimmtes passiert ist, sondern auch eine grobe Vorstellung davon zu erhalten, wer in die Geschehnisse involviert war.» (E. 4.3). Die Vorschrift verstosse auch nicht gegen die Menschenwürde (Art. 7 BV). Für das Bundesgericht war nicht ersichtlich, wie die Nennung der Nationalität von Unfallopfern oder Vermissten deren Menschenwürde betreffen oder gar verletzen könnte (E. 4.5).

85

Verweigern durfte die zuständige kantonale Anstalt (Schweizerische Rheinhäfen mit Sitz in Birsfelden BL) die Erstellung zusätzlicher Aktenverzeichnisse. In einem ersten Umgang hatte sie bereits ein ausführliches Aktenverzeichnis geliefert und Einsicht in sämtliche konkret benannte Dokumente gewährt. Mit Urteil 1C_121/2022 vom 19.08.2022 verneinte die I. öffentlich-rechtliche Abteilung einen Anspruch auf die Erstellung weiterer Inhaltsverzeichnisse oder -übersichten. Zwar möge der Transparenzgrundsatz eine gewisse Pflicht zur Kooperation der Behörden mit Gesuchstellenden begründen. Das kantonale Recht lasse sich aber willkürfrei so auslegen, dass es keine Herstellung von Verzeichnissen verlange, die sich nicht ohnehin in den amtlichen Akten befinden (E. 4.3).

86

Kommentar: Die Urteilsbegründung dokumentiert das bundesgerichtliche Bestreben, beim berechtigten Wunsch nach Transparenz Augenmass zu bewahren und die behördlichen Informationspflichten auf ein vernünftiges Mass zu beschränken.

4. Anspruch auf rechtsgleiche und willkürfreie amtliche Information (Art. 8 und 9 BV)

87

Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.

5. Gerichtsöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 6 EMRK)

A.  Öffentlichkeit der Verhandlung

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Der Grundsatz der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 6 EMRK) gebietet, dass Verhandlungen öffentlich sind und der einzelfallweise Ausschluss der Allgemeinheit die Ausnahme bleiben muss. Im Urteil 6B_550/2021 vom 19.01.2022 bestätigte das Bundesgericht die in BGE 147 IV 297 begründete Praxis zu Beschränkungen der Gerichtsöffentlichkeit wegen der Corona-Pandemie. Danach ist es verfassungskonform, das breite Publikum teilweise auszuschliessen und interessierten Medienschaffenden die Teilnahme an der Verhandlung zu gestatten. Auf diese Weise werde die öffentliche Berichterstattung gewährleistet.

B.  Öffentlichkeit des Urteils ab Verkündung

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Die Wichtigkeit der Gerichtsöffentlichkeit betonte die I. öffentlich-rechtliche Abteilung im Urteil 1C_584/2021 (Geschwärzte Einstellungsverfügung) vom 20.10.2022. Sie hiess die Beschwerde von zwei Medienschaffenden gut, die sich gegen die bloss rudimentäre Einsicht in eine Einstellungsverfügung wehrten. Die Verfügung betraf das Strafverfahren gegen einen im Kanton Tessin bekannten Theologen. Die kantonalen Behörden wollten den Medienleuten bloss eine einzige Seite der insgesamt 24 Seiten umfassenden Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 24. Februar 2021 herausgeben. Dies verunmöglichte nach Auffassung des Bundesgerichts eine wirksame journalistische Kontrolle der behördlichen Tätigkeit (E. 3.3.3). Für eine Überprüfung durch die Medien spreche auch der Umstand, dass der Theologe selber Vorwürfe gegen die Behörden geäussert hatte. Er hatte wenige Tage nach Einstellung des Strafverfahrens an einer Radiosendung teilgenommen und dort kritisiert, dass er in Untersuchungshaft genommen worden war.

C.  Weitere Aspekte

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Im Urteil 1B_103/2021 (Nichtanhandnahmeverfügung) vom 04.03.2022 hielt die I. öffentlich-rechtliche Abteilung fest, der Grundsatz der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) erfasse auch Nichtanhandnahmeverfügungen, welche noch nicht rechtskräftig sind. Deshalb müsse die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug eruieren, ob der geforderten Einsicht allfällige Geheimhaltungsinteressen entgegenstehen.

6. Amtliche Pflicht zur Anonymisierung von Informationen

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Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.

III.  Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens

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Einen unzureichenden Schutz des Privatlebens stellte die 4. Kammer im EGMR-Urteil „I.V.T. c. Rumänien” (Fernsehaufnahmen einer Elfjährigen) N° 35582/15 vom 01.03.2022 [IL 2] fest. Das Urteil unterstrich die ausgeprägte Schutzwürdigkeit von Heranwachsenden. Es betrifft ein Fernsehinterview mit einem elfjährigen Mädchen, das nach einem tödlichen Sturz ihrer Schulfreundin aus dem Zug ohne Einverständnis der Erziehungsberechtigten befragt worden war. Das ohne Unkenntlichmachung der Identität ausgestrahlte Statement führte dazu, dass die Schülerin anschliessend gemobbt wurde. Die rumänische Justiz lehnte eine Klage der Eltern nach (zu) oberflächlicher Abwägung der auf dem Spiele stehenden Interessen ab und kam dadurch ihrer Schutzplicht nicht nach. Der EGMR betonte die besondere Verletzlichkeit von Kindern, deren Würde und Wohlbefinden durch eine solche Publikation stärker tangiert werde als bei Erwachsenen. Er bejahte einen Verstoss gegen Art. 8 EMRK.

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Respektiert wurde die staatliche Pflicht zum Schutz der Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) hingegen nach der Publikation eines Buchs über das 2007 in Portugal verschwundene Mädchen Madeleine McCann. Das EGMR-Urteil „Mc Cann & Healy c. Portugal” (Buch über Vermisstenfall Maddie)57195/17 vom 20.09.2022 [IL 2] akzeptierte die Abweisung der Zivilklage, welche die Eltern gegen einen früheren Ermittler in diesem Fall eingereicht hatten. Dieser hatte in seinem Buch die These vertreten, dass die Eltern für das Verschwinden ihres Kindes verantwortlich seien. Die wertenden Einschätzungen des Buchautors stützten sich laut EGMR auf eine ausreichende Faktengrundlage. Der Gerichtshof hielt fest, dass sich die Eltern selber schon vor der Buchpublikation in der Medienöffentlichkeit exponiert hatten. Eine Schmälerung ihre Rufs beruhe weniger auf der Buchpublikation als auf den Ermittlungsunterlagen, die schon vorher in den Medien diskutiert worden waren.

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Beim EGMR-Urteil „Ghimpu u.a. c. Republik Moldau“ (Erstürmung des Präsidentenpalasts) 24791/14 vom 01.02.2022 [IL 3; zum Sachverhalt vgl. vorne Rn. 34] liess der Gerichtshof die Frage offen, ob sich eine politische Partei auf den menschenrechtlichen Anspruch der Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) stützen kann. Die gegen die Liberale Partei Moldawiens in einem Dokumentarfilm erhobenen Vorwürfe waren jedenfalls zu wenig gewichtig, als dass sie eine Verletzung von Art. 8 EMRK hätten begründen können (§ 20).

IV.  Radio und Fernsehen

1. Redaktioneller Inhalt von Radio- und Fernsehprogrammen

A.  Bundesgerichtspraxis

95

Die Anforderungen an den redaktionellen Inhalt der Radio- und Fernsehsendungen schweizerischer Veranstalter (sowie des übrigen publizistischen Angebots der SRG) werden primär durch die UBI geprüft. Ihrer Rechtsprechung widmet sich Oliver Sidler, Rechtsprechungsübersicht 2022 der unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI, medialex 06/23 vom 6. Juli 2023. Die vorliegenden Ausführungen beschränken sich wie üblich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR.

96

Das Bundesgericht bestätigte mit Urteil 2C_432/2022 (Schuldspruch gegen Anwalt) vom 31. Oktober 2022den Entscheid der UBI (b. 863 vom 9. Dezember 2021) zu einem SRG-Bericht über die erstinstanzliche Verurteilung eines wegen Urkundenfälschung angeklagten Rechtsanwalts (vgl. zu dieser Angelegenheit auch Sidler 2023, N 15ff.). Der Anwalt brachte vergeblich vor, die Berichterstattung der SRG-Unternehmenseinheit RTS (Radio-télévision suisse) habe die Unschuldsvermutung verletzt. RTS hatte laut Bundesgericht deutlich darauf hingewiesen, dass der (nicht namentlich erwähnte) Anwalt das erstinstanzliche Urteil angefochten hatte. Dies verdeutlichte, dass der Anwalt die ihm zur Last gelegten Vorwürfe bestreitet. Überdies äusserte sich sein Rechtsvertreter zum Urteil des Tribunal correctionnel. Unter diesen Umständen traf RTS keine rundfunkrechtliche Pflicht, eine Stellungnahme des Anwalts einzuholen und auszustrahlen.

B.  Rechtsprechung des EGMR

97

Ein Grundsatzurteil fällte die Grosse Kammer des EGMR in der Angelegenheit „NIT S.R.L. c. Republik Moldau“ (Lizenzentzug) N° 28470/12 vom 05.04.2022 [IL Key cases]. Eine Mehrheit der Grossen Kammer akzeptierte den 2012 verfügten Entzug einer Fernsehlizenz wegen mangelnder Vielfalt, verzerrter Nachrichten und parteilicher Berichterstattung. Die Aufsichtsbehörde hatte sich auf Artikel 7 des moldawischen Gesetzes über audiovisuelle Medien von 2006 gestützt. Sie bemängelte die einseitige Unterstützung der kommunistischen Oppositionspartei (PCMR) und die tendenziöse Kritik von NIT an Regierungskreisen. Frühere Sanktionen der Medienaufsichtsbehörde waren wirkungslos geblieben.

Der Gerichtshof bekräftigte den weiten Spielraum der Europaratsstaaten bei ihren Massnahmen zum Schutz einer pluralistischen Berichterstattung. Es gebe in Europa unterschiedliche Ansätze. Moldawien habe sich für den Binnenpluralismus entschieden, zumal die Anzahl der Veranstalter in der damaligen Zeit sehr beschränkt war. Die Regulierungsbehörden spielten eine zentrale Rolle für die Förderung der Medienfreiheit und des Meinungspluralismus, was eine überaus komplexe und heikle Aufgabe sei. Der EGMR erkannte keine konkreten Belege für die Behauptung, die Behörde habe bezweckt, den oppositionellen Veranstalter NIT an kritischer Berichterstattung über die Regierung zu hindern. Der Lizenzentzug sei eine angemessene Massnahme gewesen, zumal sich der Sender nach Ablauf eines Jahres erneut um eine Lizenz bewerben konnte.

98

Kommentar: Die Urteilsbegründung der Mehrheit hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. In ihrer abweichenden Meinung kritisierten drei Mitglieder der Grossen Kammer aus Albanien, Montenegro und Belgien die gravierenden Mängel im moldawischen Verfahren. Sie zweifelten auch an der Unparteilichkeit der Medienaufsichtsbehörde der Republik Moldau. Zu vage formuliert sei der massgebende Artikel 7 Absatz 2 des Gesetzes über audiovisuelle Medien, wonach politischen Parteien «innerhalb derselben Sendung und desselben Zeitfensters» Sendezeit zur Verfügung zu stellen ist. In der Praxis lasse sich diese Vorschrift kaum anwenden, ohne die redaktionelle Unabhängigkeit eines Senders übermässig zu beschränken. Die drei Richter gaben zu bedenken, dass NIT im fraglichen Zeitraum die einzige Stimme der Opposition in der moldawischen Fernsehlandschaft war und dass die Behörde in einem überhasteten Verfahren ohne überzeugende Methodik die strengste Sanktion verhängt habe (gewissermassen «die Nuklearoption»).

99

Im EGMR-Urteil „Zemmour c. Frankreich“ (Hass gegen Muslims – Medienwirkung)63539/19 vom 20.12.2022 [IL 2; zum Sachverhalt vorne Rn. 53] unterstrich der Gerichtshof einmal mehr die unmittelbare und starke Wirkung der elektronischen Medien auf ihr Publikum. Als Unterhaltungsquellen in der häuslichen Umgebung seien Radio und Fernsehen nach wie vor weit verbreitet. Besonders wirkungsmächtig (und damit auch mit erhöhtem Schädigungspotenzial verbunden) sind nach Ansicht des Gerichtshofs Sendeinhalte, die zur besten Sendezeit (live) ausgestrahlt werden. Lasse sich ein Journalist in einem solchen Gefäss interviewen, habe er die journalistischen Pflichten und Verantwortlichkeiten selbst dann zu respektieren, wenn sich das Gespräch nicht auf seine journalistische Tätigkeit bezieht (sondern auf das von ihm veröffentlichte Buch «Un quinquennat pour rien» mit dem einleitenden Text «La France au défi de l’Islam»). Zemmour sei durchaus in der Lage gewesen, die Tragweite und Konsequenzen seiner rücksichtslosen Polemik abzuschätzen (§ 62).

100

Kommentar: Unverändert hält der Gerichtshof an seiner These vom besonderen Einfluss des herkömmlichen Fernsehens fest (so beispielsweise auch im EGMR-Urteil „SIC – Sociedade Independente de Comunicação c. Portugal“ N° 29856/13 vom 27.07.2021). Die Unmittelbarkeit und Wirkungskraft zeitgleich konsumierter Fernsehsendungen sind in Strassburg ein zentrales Argument für verschärfte juristische Anforderungen: Wer sich über einen besonders potenten Kommunikationskanal an eine grosse Menschenmenge wendet, der muss sich noch stets eine strengere rechtliche Beurteilung gewagter Äusserungen gefallen lassen.

2. Weitere Aspekte

101

Das Bundesgerichtsurteil 2C_547/2022 (Haushaltsabgabe für Singles) vom 13.12.2022 hatte die Vereinbarkeit der Abgabe für Radio und Fernsehen mit dem übergeordneten Verfassungs- und Konventionsrecht zu beurteilen. Ein alleinlebender Beschwerdeführer empfand die im Radio- und Fernsehgesetz (RTVG) vorgesehene Regelung der Haushaltabgabe als ungerecht. Das Bundesgericht verneinte eine offensichtliche Verletzung des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebots (Art. 8 Abs. 1 BV) und des Grundsatzes der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Art. 127 Abs. 2 BV). Der Beschwerdeführer hatte eine Reihe alternativer Erhebungsmodelle zur Diskussion gestellt (eine Rechnung pro Person statt pro Haushalt; eine Rechnung pro Haushalt, deren Betrag mit der Anzahl im Haushalt lebender Erwachsener multipliziert wird; mit 0.6 multiplizierter Rechnungsbetrag, falls nur eine erwachsene Person im Haushalt lebt). Solche Alternativen habe der Gesetzgeber zumindest sinngemäss verworfen. Laut Bundesgericht sind der Gesetzeswortlaut und der Wille des Bundesgesetzgebers klar, was für das Bundesgericht massgebend sei (Art. 190 BV i.V.m. Art. 69a Abs. 1 RTVG). Gemäss Medienberichten ist der alleinstehende Beschwerdeführer an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangt.

102

Entgegen dem Willen des Bundesgesetzgebers hat die II. öffentlich-rechtliche Abteilung das im 2016 revidierten RTVG vorgesehene Aufsichtssystem zur Löschung einzelner nutzergenerierter Kommentare im übrigen publizistischen Angebot der SRG korrigiert. Nach öffentlicher Urteilsberatung hielt die Abteilungsmehrheit in BGE 149 I 2 (Online-Kommentare bei der SRG) fest, der Ausschluss der Beschwerdemöglichkeit an die UBI missachte die Meinungsfreiheit der User (Art. 16 BV; Art. 10 EMRK) und die Rechtsweggarantie (Art. 29a BV; Art. 13 EMRK). Die Kommentarfunktion zu Social-Media-Beiträgen bilde eine Einheit mit dem redaktionellen Beitrag (E. 2.2.3), und die Löschung von Kommentaren sei ein «wertender redaktioneller Akt» (E. 3.3.1, S. 11). Durch die Löschung greife die grundrechtsgebundene SRG in die Meinungsfreiheit der Nutzerinnen und Nutzer ein. Ihnen müsse ein den verfassungs- und konventionsrechtlichen Anforderungen genügender Rechtsweg offenstehen. Das Bundesgericht öffnete deshalb den im RTVG bewusst versperrten Rechtsweg an die UBI «als fachkundiges Gericht» (E. 3.3.4, S. 11). Nur dies genüge dem Rechtsschutz der Kommentierenden, denn weder der zivil-, noch der straf-, noch der aufsichtsrechtliche Rechtsweg an das BAKOM seien hinreichend wirksam (E. 3.2.2).

103

Kommentar: Die Schwächen der bundesgerichtlichen Argumentation sind an anderer Stelle vertieft analysiert worden (ausführlich bei Martin Dumermuth, Löschung von Kommentaren auf Instagram durch die SRG – Besprechung von BGE 149 I 2, AJP 2023, S. 1042 ff., konzis bei Oliver Sidler, UBI muss Beschwerden zu Löschungen von Kommentaren durch die SRG behandeln, medialex 02/23 vom 12. März 2023). Auf Unverständnis stiess das Urteil auch bei der UBI: In ihrer öffentlichen Beratung vom 29. Juni 2023 unterzog sich eine knappe Mehrheit der Beschwerdeinstanz dem Bundesgerichtsentscheid mit unverkennbarem Widerwillen. Eine vierköpfige Minderheit ging noch weiter: Sie wollte dem Urteil BGE 149 I 2 keine Folge leisten und den Ball nach Lausanne zurückspielen. In ihrer abweichenden Meinung zum UBI-Entscheid b. 945/946 bezeichnete die Minderheit das bundesgerichtliche Urteil als «weder überzeugend noch der Sache dienlich». Besonders scharf kritisierte die UBI-Minderheit die bundesgerichtliche Ansicht, dass die Aufschaltung oder Löschung von nutzergenerierten Kommentaren ein wertender redaktioneller Akt sein soll. Ein solches Medienverständnis sei geeignet, die gesamte Medienbranche «in Bezug auf Glaubwürdigkeit, Relevanz, Qualität und Zukunft zu gefährden».

Mit ihrem unterlegenen Antrag wollte die Minderheit das Bundesgericht veranlassen, sich «unter Einbezug des gesamten, komplexen medialen und rechtlichen Kontextes» erneut mit der Thematik zu befassen. Dazu dürfte es vorläufig nicht kommen. Jedenfalls hat sich die Beschwerdeinstanz nun regelmässig mit einzelnen abgewiesenen Kommentaren zu befassen. So mussten sich neun UBI-Mitglieder am 2. November 2023 in öffentlicher Beratung über die Frage beugen, ob SRF am 30. Mai den 27. Kommentar eines streitlustigen Users unter einer bestimmten Online-Publikation zu Recht abgelehnt hatte. 26 Kommentare dieses Vielschreibers hatte SRF an jenem Tag bereits veröffentlicht. Beim 27. Kommentar verstiess SRF mangels relevanter Gründe gegen die Meinungsfreiheit, hielt die UBI-Mehrheit rund 5 Monate nach der Löschung in ihrem Entscheid b. 960 fest. Die Begründung war nachvollziehbar. Bloss: Der Gewinn solcher Verfahren für die freie Kommunikation steht in einem ungünstigen Verhältnis zum verursachten Aufwand, und Spötter könnten bilanzieren: Die UBI leistet nunmehr pflichtgetreu den vom Bundesgericht verlangten Beitrag zum Rechtsschutz für Bagatellen.

V.  Verfassungs- und konventionsrechtliche Aspekte der Online-Kommunikation

1. Recht auf Zugang zu Online-Informationen

104

Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.

2. Verantwortlichkeit für rechtswidrige Äusserungen

A.  Haftung für eigene Äusserungen, Links und anderes Weiterverbreiten

105

In der Begründung des EGMR-Urteils „Pretorian c. Rumänien» (Bastard) N° 45014/16 vom 24.05.2022 [IL 3; zum Sachverhalt vgl. vorne Rn. 24] erinnerte der EGMR daran, dass bei der Verbreitung von Inhalten im Internet die Gefahr eines Schadens für den guten Ruf und die Privatsphäre ungleich grösser ist als bei Printpublikationen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch die wichtige Rolle von Suchmaschinen.

106

Im EGMR-Urteil „Kozan c. Türkei» (Geteilte Publikation auf Facebook) N° 16695/19 vom 01.03.2022 [IL 2] beanstandete die 2. Kammer des Gerichtshofs einstimmig den disziplinarischen Verweis gegen einen Richter, der einen justizkritischen Presseartikel geteilt hatte. Ein wesentlicher Aspekt in der Güterabwägung war für den EGMR der Umstand, dass es sich um eine geschlossene Facebookgruppe mit Rechtssachverständigen gehandelt hatte. Sie war weder allgemein zugänglich noch durch Suchmaschinen erschlossen (§ 66).

B.  Haftung für Kommentare von Dritten

107

In BGE 148 IV 188 (rassistische User-Kommentare auf Facebook-Pinnwand; deutsche Übersetzung in «Die Praxis» 2022 Nr. 84) prüfte die Strafrechtliche Abteilung die strafrechtliche Verantwortlichkeit für rassistische Kommentare, die Dritte auf der Seite des Inhabers eines Facebook-Kontos publiziert hatten. Das Bundesgericht bestätigte den Freispruch für einen früheren SVP-Nationalrat. Der Politiker hatte einen islamkritischen Zeitungsartikel auf seinem Facebook Account geteilt, was krass diskriminierende Kommentare auf der virtuellen Pinnwand des Politikers provozierte. Mehrere Kommentarverfasser wurden wegen Rassendiskriminierung verurteilt. Nicht strafbar machte sich jedoch der Kontoinhaber, denn er hatte erst durch die Eröffnung des Strafverfahrens vom Inhalt der Kommentare erfahren. Mangels Willensübereinstimmung war er weder als Mittäter noch als Gehilfe zu belangen. Anders wäre zu entscheiden gewesen, wenn er in Kenntnis der Kommentare auf eine rasche Reaktion verzichtet hätte (E. 3.3.3 und 3.6 am Ende).

108

Entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft liege vorliegend auch kein strafbares Unterlassen vor (E. 3.5). Zwar hatte der Westschweizer Politiker heikle Themen angesprochen, die nach Überzeugung des Bundesgerichts anfällig für unsachliche User-Kommentare waren. Eine solche Gefahr übersteige das gesellschaftlich Erlaubte (Sozialadäquanz) jedoch nur bei Kenntnis des Betroffenen von den problematischen Kommentaren. Nicht durchzudringen vermochte die Staatsanwaltschaft mit ihrem Einwand, dem Politiker wäre die wenige Minuten dauernde Lektüre der Kommentare zuzumuten gewesen. Bis heute gibt es gemäss Bundesgericht weder für den Inhaber eines Social-Media-Kontos noch für die Dienstanbieter (Provider) eine strafgesetzlich verankerte Pflicht, die von Drittpersonen veröffentlichten Inhalte zu moderieren. Nach höchstrichterlicher Auffassung wäre eine nahezu permanente und umfassende Überwachungspflicht ein erheblicher Grundrechtseingriff, den der schweizerische Gesetzgeber in einer Strafnorm ausdrücklich vorsehen müsste. Dies gebiete auch das Legalitätsprinzip (Art. 1 StGB und Art. 7 EMRK).

109

Kommentar: Das Bundesgericht blickte in seiner Urteilsbegründung auch über die Landesgrenzen hinaus und betonte die Unterschiede zur französischen Rechtslage. Im Gegensatz zu Frankreich habe die Schweiz gerade aus Sorge vor exzessiven Beschränkungen der Meinungsfreiheit bislang konstant auf eine entsprechende gesetzliche Regelung verzichtet (E. 3.3.2 und 3.5.4). Diesen Umstand unterstrich das Bundesgericht im Zusammenhang mit dem teilweise ähnlich gelagerten Urteil der 5. Kammer des EGMR im Fall „Sanchez c. Frankreich” N° 45581/15 vom 02.09.2021. Als Politiker des Front National und Profi in Sachen Online-Kommunikation hatte es Julien Sanchez unterlassen, krass rechtswidrige Hasskommentare gegen Muslime auf seiner Facebook-Pinwand unverzüglich zu entfernen. In der Zwischenzeit hat die Grosse Kammer das Kammerurteil gegen Sanchez in einer 84 Seiten dicken Urteilsbegründung mit 13 gegen 4 Stimmen bestätigt. Sie räumte am 15. Mai 2023 ein, potenziell gebe es zwar bei übermässigem Datenverkehr das Problem zu knapper Ressourcen für die wirkungsvolle Überwachung. Dieses Problem habe es jedoch im Fall Sanchez eindeutig nicht gegeben.

C.  Weitere Aspekte

110

Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.

3. Sperren und andere Beschränkungen des Zugangs zu Online-Inhalten

111

Der Zulässigkeitsentscheid „Wikimedia Foundation, Inc. c. Türkei” (Wikipedia-Sperre) N° 25479/19 vom 24.03.2022 [IL 2] betraf eine richterlich angeordnete Blockade des Zugangs zu Wikipedia. Die von einem Einzelrichter verfügte Sperre dauerte zwei Jahre, acht Monate und 24 Tage. Er begründete sie mit zwei Publikationen, welche Terrorismus verherrlicht und die nationale Sicherheit gefährdet hätten. Nachdem Wikimedia eine Beschwerde beim EGMR eingereicht hatte, beurteilte das türkische Verfassungsgericht die richterliche Anordnung als unverhältnismässig. Die lange Zeitdauer bis zum Entscheid des Verfassungsgerichts erschien dem EGMR nicht offenkundig unverhältnismässig. Allerdings gab der Gerichtshof zu verstehen, dies bedeute keine Carte Blanche für die Beurteilung ähnlicher Angelegenheiten (§ 47). Nach dem für sie günstigen Entscheid des Verfassungsgerichts habe die Stiftung Wikimedia ihren Opferstatus verloren (Art. 35 Abs. 3 Bst. a EMRK). Eine Mehrheit der 2. Kammer betrachtete die Beschwerde deshalb als unzulässig.

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Kommentar: Dass diese Angelegenheit grundlegende Fragen freier Online-Kommunikation aufwarf, dokumentiert die Liste der Organisationen, die dem EGMR im Rahmen einer Drittintervention ihre Bemerkungen zukommen liessen: International Commission of Jurists, Access Now, Article 19, European Centre for Press and Media Freedom, Human Rights Watch, Index on Censorship, PEN International, Reporters Without Borders. Nicht nur aus ihrer Sicht verdient der formalistische Unzulässigkeitsentscheid der Kammermehrheit das Prädikat enttäuschend (vgl. die kritischen Bemerkungen des türkischen Rechtsprofessors Yaman Akdeniz, The Calm Before the Storm? The Inadmissibility Decision in Wikimedia Foundation v. Turkey, Strasbourg Observers vom 18.04.2022, mit Hinweis auf das seit 2020 in Strassburg hängige Verfahren „Demirhan c. Türkei” N° 10509/20 über den blockierten Zugang zur Webseite «www.sendika.org»).

4. Staatliche Schutzpflichten im Online-Bereich

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Keine erwähnenswerte Rechtsprechung im Berichtsjahr.

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